Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IB 24



104 Ib 24

6. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 11. April 1978 i.S.
Rothenberger gegen Direktion der Justiz des Kantons Zürich Regeste

    Vorzeitiger Strafvollzug.

    1. Ein freiwilliger Verzicht auf den durch Art. 5 EMRK gewährten Schutz
ist beim vorzeitigen Strafantritt zulässig; Begriff der Freiwilligkeit
(Erw. 3a).

    2. Die Auslegung von § 429 Abs. 1 der zürcherischen StPO, wonach der
Angeklagte nur über den Zeitpunkt des Strafantritts, nicht aber über die
Fortdauer des Vollzuges verfügen kann, ist nicht willkürlich (Erw. 3b).

Sachverhalt

    A.- Das Geschworenengericht des Kantons Zürich verurteilte Christian
Rothenberger am 17. Dezember 1976 wegen gewerbsmässigen Betruges
sowie weiterer Delikte zu neun Jahren Zuchthaus, abzüglich 1061 Tage
Untersuchungshaft. Der Verurteilte meldete gegen dieses Urteil, dessen
schriftliche Begründung noch aussteht, am 29. Dezember 1976 sowohl
kantonale wie eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde an. Wenige Tage
später erklärte er seine Zustimmung zum vorzeitigen Vollzug der noch
nicht rechtskräftigen Freiheitsstrafe.

    B.- Am 18. November 1977 ersuchte Rothenberger um Entlassung aus
dem vorzeitigen Strafvollzug, eventuell um dessen Unterbrechung. Die
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich wies das Gesuch am 30. November
1977 ab.

    Den gegen diese Verfügung der Staatsanwaltschaft geführten Rekurs
wies die Justizdirektion des Kantons Zürich am 5. Januar 1978 ab; auf das
gleichzeitig gestellte Gesuch um bedingte Entlassung trat sie nicht ein.

    C.- Rothenberger führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und vorsorglich
auch staatsrechtliche Beschwerde. Er beantragt Aufhebung der angefochtenen
Verfügung, Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug unter Verzicht auf
Anordnung von Sicherheitshaft, eventuell Unterbruch des Strafvollzuges
bis zum Vorliegen eines rechtskräftigen Urteils, subeventuell Rückweisung
der Sache an die Vorinstanzen zur Neubeurteilung. Ferner wird um Erlass
einer vorsorglichen Verfügung gemäss Art. 94 OG sowie um Bewilligung der
unentgeltlichen Rechtspflege nachgesucht.

    In ihrer Vernehmlassung begehrt die Justizdirektion des Kantons
Zürich Abweisung der Beschwerde, soweit auf diese einzutreten sei. Das
Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement beantragt unter Vorbehalt
des Entscheides über die staatsrechtliche Beschwerde Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, Aufhebung der angefochtenen Verfügung und
Rückweisung der Sache an die kantonale Justizdirektion zum Entscheid,
ob ein wichtiger Grund zur Unterbrechung des Strafvollzuges vorliege.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 3

    3.- Ferner wird in der Beschwerde ausgeführt, dass der vorzeitige
Strafvollzug mit Art. 5 Ziff. 1 lit. a EMRK nur dann vereinbar sei,
wenn eine rechtsgültige Einwilligung des Verurteilten vorliege. Da
sich aber der Verurteilte über die Tragweite seiner Entscheidung nur
ungenügend Rechenschaft geben könne, wenn er weder die Begründung des
angefochtenen Urteils kenne, noch die Erfolgschance des eingelegten
Rechtsmittels abzuschätzen vermöge, noch um die Unwiderruflichkeit seiner
Erklärung wisse, sei zweifelhaft, ob von einer Freiwilligkeit die Rede
sein könne. Mindestens bedeute es aber eine Verletzung der persönlichen
Freiheit und einen Verstoss gegen Treu und Glauben, wenn der Verurteilte
auch dann noch bei seiner Erklärung behaftet werde, wenn er in einem
späteren Zeitpunkt zu einer anderen Beurteilung gelange. Die Zustimmung
zum vorzeitigen Strafvollzug müsse wenigstens bis nach Eingang des
begründeten Urteils und dessen Studium widerruflich sein. Die Vorinstanz
habe sich mit diesen Argumenten gar nicht auseinandergesetzt. Im übrigen
habe der Beschwerdeführer die Erklärung gemäss § 429 Abs. 1 StPO unter
der stillschweigenden Voraussetzung abgegeben, die Erfolgsaussichten der
eingelegten Rechtsmittel nicht zu beeinträchtigen und eine Herabsetzung der
Strafe nicht illusorisch zu machen. Da nämlich entgegen seiner Voraussicht
14 Monate nach der Urteilsfällung durch das Geschworenengericht das
schriftlich begründete Urteil noch nicht vorliege und bis anfangs April
1978 ihm die Freiheit während ca. 56 Monaten entzogen sein werde, was
2/3 einer vollen Strafdauer von sieben Jahren entspreche, hafte seiner
Zustimmungserklärung ein Willensmangel an.

