Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IA 323



104 Ia 323

50. Auszug aus dem Urteil vom 20. Dezember 1978 i.S. L. gegen R. und
Appellationshof des Kantons Bern Regeste

    Unentgeltliche Rechtspflege im Zivilprozess.

    1. Haager Übereinkunft betreffend Zivilprozessrecht; Anwendbarkeit der
Bestimmungen über das Armenrecht auf einen im Ausland wohnhaften Schweizer,
der in der Schweiz einen Prozess führt?

    2. Art. 4 BV; Nachweis der Bedürftigkeit; Glaubhaftmachung genügt,
wenn der im Ausland wohnhafte Schweizer die zumutbaren Vorkehren zum
Nachweis der Prozessarmut getroffen hat. In jedem Fall steht es der
zuständigen Behörde frei, weitere Erkundungen von Amtes wegen einzuholen.

Sachverhalt

    A.- Der in Spanien wohnhafte Schweizer Bürger L. reichte beim
Gerichtspräsidenten des Amtsbezirkes Biel das Gesuch ein, es sei ihm für
die Geltendmachung einer Forderung die unentgeltliche Prozessführung unter
Beiordnung eines amtlichen Anwaltes zu gewähren. Zur Begründung führte
er aus, er habe sich im Jahre 1975 mit seiner Ehefrau, die Spanierin sei,
in Spanien niedergelassen. Dort arbeiteten sie im Landwirtschaftsbetrieb
der Eltern der Ehefrau mit und erzielten ein Einkommen, das nach der
Bestätigung der zuständigen Behörde dem Existenzminimum entspreche,
sodass die Prozessarmut offensichtlich sei.

    Der Gerichtspräsident I von Biel beantragte dem Appellationshof
des Kantons Bern, das Gesuch sei abzuweisen, da der Gesuchsteller seine
Prozessarmut nicht darzutun vermöge.

    Der Appellationshof wies das Gesuch ab und auferlegte L. die
Gerichtskosten und eine Parteientschädigung. Das Bundesgericht heisst
die gegen diesen Entscheid gerichtete staatsrechtliche Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Appelationshof hat das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
mit der Begründung abgewiesen, der Beschwerdeführer habe den ihm
obliegenden Beweis für seine Prozessarmut im massgeblichen Zeitpunkt
nicht erbracht. Über die diesbezüglichen Obliegenheiten des Gesuchstellers
führt die Berner ZPO in Art. 79 Abs. 2 aus, mit dem Gesuch sei ein Zeugnis
des Einwohnergemeinderates oder des durch Gemeindereglement bezeichneten
Beamten des Wohnortes des Gesuchstellers über seine Familien-, Vermögens-
und Einkommensverhältnisse vorzulegen. Der Beschwerdeführer hat eine
Bescheinigung der Agrarkammer seines Wohnortes eingereicht, welche nach
der Bestätigung der Gemeinde ein "organismo oficial", eine öffentliche
Behörde ist. In der Bescheinigung wird angegeben, dass L. in den Jahren
1975 und 1976 nur über ein Einkommen im Bereich des Existenzminimums
und über kein Vermögen verfügt habe. Der Appellationshof bezweifelt
denn auch weder die Zuständigkeit der Agrarkammer zur Bescheinigung
der Einkommens- und Vermögensverhältnisse noch die Richtigkeit und
Zuverlässigkeit dieser Bescheinigung. Er spricht ihr nur die Beweiskraft
für die heutigen Verhältnisse ab, da sie sich auf die Jahre 1975 und
1976 bezieht. Der Beschwerdeführer rügt dies als Verletzung der Haager
Übereinkunft betreffend Zivilprozessrecht, der sowohl die Schweiz als
auch Spanien angeschlossen sind (AS 1957, S. 472).

    Die Haager Übereinkunft regelt in den Art. 20 ff. das Armenrecht
des ausländischen Staatsangehörigen, der in der Schweiz einen Prozess
führt (BGE 77 I 48); sie ist nicht anwendbar auf den Schweizer Bürger
mit Wohnsitz im Ausland, der in der Schweiz einen Prozess anheben will
(GULDENER, Das internationale und interkantonale Zivilprozessrecht der
Schweiz, 1951, S. 10 ff., insb. S. 15 N. 34). Die Frage, wie weit die
Beweisführungspflicht eines im Ausland wohnhaften Schweizers geht,
und ob die Behörden allenfalls verpflichtet sind, zur Abklärung der
Mittellosigkeit beizutragen, bestimmt sich daher ausschliesslich nach
dem schweizerischen Landesrecht. Da die eigenen Staatsangehörigen aus
Rechtsgleichheitsgründen aber nicht schlechter gestellt werden sollten
als ausländische Staatsangehörige, sind die Rechte, welche die Haager
Übereinkunft den Ausländern gewährt, bei der Auslegung des Landesrechts
mitzuberücksichtigen (vgl. für das bern. Prozessrecht: ZBJV 62/1926,
S. 182; GULDENER, aaO, S. 15 N. 34).

