Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 II 12



104 II 12

3. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 16. März 1978 i.S. A.
gegen Waisenamt G. Regeste

    Entmündigung wegen Freiheitsstrafe (Art. 371 ZGB).

    Von einer Entmündigung kann bei Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe
von einem Jahr oder darüber höchstens dann abgesehen werden, wenn
nachgewiesen wird, dass im konkreten Fall die persönliche Fürsorge und die
Wahrung der Vermögensinteressen des Verurteilten ausser Betracht fallen.

Sachverhalt

    A.- A. wurde vom Obergericht des Kantons Luzern mit Urteil vom
16. Juni 1975 wegen verschiedener Vermögensdelikte zu fünf Jahren Gefängnis
verurteilt. Am 28. April 1977 stellte ihn das Waisenamt G. in Anwendung
von Art. 371 ZGB unter Vormundschaft. Mit Beschluss vom 19. September
1977 bestätigte der Regierungsrat des Kantons Schwyz die Entmündigung. Das
Bundesgericht weist die Berufung gegen diesen Beschluss ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Nach Art. 371 Abs. 1 ZGB gehört jede mündige Person unter
Vormundschaft, die zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr
verurteilt worden ist. Einzige Voraussetzung der Entmündigung gemäss
dieser Bestimmung ist somit die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe
von bestimmter Mindestdauer, wobei nach der Rechtsprechung massgebend
ist, ob bei Strafantritt noch eine Strafzeit von mindestens einem
Jahr zu verbüssen blieb (BGE 91 II 172 E. 1 mit Hinweisen). Anders
als bei den andern Entmündigungsgründen ist demnach der Nachweis eines
Schutzbedürfnisses des zu Bevormundenden oder anderer Personen nicht
erforderlich. Das Gesetz erblickt in der Haft selbst die Unfähigkeit
zur Besorgung der eigenen Angelegenheiten. Darauf ist auch die Pflicht
der Strafvollzugsbehörden zurückzuführen, der zuständigen Behörde vom
Strafantritt Mitteilung zu machen (Art. 371 Abs. 2 ZGB; BGE 62 II 69/70
mit Hinweisen). Der Sinn der vormundschaftlichen Massnahme liegt in der
mit dem Freiheitsentzug verbundenen Behinderung des Inhaftierten in der
Wahrung seiner Interessen (BGE 75 II 29, 62 II 69).

    Das Gesetz erblickt somit im Antritt einer Freiheitsstrafe von
mehr als einem Jahr einen absoluten Entmündigungsgrund. Die Lehre tritt
indessen für eine Relativierung von Art. 371 ZGB ein. Namentlich EGGER
(N. 8-10 zu Art. 371 ZGB) weist darauf hin, die Entmündigung sei nur bei
Schutzbedürftigkeit des Sträflings in persönlicher und vermögensrechtlicher
Hinsicht sinnvoll. Art. 371 ZGB schaffe bloss eine widerlegbare Vermutung
der Unfähigkeit zur Besorgung der eigenen Angelegenheiten. Es sei Sache
des Häftlings, darzutun, dass im konkreten Fall kein Schutzbedürfnis
bestehe. Das Bundesgericht hat sich in BGE 91 II 170 ff. mit dieser
Kritik auseinandergesetzt. Es bezeichnete es als bedenklich, Art. 371
ZGB schon wegen gewisser mit der Bevormundung verbundener Nachteile
für den Strafgefangenen nicht anzuwenden, und liess die Frage offen, ob
allenfalls in ausserordentlichen Fällen, wenn die einem Vormund obliegenden
Aufgaben - persönliche Betreuung des Gefangenen und Wahrung von dessen
Vermögensinteressen - unter den gegebenen Umständen offensichtlich völlig
ausser Betracht fielen, von einer Entmündigung abzusehen sei.

    Nach diesem Entscheid haben sich weitere Autoren für eine Relativierung
von Art. 371 ZGB eingesetzt (MERZ, ZBJV 102/1966, S. 484 f.; SCHNYDER, Die
Stufenfolge der vormundschaftlichen Massnahmen und die Verhältnismässigkeit
des Eingriffes, ZBJV 105/1969, S. 278; MURER, Die Entmündigung wegen
Freiheitsstrafe, Diss. Freiburg 1972, S. 89 ff.; RUEDIN, A propos du
statut juridique du détenu: l'avenir de l'art. 371 CCS, ZStR 88/1972,
S. 98 ff.). Nach SPITZER (Die Vormundschaft wegen längerer Freiheitsstrafe,
ZVW 20/1965, S. 81 ff., 85) wäre eine höchstrichterliche Praxis in dem
Sinne erwünscht, dass nur noch dann nach Art. 371 ZGB entmündigt werden
solle, wenn dafür im Einzelfall ein konkretes Bedürfnis bestehe. Die
Zürcher Behörden sprechen Entmündigungen gestützt auf Art. 371 ZGB nur
noch aus, wenn es aus fürsorgerischen und andern sachlichen Gründen als
gerechtfertigt erscheint (Rundschreiben der Justizdirektion des Kantons
Zürich vom 14. März 1972, veröffentlicht in SJZ 68/1972, S. 129 ff.).

    In späteren (nicht veröffentlichten) Entscheiden hat das Bundesgericht
daran festgehalten, dass sich ein Verzicht auf Entmündigung nach Art. 371
ZGB höchstens dann erwägen lässt, wenn feststeht, dass nach den gegebenen
Umständen eine persönliche Betreuung des Verurteilten und die Wahrung von
Vermögensinteressen völlig ausser Betracht fallen (Urteile vom 10. Februar
1972 i.S. Keusch und vom 15. Februar 1973 i.S. Stürm).

Erwägung 4

    4.- Wortlaut und Entstehungsgeschichte (BGE 91 II 173 E. 2) von
Art. 371 ZGB sind derart eindeutig, dass die Nichtanwendung dieser
Bestimmung trotz Vorliegens ihrer Voraussetzungen in der Tat nur in einem
ausserordentlichen Fall in Frage kommt. Allenfalls könnte im Sinne der
Auffassung Eggers und ähnlich der Relativierung des Scheidungsgrundes
des Ehebruchs (BGE 98 II 161 ff. E. 4 b) in Art. 371 ZGB bloss eine
widerlegbare Vermutung erblickt werden, in dem Sinne, dass die Verurteilung
zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr (bzw. der Antritt der
Strafe) stets zur Bevormundung führt, wenn nicht der Nachweis geleistet
wird, dass im konkreten Fall die persönliche Fürsorge und die Wahrung
der Vermögensinteressen des Verurteilten ausser Betracht fallen. Weiter
zu gehen verbietet das Gesetz.