    a) Dass ein freiwilliger Verzicht auf den durch Art. 5 EMRK gewährten
Schutz beim vorzeitigen Strafantritt zulässig ist, wird allgemein
anerkannt (M. SCHUBARTH, ZSR n.F. 94/1975 I, S. 470 und ST. TRECHSEL,
Die europäische Menschenrechtskonvention..., Bern 1974, S. 283 ff.).
Als freiwillig ist ein solcher Verzicht dann zu betrachten, wenn die
Zustimmung zum Antritt einer noch nicht vollstreckbaren Freiheitsstrafe
aus eigenem, ungehindertem Willen erklärt wird. Ob die Tragweite der
getroffenen Entscheidung ganz oder bloss teilweise bedacht wird, ob
die für den Entschluss massgebenden Gesichtspunkte vollständig oder
bloss lückenhaft bekannt sind und ob bestimmte der Zustimmung zugrunde
gelegte Voraussetzungen sich in der Folge einstellen, betrifft nicht
die Freiwilligkeit der Entscheidung, sondern ausschliesslich ihre
materielle Richtigkeit. Was der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang
vorträgt, ist deshalb nicht geeignet, die Annahme der Freiwilligkeit zu
entkräften. Auch die persönliche Freiheit ist nicht verletzt. Sie schützt,
wie das Erfordernis der Freiwilligkeit der Entscheidung, den Menschen
vor jeglichen dahin zielenden Angriffen, die ihm eigene Fähigkeit zur
Entscheidung nach seiner persönlichen Einschätzung der Situation durch
irgendwelche Mittel zu beeinträchtigen oder zu unterdrücken (BGE 100 Ia
193 E. 3 b mit Verweisen).

    b) Die Rügen einer Verletzung der persönlichen Freiheit sowie
eines Verstosses gegen Treu und Glauben gründen im übrigen auf der
irrigen Annahme, wenn ein Verurteilter gemäss § 429 Abs. 1 StPO seine
Zustimmung zum Vollzug des Urteils erkläre, so könne der gestützt darauf
eingeleitete Vollzug der Freiheitsstrafe nur weitergeführt werden, sofern
diese Zustimmung in der Folge aufrechterhalten bleibe. Die Interpretation
der genannten Bestimmung, wonach der Angeklagte nur über den Zeitpunkt
des Strafantrittes, nicht aber über die Fortdauer des Vollzuges verfügen
kann (Rs 1966, Nr. 118), wurde vom Bundesgericht - unter Hinweis auf den
Grundsatz der Kontinuität im Vollzug der Freiheitsstrafe - als nicht
willkürlich bezeichnet (unveröffentlichter Entscheid vom 11. Februar
1965 i.S. H.B., E. 3 am Ende). Ebenso hat der Bundesrat in der gleichen
Sache am 2. Februar 1965 die Zustimmungserklärung zum Strafvollzug
als unwiderruflich erachtet. An dieser Auffassung ist auch in casu
festzuhalten. Jedenfalls ist in der Beschwerde nichts dargetan, was die
Auslegung des § 429 Abs. 1 StPO durch die Vorinstanz als willkürlich
erscheinen liesse.