Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IV 150



104 IV 150

37. Urteil des Kassationshofes vom 23. Juni 1978 i.S. Staatsanwaltschaft
Bern-Mittelland gegen B. Regeste

    1. Art. 112 StGB. Mord. Begriff (Erw. 1); Verneinung im konkreten Fall
(Erw. 2, 3).

    2. Art. 66 StGB, Strafmilderung. Gemäss dieser Bestimmung darf der
Richter, der in Anwendung des ordentlichen Strafrahmens auf Zuchthaus
erkennen müsste, eine bis zu fünf Jahren reichende Gefängnisstrafe
aussprechen (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Am 4. September 1976 stand Frau B. um 5.30 h auf, begab sich
in den Stall und begann mit den Stallarbeiten. Zehn Minuten später kam
auch ihr Mann und fing in der Tenne mit dem Füttern der Kühe an. Frau
B. rannte ins Wohnhaus, ergriff im Schlafzimmer ein 6mm-Flobertgewehr,
nahm aus der Nachttisch-Schublade ihres Mannes eine Patrone und lud das
Gewehr. Darauf rannte sie zum Stall zurück, stiess mit Ellbogen und Fuss
die Schwingtüre zur Tenne auf, klemmte das Gewehr unter die rechte Achsel
und richtete den Gewehrlauf mit beiden Händen gegen Kopf und Oberkörper des
ihr den Rücken zukehrenden Mannes. Ohne über Korn und Visier zu zielen,
gab sie aus einer Entfernung von rund 2 m in zitternder Erregung einen
Schuss auf ihren Mann ab, der ihn an der linken Schulter und am linken
Unterkieferwinkel traf, an welchem ein Trümmerbruch entstand. Frau B. zog
sich sogleich in den Stall zurück. Als sie hörte, dass ihr Mann zu schreien
begann und auf den Vorplatz hinaustrat, traf sie verschiedene Vorkehren,
um einen allfällig sie treffenden Verdacht von sich abzuwenden und auf
einen unbekannten Dritten zu lenken.

    B.- Das Geschwornengericht des II. Bezirks des Kantons Bern verurteilte
Frau B. am 30. August 1977 wegen vollendeten Versuchs der vorsätzlichen
Tötung zu vier Jahren Gefängnis.

    C.- Die Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland führt Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, das Urteil des Geschwornengerichts sei aufzuheben und die
kantonale Instanz anzuweisen, Frau B. schuldig zu erklären des vollendeten
Versuchs des Mordes und zu 10 Jahren Zuchthaus zu verurteilen, eventuell
sie gestützt auf den ergangenen Schuldspruch wegen vollendeten Versuchs
der vorsätzlichen Tötung zu vier Jahren Zuchthaus zu verurteilen.

