Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 II 204



104 II 204

34. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung als staatsrechtliche Kammer
vom 27. Juni 1978 i.S. Trüb gegen Druckerei Baumann AG und Appellationshof
des Kantons Bern Regeste

    Art. 322 Abs. 1 OR. Ob der Arbeitgeber durch eine Vereinbarung mit
einem Arbeitnehmer, den Grundlohn zu kürzen, eine zwingende Bestimmung über
Teuerungszulagen umgehen wolle, hängt von den Umständen des Einzelfalles,
namentlich vom gesamten Verhalten der Beteiligten ab.

Sachverhalt

    A.- Trüb arbeitete seit 1. Mai 1974 als gelernter Buchdrucker
bei der Druckerei Baumann AG in Zollikon. Das Arbeitsverhältnis
unterstand dem Gesamtarbeitsvertrag (GAV) zwischen dem Schweizerischen
Buchdruckerverein und dem Schweizerischen Typographenbund. Gegen Ende
Juni 1975 orientierte der Betriebsinhaber die Belegschaft über die
Arbeitsaufträge und stellte Lohnkürzungen in Aussicht, die in der Folge
mit den einzelnen Arbeitnehmern besprochen wurden. Am 26./28. Juli 1975
erhielten die Arbeitnehmer Kenntnis von den neu vorgesehenen Löhnen,
die teils bis zu Fr. 260.- im Monat herabgesetzt wurden; für Trüb ergab
sich anstelle des bisherigen Grundlohnes von Fr. 2'510.- ein solcher
von Fr. 2'400.-. Er hatte zudem Anspruch auf eine Teuerungszulage von
Fr. 80.-. Trüb gelangte mit zwei Kollegen an die Typographia Zürich,
die bei der Arbeitgeberin schriftlich gegen die Kürzung protestierte. Am
19. August 1975 wurden die Lohnkürzungen und Teuerungszulagen in einer
Betriebsversammlung besprochen. Trüb erhielt daraufhin einen Grundlohn
von Fr. 2'435.- und eine Teuerungszulage von Fr. 80.- ausbezahlt, was
eine Herabsetzung des Gehaltes um Fr. 75.- im Monat bedeutete.

    B.- Im Dezember 1976 klagte Trüb gegen die Druckerei Baumann AG
auf Zahlung der Lohndifferenz von Fr. 75.- für 16 Monate. Er warf der
Beklagten vor, ihre Verpflichtung zur Zahlung von Teuerungszulagen gemäss
GAV umgangen zu haben.

    Das nach GAV zuständige vertragliche Schiedsgericht und auf Beschwerde
hin am 9. Januar 1978 auch der Appellationshof des Kantons Bern wiesen
die Klage ab.

    Trüb führte gegen das Urteil des Appellationshofes staatsrechtliche
Beschwerde, die vom Bundesgericht abgewiesen wurde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

    Der Beschwerdeführer geht mit dem Appellationshof davon aus, dass
nach dem Teuerungsabkommen zum GAV ab Juli 1975 eine Teuerungszulage von
Fr. 80.- im Monat bezahlt werden musste. Er macht geltend, diese Zulage sei
zwar der Form halber ausgerichtet, dafür aber sein Grundlohn um Fr. 75.-
im Monat gekürzt worden; die Zulage habe in Wirklichkeit also nur noch
Fr. 5.- betragen. Dadurch sei zwingendes Recht des Teuerungsabkommens
umgangen worden; das Bundesgericht habe eine solche Kürzung des Lohnes
auf dem Umweg über die geschuldete Teuerungszulage denn auch bereits
wiederholt als willkürliche Gesetzesumgehung behandelt.

    a) Da dem Beschwerdeführer nach seiner eigenen Darstellung die zwingend
festgesetzte Teuerungszulage ausbezahlt, der frei vereinbarte Grundlohn
dagegen gekürzt worden ist, kann jedenfalls nicht von einem Verstoss gegen
den Wortlaut des Teuerungsabkommens gesprochen werden. Schon deshalb lässt
sich der vorliegende Fall nicht mit dem in BGE 101 Ia 463 veröffentlichten
vergleichen, wo statt 70 nur 30 Rp./Std. der geschuldeten Lohnerhöhung
bezahlt worden sind. Er unterscheidet sich auch deutlich vom Fall, der
dem bundesgerichtlichen Entscheid 96 I 433 zugrunde liegt; dort ging es
um einen Verstoss gegen die ausdrückliche Bestimmung, dass bei Berechnung
der vereinbarten periodischen Lohnerhöhungen vom tatsächlich bezahlten
Gehalt auszugehen ist. Der Beschwerdeführer behauptet denn auch keine
direkte Verletzung, sondern eine Umgehung der zwingenden Regelung über
die Teuerungszulage.

