Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IB 119



104 Ib 119

21. Urteil vom 12. Juli 1978 i. S. Hartmann gegen Gemeinde Luzern und
Regierung des Kantons Graubünden Regeste

    Verfahren; rechtliches Gehör.

    1. Ein letztinstanzlicher kantonaler Entscheid über die
Verweigerung einer Bewilligung nach Art. 4 Abs. 3 BMR unterliegt der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Mit dieser kann auch eine Verletzung des
verfassungsmässigen Gehörsanspruchs gerügt werden. Subsidiarität der
staatsrechtlichen Beschwerde (E. 1).

    2. Tragweite des aus Art. 4 BV folgenden Anspruchs der Parteien
auf Teilnahme an einem Augenschein. Voraussetzungen, unter denen die
Verwaltungsorgane einen Augenschein unangemeldet oder ohne Beizug der
Parteien vornehmen dürfen (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Peter Hartmann stellte beim Departement des Innern und der
Volkswirtschaft des Kantons Graubünden das Gesuch, es sei ihm für die
Erstellung einer Hütte auf seiner in der Gemeinde Luzern gelegenen
Bergwiese, die sich in einem provisorischen Schutzgebiet im Sinne von
Art. 2 Abs. 1 lit. d BMR befindet, die nach Art. 4 Abs. 3 BMR erforderliche
Bewilligung zu erteilen. Das Departement wies das Gesuch ab. Peter
Hartmann reichte hiegegen bei der Regierung des Kantons Graubünden
Beschwerde ein. Der Departementssekretär des beschwerdebeklagten
Departementes besichtigte daraufhin mit zwei Beamten der kantonalen
Planungsstelle und dem Baufachchef der Gemeinde Luzein das Grundstück des
Beschwerdeführers, ohne diesen zum Augenschein einzuladen. Unter Hinweis
auf die an diesem Augenschein gemachten Feststellungen beantragte das
Departement des Innern und der Volkswirtschaft in seiner Vernehmlassung
Abweisung der Beschwerde. Die Regierung wies die Beschwerde in der
Folge ab, wobei sie sich in der Begründung ihres Entscheides auf die
tatsächlichen Feststellungen stützte, welche die Vorinstanz bei ihrem
nachträglichen Augenschein gemacht hatte. Peter Hartmann führt gegen den
Entscheid der Regierung wegen Verletzung von Art. 4 BV (rechtliches Gehör)
"staatsrechtliche Beschwerde". Das Bundesgericht behandelt die Eingabe
als Verwaltungsgerichtsbeschwerde und heisst diese gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 84 Abs. 2 OG ist eine staatsrechtliche Beschwerde
nur zulässig, wenn die behauptete Rechtsverletzung nicht sonstwie durch
Klage oder Rechtsmittel beim Bundesgericht oder einer andern Bundesbehörde
gerügt werden kann. Der angefochtene Entscheid der Regierung des Kantons
Graubündens stützt sich auf Art. 4 Abs. 3 BMR, d.h. auf öffentliches
Recht des Bundes, und unterliegt, da alle weitern Voraussetzungen nach
Art. 97 ff OG erfüllt sind, der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das
Bundesgericht (vgl. BGE 100 Ib 399 ff). Mit dieser kann nach Art. 104 OG
die "Verletzung von Bundesrecht" gerügt werden. Dieser Beschwerdegrund
umfasst auch die Rüge der Verletzung von Bundesverfassungsrecht,
soweit sie eine Angelegenheit betrifft, die in die Sachzuständigkeit
der eidgenössischen Verwaltungsrechtspflegeinstanz fällt (BGE 102 Ib
67; 99 V 57 E. 3 und 60 f; 96 I 90 und 187). Die Rüge, der angefochtene
Entscheid der Regierung des Kantons Graubünden sei unter Verletzung des
verfassungsrechtlichen Gehörsanspruches (Art. 4 BV) zustandegekommen,
kann daher mittels Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgebracht werden;
für eine entsprechende staatsrechtliche Beschwerde besteht aufgrund von
Art. 84 Abs. 2 OG kein Raum. Die Eingabe des Beschwerdeführers ist als
Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu behandeln (BGE 98 Ib 88 E. 1a).