    Frau B. beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Mord liegt vor, wenn der Täter unter Umständen oder mit einer
Überlegung tötet, die seine besonders verwerfliche Gesinnung oder
seine Gefährlichkeit offenbaren (Art. 112 StGB). Für die Beurteilung
der Verwerflichkeit oder Gefährlichkeit erhebliche Umstände sind nach
der Rechtsprechung nicht bloss die Tatumstände im eigentlichen Sinne,
sondern ebensosehr Gegebenheiten und Verhalten vor oder nach der Tat,
soweit sie über die Persönlichkeit des Täters, seine Einstellung sowie
über die psychischen Vorgänge in ihm zur Zeit der Tat Aufschluss geben
können. In Betracht fallen neben äusseren Umständen wie der Wahl eines
besonders verwerflichen Mittels (z.B. Gift, Feuer) oder der Art der
Ausführung (z.B. Grausamkeit, Heimtücke) auch die Beweggründe des Täters
(z.B. Mordlust, Rache, Egoismus), seine persönlichen Beziehungen zum Opfer
(z.B. Liebesverhältnis, Blutbande) und seine nachträgliche Einstellung zur
Tat (z.B. mangelnde Reue) (BGE 101 IV 281 mit Verweisungen). All diesen
von der Rechtsprechung als Anzeichen für eine besonders verwerfliche
Gesinnung oder eine besondere Gefährlichkeit des Täters gewerteten
Umständen kommt jedoch keine absolute Bedeutung in dem Sinne zu, dass
sie schlechthin zur Annahme von Mord zwingen würden. Sie sind wohl in
der Regel bedeutende Indizien hiefür, doch gibt es Ausnahmen von der
Norm, indem namentlich hinter dem äusseren Gehaben des Täters eine völlig
verschiedene Gesinnung stehen kann. Gesinnung ist Ausdruck der seelischen
Grundhaltung, die durch das Mass der egoistischen einerseits und der
sozialen Strebungen anderseits das Benehmen des Menschen bestimmt. In
diesem Sinne erscheint die Gesinnung als eine Dauerhaltung der Psyche,
deren Wertung durch den Richter eine ethische ist und bei einem Übermass
an Egoismus einen negativen Wertakzent erhält, bei einem Überwiegen der
sozialen Strebungen dagegen positiv eingeschätzt wird. So verstanden,
ist der Totschlag (Art. 113 StGB) keine Äusserung der Grundgesinnung
des Täters, sondern das Ergebnis einer Ausnahmesituation. Anders ist
dagegen die vorsätzliche Tötung im Sinne von Art. 111 StGB der Ausdruck
einer Gesinnung, die als ethisch beeinträchtigt bewertet werden muss,
weil die Selbstdurchsetzung sich allzu rücksichtslos vordrängt, während
soziale Tendenzen stark zurücktreten, sich aber immerhin in der ganzen
Situation, die zur Tat führt, noch bemerkbar machen. Mord schliesslich
(Art. 112 StGB) entspricht einer ethisch ausgesprochen schlechten
Gesinnung von krassestem Egoismus bei weitgehendem Fehlen von sozialen
Regungen (BINDER, Der juristische und der psychiatrische Massstab bei
der Beurteilung der Tötungsdelikte, ZStR 1952 S. 313 f.).

    Im konkreten Fall vermag vor allem die Vorgeschichte der Tat
tiefere Aufschlüsse über die Gesinnung des Täters und die damit eng
zusammenhängende allfällige Gefährlichkeit zu vermitteln. Dabei zeigt
die Erfahrung, dass in Fällen der Art. 111 und 113 StGB sich der Täter
in der Regel schon einige Zeit vor der Tat in einer ausgesprochenen
Konfliktssituation befunden hat, die durch eine schwerwiegende Störung in
wichtigen menschlichen Beziehungen des Täters entstanden ist, während die
psychologische Situation des typischen Mörders häufig insofern eine andere
ist, als dieser zur Befriedigung ausgeprägt egoistischer Begehrungen ein
Menschenleben opfert, ohne dass er zuvor unter diesem andern schwerer
gelitten hätte. Insoweit unterscheidet sich also der Mörder wesentlich
von den Tätern nach Art. 111 und 113 StGB, für die das Opfer meist eine
drückende seelische Belastung gewesen ist (BINDER, loc.cit.).

Erwägung 2

    2.- Vergleicht man dieses Täterbild des Mörders mit dem der
Beschwerdegegnerin, wie es von der Vorinstanz in Würdigung aller Umstände
für den Kassationshof verbindlich festgestellt wurde (Art. 277bis
Abs. 1 BStP), so erhellt, dass die Tat der Frau B. nicht eine besonders
verwerfliche Gesinnung im Sinne des Art. 112 StGB offenbart. Ihr Handeln
ist eine verzweifelte Entladung einer während Jahren herausgebildeten und
stetig verschlimmerten Konfliktssituation, die teilweise durch das Opfer
heraufbeschworen wurde und unter der sie schwer gelitten hat. Frau B. hat
denn auch nach dem angefochtenen Urteil den definitiven Tatentschluss erst
am Morgen des 4. September 1976 im Stall gefasst und spontan gehandelt,
als sie sich beim Anblick ihres Mannes des noch gleichentags zu erwartenden
Riesenkrachs mit schwerer Demütigung vor den Kindern und dem Verlobten
einer ihrer Töchter sowie dem Verlust von allem, woran sie hing (Kinder,
Hof, Arbeit im Freien), bewusst wurde. Den Schuss auf ihren Mann gab
sie in panischer Angst ab, erregt und zitternd, nicht mit der für den
egoistischen Mörder bezeichnenden Kaltblütigkeit.

