Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IV 192



104 IV 192

44. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 27. September 1978
i.S. R. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Schwyz Regeste

    Art. 35 Abs. 2 SVG, Art. 10 Abs. 2 VRV.

    Der von einem Automobilisten nach einem Überholmanöver beim Einbiegen
auf das überholte und das voranfahrende Fahrzeug einzuhaltende Abstand
hängt von den Geschwindigkeiten der beteiligten Fahrzeuge, aber auch von
den Strassen- und Sichtverhältnissen im konkreten Fall ab (E. 2).

    Art. 35 Abs. 7 SVG.

    Dem sich ankündigenden, schneller fahrenden Fahrzeuglenker ist
die Strasse selbst dann zum Überholen freizugeben, wenn dieser das
Überholmanöver nur unter Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit
durchführen kann (E. 4).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Nach verbindlicher Feststellung der Vorinstanz fuhr der
Beschwerdeführer mit einer Geschwindigkeit von durchschnittlich 130 km/h
rund 17 km auf der Überholspur der Autobahn N 3, obwohl er von mindestens
einem Fahrzeuglenker aufgefordert wurde, die Fahrbahn freizugeben. Gegen
die deswegen in Anwendung von Art. 35 Abs. 7 SVG erfolgte Verurteilung
wendet der Beschwerdeführer ein, er habe während der ganzen 17 km keine
Gelegenheit gehabt, ohne Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer in die
mit 80-100 km/h auf der Normalspur fahrende "lockere Kolonne" einzubiegen.

    a) Diesen bereits von der Vorinstanz zu beurteilenden Einwand wies die
2. Rekurskammer des Kantonsgerichts Schwyz u.a. mit der Begründung zurück,
er widerspreche jeder Lebenserfahrung. Nach ständiger Rechtsprechung ist
die Richtigkeit einer Folgerung aus der allgemeinen Lebenserfahrung vom
Bundesgericht frei überprüfbar (BGE 99 IV 74, 88 II 469; vgl. auch BGE
103 IV 113). Aus diesem Grunde steht einer nochmaligen Überprüfung des
von der Vorinstanz zurückgewiesenen und nun in der Nichtigkeitsbeschwerde
erneut vorgebrachten Einwandes durch den Kassationshof nichts im Wege.

    Gewiss kann es vorkommen, dass über längere Strecken ein Einbiegen
auf die Normalspur ohne Behinderung anderer Fahrzeugführer unmöglich
ist. Das ist insbesondere dann denkbar, wenn wie beim Rückreiseverkehr
von Sportanlässen und andern Grossveranstaltungen eine Vielzahl von
Automobilisten in verhältnismässig kurzer Zeit die gleichen Strassen
befahren. Davon ist jedoch im vorliegenden Fall nicht die Rede. Nach
verbindlicher Feststellung der Vorinstanz fuhr auf der Normalspur eine
"lockere Kolonne", in welcher sich die Fahrzeuge mit Abständen von 30-100
m und mehr vorwärts bewegten. Auf der Überholspur befanden sich nur
vereinzelte Fahrzeuge und nicht etwa auch eine Kolonne, wie sie sich bei
stärkerem Verkehr bildet. Nach der automatischen Frequenzzählung herrschte
"schwacher Verkehr".

    In Anbetracht dieser Verhältnisse kann mit der Vorinstanz ohne
Bedenken festgestellt werden, nach allgemeiner Erfahrung finde ein mit
durchschnittlich 130 km/h fahrender Automobilist auf einer Fahrstrecke von
17 km wiederholt Gelegenheit, gefahrlos in eine mit 80-100 km/h fahrende
lockere Kolonne auf der Normalspur einzubiegen.

    b) Die Vorinstanz hat sich nicht mit diesem Erfahrungsschluss begnügt,
sondern auf Grund der vom Beschwerdeführer selbst anerkannten Tatsachen wie
der Geschwindigkeit und der Abstände der überholten Autos festgestellt,
er hätte mehrfach ohne Gefährdung anderer Automobilisten nach rechts in
die langsamere Kolonne gelangen können. Der Beschwerdeführer wendet ein,
auch Abstände von 100 m und etwas darüber hätten nicht ausgereicht;
es wäre zu ungenügenden Sicherheitsabständen gekommen.