Erwägung 2

    2.- a) Der Beschwerdeführer rügt, dass er zu dem vom Departement
des Innern und der Volkswirtschaft durchgeführten Augenschein nicht
eingeladen worden sei. Dass sich die kantonale Behörde damit willkürlich
über kantonale Verfahrensvorschriften hinweggesetzt habe, wird nicht
behauptet. Es kann sich daher nur fragen, ob der unmittelbar aus
Art. 4 BV folgende minimale bundesrechtliche Gehörsanspruch verletzt
worden ist. Danach hat der Bürger, vorbehältlich gewisser Ausnahmen,
auch im Verwaltungsprozess das Recht, an den Beweiserhebungen der
Verwaltungsorgane teilzunehmen (BGE 104 Ia 71 E. 3b; 99 Ia 46/47; 91
I 92). Das gilt insbesondere für die Durchführung von Augenscheinen.
Wohl ist es Behörden oder einzelnen Behördemitgliedern und Beamten nicht
verwehrt, sich informell an Ort und Stelle zu begeben, um über einen
an sich feststehenden Sachverhalt ein besseres, unmittelbares Bild zu
erhalten (IMBODEN/RHINOW, Verwaltungsrechtsprechung, Nr. 82 B/III/c/1
S. 509; BGE 99 Ia 47 f. E. 3b und e). Dient jedoch die Ortsbesichtigung
dem Zweck, einen streitigen, unabgeklärten Sachverhalt festzustellen,
so müssen die beteiligten Privaten zum Augenschein beigezogen werden. Ein
solcher Augenschein darf nur dann unter Ausschluss einer Partei erfolgen,
wenn schützenswerte Interessen Dritter oder des Staates oder eine
besondere zeitliche Dringlichkeit dies gebieten (BGE 91 I 92) oder
wenn der Augenschein seinen Zweck überhaupt nur erfüllen kann, wenn
er unangemeldet erfolgt (BGE 104 Ia 71 E. 3b; IMBODEN/RHINOW, aaO). In
derartigen Ausnahmefällen gilt der Gehörsanspruch als gewahrt, wenn die
betreffende Partei nachträglich zum Beweisergebnis Stellung nehmen kann
(BGE 104 Ia 71 E. 3b).

    b) Im vorliegenden Fall hat die Vorinstanz (bzw. das die Beschwerde
instruierende kantonale Finanz- und Militärdepartement) selber keinen
Augenschein durchgeführt, wiewohl der Beschwerdeführer einen solchen
beantragt hatte. Hingegen hat der Departementssekretär des erstinstanzlich
verfügenden Departementes des Innern und der Volkswirtschaft im
Verlaufe des Beschwerdeverfahrens mit zwei kantonalen Beamten und einem
Behördemitglied der Gemeinde das Grundstück des Beschwerdeführers
besichtigt, um sich dadurch für die Vernehmlassung an die Regierung
"eine verbesserte Grundlage" zu verschaffen. Dass der Beschwerdeführer
zu diesen "zusätzlichen Erhebungen" des beschwerdebeklagten Departementes
nicht beigezogen wurde, ist unbestritten.

    Der fragliche Augenschein beruhte somit nicht auf einer Anordnung
der Instanz, welcher die Leitung des kantonalen Beschwerdeverfahrens
oblag, sondern es handelte sich um eine ausserhalb dieses Verfahrens
erfolgte Vorkehr des beschwerdebeklagten Departementes, welches sich
zur Ausarbeitung einer fundierten Vernehmlassung über den Sachverhalt
besser ins Bild setzen wollte. Ein solches Vorgehen ist an sich nicht
unzulässig. Doch versteht sich, dass die Rechtsmittelinstanz bei ihrem
Entscheid nicht auf die an einem solchen "internen" Augenschein gemachten
Feststellungen abstellen darf; denn dies liefe auf eine Verletzung
des Teilnahmerechtes der Parteien hinaus. Sie darf ihren Entscheid nur
auf solche Beweise stützen, die in korrekter, den Gehörsanspruch der
Parteien wahrender Form erhoben worden sind. Indem die Regierung des
Kantons Graubünden bei ihrem Beschwerdeentscheid in wesentlichen Punkten
(Qualität des Bodens, Zerfall der alten Hütte, Zufahrtsmöglichkeiten)
auf die in der Vernehmlassung des beschwerdebeklagten Departementes
enthaltene Sachverhaltsschilderung abstellte und damit das Ergebnis
des amtsinternen, ohne Gewährung des Teilnahmerechtes durchgeführten
Augenscheines zum Beweismittel erhob, verstiess sie gegen die Grundsätze
des rechtlichen Gehörs.

    c) Ob die kantonalen Instanzen unter den gegebenen Umständen
zur Vornahme eines Augenscheines überhaupt verpflichtet gewesen wären
(vgl. BGE 100 Ib 400 f, 99 Ia 47 f), ist ohne Belang. Wenn eine Behörde zu
diesem Beweismittel greifen will, hat sie dies in den verfassungsrechtlich
vorgeschriebenen Formen zu tun und die Grundsätze des rechtlichen Gehörs
zu beachten (ZBI 79/1978 S. 42; IMBODEN/RHINOW, aaO Nr. 82 B/III/c/2,
S. 509, in Abweichung von BGE 96 I 332).

    d) Eine Heilung der Gehörsverletzung im verwaltungsgerichtlichen
Beschwerdeverfahren vor Bundesgericht, wie sie in gewissen Fällen möglich
ist (BGE 98 Ib 171, 176), fällt hier ausser Betracht. Der angefochtene
Entscheid ist in Gutheissung der Beschwerde aufzuheben, ohne dass es
darauf ankäme, ob Aussicht besteht, dass die Vorinstanz nach erneuter
Prüfung des Falles in einem korrekten Verfahren anders entscheiden wird
(BGE 98 Ia 8, 134, 339; 96 I 22).