    Freilich hat die Beschwerdegegnerin auch aus egoistischem
Motiv gehandelt, im Bestreben nämlich, die Entdeckung ihrer erneuten
Geldwegnahmen und ihrer sexuellen Abartigkeit (Geldfetischismus) durch
den Mann sowie die daraus folgenden Nachteile zu vermeiden. Auch ist der
Staatsanwaltschaft zuzustimmen, dass - was auch die Vorinstanz anerkennt
- das Vorgehen der Beschwerdegegnerin bei der Schussabgabe eine gewisse
Heimtücke in sich barg und dass sie nach der Tat ohne Ausdruck von Reue
verschiedene Vorkehren traf, um den Tatverdacht von sich fernzuhalten. Sind
das Anzeichen dafür, dass die ethische Gesinnung der Beschwerdegegnerin
beeinträchtigt ist, indem sie bereit war, das Leben ihres Mannes zur
Rettung ihrer Stellung auf dem Hof und in der Familie zu opfern, so
ist doch nicht zu übersehen, dass sie einerseits von ihrem Mann während
Jahren als Frau in schwerwiegender Weise gedemütigt worden und teilweise
deswegen einer krankhaften sexuellen Abartigkeit verfallen war, die
ihrerseits ihre Konfliktslage verschlimmert hatte, und dass anderseits
ihr Verhalten nach der Tat aus derselben Angst zu verstehen ist, die
zuvor die Tat selber ausgelöst hatte, wobei insbesondere die Furcht,
ihre Kinder zu verlieren, nicht nur Ausdruck egoistischer Motive war,
sondern durchaus achtungswerten Beweggründen entsprungen sein kann.

    In Abwägung aller Umstände hat die Vorinstanz mit Recht eine besonders
verwerfliche Gesinnung im Sinne des Art. 112 StGB verneint.

Erwägung 3

    3.- Das Tatbestandsmerkmal der besonderen Gefährlichkeit hängt -
wie gesagt - mit jenem der besonders verwerflichen Gesinnung zusammen,
auf welcher die Gefährlichkeit in der Regel gründet, ist es doch das
völlige Fehlen sozialer Strebungen in der Gesinnung des Täters, das
seiner Gefährlichkeit einen besonders hohen Grad und die Färbung besonders
weitgehender Skrupellosigkeit und Gemütskälte gibt (BINDER, S. 325). Da
aber eine besonders verwerfliche Gesinnung der Beschwerdegegnerin
abgeht, sie bis zum Zeitpunkt der Tat nie gemeingefährliche Handlungen
begangen und nach dem psychiatrischen Gutachten sich bei der Tat in
einem affektiven Ausnahmezustand befunden hat, sodass die Tötung als ein
ausgesprochenes Konstellations- und Situationsdelikt erscheint, und da
sich zudem eine ähnliche Situation im Leben der Beschwerdegegnerin aller
Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr ergeben wird, durfte die Vorinstanz
auch das Tatbestandsmerkmal der besonderen Gefährlichkeit verneinen. Dass
der psychiatrische Experte in der Hauptverhandlung seine Feststellung im
schriftlichen Bericht, eine Rückfallsgefahr sei praktisch ausgeschlossen,
dahin präzisierte, er könne eine Garantie, dass sich in einer ähnlichen
Situation nicht wieder etwas Ähnliches abspielen könnte, für den Fall einer
psychiatrischen Behandlung nicht geben, ist aus der wissenschaftlichen
Gewissenhaftigkeit des Experten heraus verständlich, ändert aber an seiner
grundsätzlichen Stellungnahme im Gutachten nichts.