    Die Feststellungen der Vorinstanz sind teilweise tatsächlicher
Natur und insoweit für den Kassationshof verbindlich (Art. 277bis
Abs. 1 BStP). Zu prüfen ist nur, ob das Kantonsgericht von unzutreffenden
Überlegungen oder einem unrichtigen Begriff der Gefährdung und Behinderung
ausgegangen ist.

    Welche Abstände auf der Fahrt und insbesondere beim Einbiegen in eine
Kolonne nach dem Überholen anderer Fahrzeuge einzuhalten sind, lässt
sich nicht in genauen Zahlen ausdrücken. Die Strassenverkehrsordnung
verlangt vom Fahrzeugführer, er müsse "ohne Behinderung" anderer
Automobilisten wieder einbiegen können (Art. 35 Abs. 2 SVG) und
fordert ihn auf, wieder auf die Normalspur zu wechseln, sobald für
den überholten Strassenbenützer "keine Gefahr" mehr bestehe (Art. 10
Abs. 2 VRV). Die Abstände, die diesen Anforderungen entsprechen und
deshalb von den Fahrzeuglenkern einzuhalten sind, hängen demnach von den
Geschwindigkeiten der beteiligten Fahrzeuge, aber auch von den Strassen-
und Sichtverhältnissen im konkreten Fall ab. Bei Tag und auf trockener,
ebener Strasse wird regelmässig im Verhältnis zwischen Personenwagen ein
Abstand von halb so viel Metern, als die Geschwindigkeit in Kilometern
beträgt ("halber Tacho"), genügen. Diese Distanz entspricht ungefähr der
Anhaltestrecke bei plötzlichem ordnungsgemässem Bremsen und Anhalten des
vorausfahrenden Wagens. Die Vorinstanz stellte bei ihrem Urteil auf diese
Faustregel ab. Sie hat damit kein Bundesrecht verletzt.

    Sie hat sich auch zum Einbiegemanöver selbst durchaus richtig
geäussert. Der Beschwerdeführer hätte, nachdem er einen Wagen vor
einer der grösseren Lücken mit etwa 130 km/h überholt hatte, seine
Geschwindigkeit so herabsetzen sollen, dass er kurz vor der Mitte dieser
Lücke die Kolonnengeschwindigkeit von 80-100 km/h erreicht hätte. Zu
Recht stellt die Vorinstanz fest, dass er dann unter Einhaltung eines
genügenden Abstandes nach hinten und nach vorn und ohne die Lenker des
ihm voranfahrenden und des überholten Wagens im geringsten zu behindern
(vgl. BGE 100 IV 80), auf die Normalspur hätte zurückwechseln können.

Erwägung 4

    4.- Ebenfalls ohne Rechtsverletzung weist die Vorinstanz darauf hin,
dass ein Fahrzeugführer - sofern das ohne Gefährdung der auf der Normalspur
fahrenden Automobilisten möglich ist - einem sich ankündigenden schneller
fahrenden Wagen die Strasse selbst dann zum Überholen freigeben muss,
wenn er nach seiner Meinung mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit fährt
und der Überholende nur unter Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit
an ihm vorbeifahren kann. Es kann richtigerweise nicht dem Urteil jedes
Automobilisten überlassen bleiben, ob ein anderer Fahrzeuglenker, der
ihn zu überholen wünscht, korrekt oder zu schnell fährt. Das wäre schon
deshalb verfehlt, weil viele Geschwindigkeitsmesser vorgehen, so dass
jemand mit 130 km/h zu fahren glaubt, während es tatsächlich nur 115-120
km/h sind. Da der Beschwerdeführer demnach sowohl die Gelegenheit wie die
Pflicht gehabt hätte, dem ihm mit der Lichthupe Zeichen gebenden M. die
Überholspur freizugeben, diese aber trotzdem über eine Strecke von 17 km
nicht verliess, erfolgte seine Verurteilung wegen Verletzung von Art. 35
Abs. 7 SVG zu Recht.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.