    b) Die Gesetzesumgehung besteht darin, dass der Wortlaut einer
Verbotsnorm beachtet, ihr Sinn dagegen missachtet wird; ob eine Umgehung
vorliegt, hängt daher davon ab, wie die Norm nicht nur nach ihrem Wortlaut,
sondern auch nach ihrem Sinn und Zweck auszulegen ist (BGE 79 II 83; MERZ,
N 89/90 zu Art. 2 ZGB; GUHL/MERZ/KUMMER, OR S. 134; VON TUHR/SIEGWART, OR
I S. 238; DESCHENAUX, in Schweiz. Privatrecht II S. 157). Im vorliegenden
Fall begründet der Beschwerdeführer die angebliche Umgehung vorweg
mit einem Hinweis auf BGE 101 Ia 463, mit dessen Erwägungen sich der
Appellationshof nicht auseinandergesetzt habe. In diesem Entscheid führte
die staatsrechtliche Kammer gestützt auf einen andern GAV insbesondere
aus (S. 466 unten), dass das Vorgehen des Arbeitgebers praktisch auf eine
Gesetzesumgehung hinausliefe, wenn er den Grundlohn kürzen dürfte, bevor
er die im GAV vorgesehen Lohnerhöhung gewährt. Die geltende Regelung wolle
dem Arbeitnehmer eine tatsächliche Lohnerhöhung verschaffen; diese Absicht
würde aber vereitelt, wenn der Grundlohn vor der Erhöhung herabgesetzt
werden könnte. Weshalb in jenem Fall die Frage der Gesetzesumgehung
überhaupt erwähnt und in so allgemeiner Form bejaht wurde, ist weder der
weitern Begründung des Entscheides noch dessen Sachverhalt zu entnehmen;
nach diesem stellte sich die Frage der Gesetzesumgehung gar nicht, da
der Arbeitgeber nur 30 statt 70 Rp./Std. an die geschuldete Lohnerhöhung
bezahlte, seine Pflicht also unmittelbar verletzte. Es handelt sich
offensichtlich um eine beiläufige und für den Entscheid unnötige Erwägung,
die jedoch zugunsten des Beschwerdeführers spricht.

    c) Eine Gesetzesumgehung ist in Fällen wie dem vorliegenden nicht
leichthin anzunehmen. Der GAV sieht ja für den Grundlohn die volle
Vertragsfreiheit der Parteien vor, die sich über dessen Festsetzung und
allfällige spätere Änderungen verständigen können; eine Ausnahme besteht
nur für die Mindestlöhne, die hier nicht interessieren. Wenn nun in einem
Nachtrag zum GAV Teuerungszulagen festgesetzt werden, die unabdingbar
sind, so kann dadurch nicht stillschweigend und ohne Änderung des GAV
die Vertragsfreiheit für den Grundlohn wieder aufgehoben werden. Die im
vorliegenden Fall anwendbare Regelung über die Teuerungszulage enthält
denn auch keinen Hinweis auf eine gleichzeitige Fixierung des bisher
bezogenen Grundlohnes, was einen weitern Unterschied zu dem in BGE 96
I 433 beurteilten Fall bedeutet. Es braucht daher auch nicht geprüft zu
werden, ob sog. "Effektivklauseln", wonach bei Erhöhungen vom bisherigen
Effektivlohn auszugehen ist, überhaupt zulässig wären (vgl. O. ARREGGER,
Die normativen Bestimmungen des Gesamtarbeitsvertrags und ihr Verhältnis
zum Einzelarbeitsvertrag, Diss. Bern 1974, insbes. S. 67 ff.).

    Freilich schliesst auch das Fehlen einer solchen Klausel die
Möglichkeit nicht aus, dass eine zwingende Regelung über Teuerungszulagen
durch eine gegenseitige Übereinkunft, den Grundlohn zu kürzen, in
unzulässiger Weise umgangen wird. Das setzt jedoch voraus, dass mit
der an sich zulässigen Herabsetzung des Grundlohnes beabsichtigt wird,
die zwingende Vorschrift über die Teuerungszulage zu missachten. Das
entscheidet sich nicht allgemein, sondern hängt von den Umständen des
Einzelfalles, namentlich vom gesamten Verhalten der Beteiligten ab. Fragen
kann sich somit nur, wie es sich damit im vorliegenden Fall verhielt.

    Die Beklagte sah vorerst individuell verschiedene Lohnkürzungen vor,
welche mit den Arbeitnehmern einzeln besprochen wurden und zwischen
null und Fr. 260.- ausmachten. Der Lohn des Beschwerdeführers sollte
um Fr. 110.- herabgesetzt, seine Teuerungszulage von Fr. 80.- aber
ausbezahlt werden. An der Betriebsversammlung, die sich nach dem Protest
der Typographia Zürich mit dem geplanten Lohnabbau befasste, versuchte man
statt dessen zunächst einen allgemeinen Verzicht auf die Teuerungszulagen
zu erwirken, was aber abgelehnt wurde. Schliesslich einigte man sich auf
eine lineare Lohnreduktion, die je nach Arbeitnehmerkategorie Fr. 55.-
bis 75.- betrug; an den Teuerungszulagen wurde dagegen ausdrücklich
festgehalten. Diese tatsächlichen Feststellungen sind den Urteilen
des Schiedsgerichtes und des Appellationshofes entnommen und auch vor
Bundesgericht unwidersprochen geblieben. Sie zeigen deutlich, dass die
Arbeitgeberin im Sommer 1975 nicht die Teuerungszulagen durch entsprechende
Lohnabstriche ausgleichen wollte, sondern einen echten Lohnabbau anstrebte,
der teils erheblich über den Betrag der Zulagen hinausging. Wenn dann auf
Beschluss der Betriebsversammlung die Grundlöhne linear statt individuell
verschieden gekürzt wurden und die dabei entstehenden Ausfälle nicht einmal
mehr den Betrag der Teuerungszulage erreichten, so spricht das nicht für,
sondern gegen eine Umgehungsabsicht des Arbeitgebers; jedenfalls durfte
der Appellationshof unter den gegebenen Umständen eine solche Absicht
sinngemäss verneinen, ohne dass ihm deswegen Willkür vorgeworfen werden
kann.