Erwägung 2

    2.- Das Bundesgericht überprüft bei auf Art. 4 BV gestützten
staatsrechtlichen Beschwerden wegen Verweigerung des Armenrechts zunächst,
ob das kantonale Recht willkürlich angewendet worden ist, und sodann,
ob der bundesrechtliche Anspruch, wie er von der Rechtsprechung aus dem
Rechtsgleichheitsgebot abgeleitet wird, verletzt ist. Die letztere Prüfung
erfolgt, was Rechtsfragen betrifft, frei (BGE 99 Ia 432, 98 Ia 342).

    a) Nach Art. 77 der Berner ZPO hat Anspruch auf unentgeltliche
Prozessführung, wer die Kosten eines nicht von vorneherein aussichtslosen
Gerichtsverfahrens ohne Beschränkung des notwendigen Lebensunterhaltes für
sich und seine Familie nicht zu bestreiten vermag (Abs. 1). Die Partei,
welcher die unentgeltliche Prozessführung gewährt wird, ist von der
Vorschusspflicht für die Gerichtskosten, von der Stempelpflicht und von der
Pflicht zur Leistung von Prozesskostensicherheit oder Kostenvorschuss an
den Prozessgegner befreit (Abs. 5). Diese Umschreibung der Voraussetzungen
und Wirkungen der unentgeltlichen Prozessführung deckt sich weitgehend
mit derjenigen des Armenrechtsanspruchs gemäss der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung zu Art. 4 BV. Nach dieser kann eine bedürftige Partei
in einem für sie nicht aussichtslosen Zivilprozess verlangen, dass der
Richter für sie ohne Hinterlegung oder Sicherstellung von Kosten tätig
wird, und dass ihr ein unentgeltlicher Rechtsbeistand ernannt wird, wenn
sie eines solchen zur gehörigen Wahrung ihrer Interessen bedarf (BGE 98
Ia 341/2). Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, der Appellationshof
habe das kantonale Recht bezüglich der unentgeltlichen Prozessführung
willkürlich angewendet, sondern nur, durch den angefochtenen Entscheid
sei sein direkt aus Art. 4 BV fliessender diesbezüglicher Anspruch
verletzt worden.

    b) Nicht zu beanstanden ist unter diesem Gesichtspunkt, dass
dem Gesuchsteller aufgegeben wird, zur Abklärung seiner finanziellen
Verhältnisse beizutragen und die erforderlichen und von ihm beibringbaren
Beweise und Bescheinigungen einzureichen. Es darf daher von einem im
Ausland wohnhaften Schweizer verlangt werden, dass er die zumutbaren
Vorkehren zum Nachweis der sogenannten Prozessarmut trifft. Da der
negative Beweis der Mittellosigkeit oftmals schwer zu führen ist,
muss deren Glaubhaftmachung genügen, wenn der Gesuchsteller seiner
Beweisführungspflicht hinreichend nachgekommen ist. In jedem Fall steht
es der zuständigen Behörde frei, weitere Erkundungen von Amtes wegen
vorzunehmen (vgl. Art. 22 Abs. 2 der Haager Übereinkunft in der Fassung
vom 1. März 1954).

    Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer mit tauglichen
Bestätigungen der zuständigen Behörden seines Wohnortes dargetan,
dass er in den Jahren 1975 und 1976 nur über ein Einkommen im Bereich
des Existenzminimums und über kein Vermögen verfügt hat. Er hat ferner
geltend gemacht, seine Lage habe sich in der Zwischenzeit nicht verändert,
und er sei nicht in der Lage, eine entsprechende amtliche Bestätigung für
1977 beizubringen, weil die Steuerveranlagung für dieses Jahr noch nicht
vorgenommen worden sei. Ferner hat er eine Bescheinigung des Arbeitsamtes
der Provinz Valencia vom 22. März 1977 eingelegt, nach welcher er gemäss
eidesstattlicher Erklärung keine bezahlte Arbeit ausübt. Es ist nicht
ersichtlich und wird auch vom Appellationshof nicht dargelegt, was
der Beschwerdeführer zum Nachweis seiner gegenwärtigen Mittellosigkeit
weiter hätte vorkehren sollen, so dass angenommen werden muss, er habe
die zumutbaren Vorkehren zum Nachweis der Prozessarmut getroffen.

    Es entspricht der Erfahrung, dass die Steuerveranlagungszahlen
normalerweise nicht für die neueste Zeit vorliegen. Nachdem auch
der Appellationshof davon ausgeht, dass die Mittellosigkeit des
Beschwerdeführers für die Jahre 1975 und 1976 nachgewiesen ist, und nachdem
keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine wesentliche Änderung
der Lage eingetreten ist, hat der Beschwerdeführer zumindest glaubhaft
gemacht, dass ihm die notwendigen Mittel zur Prozessführung fehlen. Unter
diesen Umständen lässt sich die Abweisung des Gesuches mangels Nachweises
der Mittellosigkeit mit Art. 4 BV nicht vereinbaren. Die Abweisung des
Armenrechtsgesuches stellt deshalb eine Rechtsverweigerung dar.