Erwägung 4

    4.- Art. 111 StGB droht für vorsätzliche Tötung Zuchthaus nicht unter
fünf Jahren an. Das Geschwornengericht hat die bei der Beschwerdegegnerin
festgestellte hochgradige Verminderung der Zurechnungsfähigkeit gemäss
Art. 11 und 66 StGB strafmildernd berücksichtigt und eine Strafe von
vier Jahren Gefängnis gesprochen. Die Staatsanwaltschaft ficht diese
Strafzumessung als bundesrechtswidrig an. Sie macht geltend, nach Art. 36
StGB sei die längste Dauer der Gefängnisstrafe drei Jahre, sofern das
Gesetz nicht ausdrücklich anders bestimmt. Sodann sei nach Art. 66 StGB der
Richter, wo das Gesetz eine Strafmilderung nach freiem Ermessen vorsehe,
bloss an die Strafart und das Strafmass, die für Verbrechen oder Vergehen
angedroht seien, nicht gebunden. Damit werden der Grundsatz des Art. 36
StGB nicht aufgehoben. Es sei denn auch die Meinung des Gesetzgebers
gewesen, dass längerdauernde Freiheitsstrafen, in der Regel solche
über drei Jahren, in der Form der Zuchthausstrafe auszusprechen und zu
verbüssen seien.

    Die Vorinstanz hält dem entgegen, Art. 66 Abs. 2 StGB sehe die
Bindung des Richters nur an das gesetzliche Mindestmass der Strafart
vor. Hätte der Gesetzgeber den Richter auch an das gesetzliche Höchstmass
der Strafart binden wollen, so hätte er dies in Art. 66 StGB als einer
Ausnahmebestimmung zu Art. 36 StGB gesagt.

    Diese Argumentation überzeugt in dieser allgemeinen Form nicht. Da
Art. 66 StGB die Strafmilderung nach freiem Ermessen ordnet, lag die
Frage nahe, wieweit der Richter überhaupt nach unten verfahren dürfe,
ob es ihm auch zustehe, das gesetzliche Mindestmass einer Strafart zu
unterschreiten. Dass der Richter in Anwendung von Art. 66 StGB über das
ordentliche Strafmaximum einer Strafart gehen würde, wurde offensichtlich
nicht bedacht, jedenfalls ist den Materialien diesbezüglich nichts zu
entnehmen. Dann aber kann nicht gesagt werden, der historische Gesetzgeber
habe den Richter an kein gesetzliches Höchstmass einer Strafart binden
"wollen", wie umgekehrt auch das Gegenteil nicht angenommen werden
kann. Die Frage ist daher nach der Systematik des Gesetzes und den in
ihm liegenden Wertungen zu entscheiden. Geht man so vor, dann ist es
sachlich vertretbar, dass der Richter, der in Anwendung des ordentlichen
Strafrahmens auf Zuchthaus erkennen müsste, gemäss Art. 66 StGB auf
eine bis zu fünf Jahren reichende Gefängnisstrafe erkennen darf. Einmal
ist diese Strafdauer für die Strafart des Gefängnisses dem StGB nicht
fremd, sieht es doch in einer Reihe von Tatbeständen des besonderen Teils
Gefängnisstrafen bis zu fünf Jahren vor (z.B. Art. 113, 122 Ziff. 1 Abs.
4, 123 Ziff. 2 und 3, 131 Ziff. 1 Abs. 1 und 2, 140 Ziff. 1 Abs. 3
u.a.m.). Zum andern ermächtigt Art. 65 StGB für den Fall eines Wechsels
der Strafart von Zuchthaus zu Gefängnis den Richter, Gefängnis bis zu
fünf Jahren zu sprechen. Ist das aber schon im Rahmen der einfachen
Strafmilderung möglich, kann es nicht dem Sinn des Gesetzes widersprechen,
dem Richter diese Möglichkeit auch dann einzuräumen, wenn er gemäss Art. 66
StGB die Strafe nach freiem Ermessen mildern darf und von dieser Befugnis
auch Gebrauch macht (in diesem Sinne auch SJZ 1966, S. 74 Nr. 105 und
S. 109 Nr. 69; anderer Meinung ohne nähere Begründung SCHULTZ, Einführung
in den Allgemeinen Teil des Strafrechts II, S. 66). Die im vorliegenden
Fall vom Geschwornengericht in Anwendung von Art. 11 und 66 StGB auf vier
Jahre Gefängnis bemessene Strafe verstösst deshalb nicht gegen Bundesrecht.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.