Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IA 236



104 Ia 236

38. Auszug aus dem Urteil vom 12. Juli 1978 i.S. Bauert gegen Gemeinde
Richterswil und Regierungsrat des Kantons Zürich Regeste

    Art. 85 lit. a OG; Konsultativabstimmung.

    Bei der Durchführung einer Konsultativabstimmung sind grundsätzlich
die Verfahrensvorschriften zu beachten, die für die ordentlichen
Volksabstimmungen gelten (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Am 15. Juni 1977 kündigte der Gemeinderat von Richterswil in der
"Grenzpost", dem amtlichen Anzeiger der Gemeinde, für den 3. Juli 1977 eine
konsultative Volksabstimmung über den Bau der kantonalen Seestrasse an.
Die Stimmbürger erhielten Weisung und Stimmzettel am 28. bzw. 29. Juni
1977 und hatten zu folgenden Abstimmungsfragen Stellung zu nehmen:

    "1. Sind Sie damit einverstanden, dass unser Dorfkern gemäss
vorliegendem

    Seestrassenprojekt vom Durchgangsverkehr entlastet wird?

    2. Wünschen Sie, dass sich der Gemeinderat weiterhin beim Regierungsrat
   für einen möglichst raschen Baubeginn einsetzt?"

    Die Konsultativabstimmung wurde wie vorgesehen am 3. Juli 1977
durchgeführt. Für die erste Frage ergaben sich 1473 Ja- gegen 810
Nein-Stimmen, für die zweite Frage 1449 Ja- gegen 813 Nein-Stimmen.

    Rolf Bauert focht die Konsultativabstimmung ohne Erfolg beim Bezirksrat
Horgen und beim Regierungsrat des Kantons Zürich an. Er erhebt gestützt
auf Art. 85 lit. a OG staatsrechtliche Beschwerde, unter anderem
mit der Begründung, die Abstimmung sei nicht rechtzeitig angekündigt
und die Weisung sowie die Stimmzettel seien den Stimmbürgern zu spät
zugestellt worden. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und hebt
die Konsultativabstimmung auf.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) (Unzulässigkeit der Beschwerde, soweit mehr als die Aufhebung
der durchgeführten Konsultativabstimmung beantragt wird.)

    d) Das Bundesgericht prüft als Staatsgerichtshof nur diejenigen
Einwendungen, die in der Beschwerdeschrift ausdrücklich oder jedenfalls
sinngemäss erhoben werden (Art. 90 OG). In der vorliegenden Beschwerde
wird geltend gemacht, die Konsultativabstimmung sei nicht richtig
vorbereitet worden und die Fragestellung sowie die Abstimmungsweisung des
Gemeinderates hätten die Stimmbürger irregeführt. Der Beschwerdeführer rügt
dagegen nicht, die Abstimmung hätte mangels einer gesetzlichen Grundlage
überhaupt nicht veranstaltet werden dürfen. Wie es sich damit verhält,
ist deshalb nicht zu prüfen, sondern es ist einzig zu untersuchen,
ob die Konsultativabstimmung wegen der behaupteten Verfahrensmängel zu
kassieren sei.

Erwägung 2

    2.- a) Jeder Stimmbürger hat einen bundesrechtlich gewährleisteten
Anspruch darauf, dass kein Wahl- oder Abstimmungsergebnis anerkannt
wird, das nicht den freien Willen der Stimmberechtigten zuverlässig und
unverfälscht zum Ausdruck bringt. Stellt das Bundesgericht Verfahrensmängel
fest, so hebt es die Abstimmung auf, wenn die gerügten Unregelmässigkeiten
das Ergebnis beeinflusst haben könnten. Der Stimmbürger muss in einem
solchen Fall nicht nachweisen, dass sich der Mangel auf das Ergebnis
entscheidend ausgewirkt hat; es genügt, dass nach dem festgestellten
Sachverhalt eine derartige Auswirkung im Bereich des Möglichen liegt. Ob
das zutrifft, entscheidet das Bundesgericht mit freier Kognition; die
Sachverhaltsfeststellungen der kantonalen Behörden überprüft es indessen
nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür (BGE 102 Ia 268
E. 3 mit Hinweisen).

    b) Gemäss § 100 des zürcherischen Gesetzes über das Gemeindewesen vom
6. Juni 1926 (GG) und Art. 7 Abs. 2 der Gemeindeordnung von Richterswil
sind den Stimmbürgern die der Gemeindeabstimmung unterliegenden
Anträge und Beschlüsse mindestens zwanzig Tage vor der Abstimmung mit
einer Weisung zuzustellen. Im vorliegenden Falle trug die Weisung des
Gemeinderates das Datum des 13. Juni 1977. Hätten die Stimmbürger die
Abstimmungsunterlagen an jenem Tag erhalten, so wäre die erwähnte Frist
eingehalten worden. Es ist jedoch unbestritten, dass die Zustellung der
Abstimmungsunterlagen erheblich später erfolgte. Die Stimmbürger erhielten
die Weisung und den Stimmzettel mit den genauen Abstimmungsfragen erst
am 28. bzw. 29. Juni, das heisst nur wenige Tage (Dienstag und Mittwoch)
vor dem Abstimmungssonntag. Die Gemeinde Richterswil stellt das nicht in
Abrede. Sie macht jedoch geltend, die für die ordentlichen Abstimmungen
vorgesehenen Verfahrensvorschriften hätten nicht beachtet werden müssen,
da lediglich eine konsultative Volksbefragung durchgeführt worden sei.
Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden.

    Ob die zürcherischen Gemeinden zur Durchführung konsultativer
Volksabstimmungen befugt sind, wird im kantonalen Verfassungs- und
Gesetzesrecht nicht näher geregelt (vgl. BGE 103 Ia 489, ferner die
Weisung des Regierungsrates zur Änderung der Art. 29, 30 und 31 KV,
Zürcher Amtsblatt, 1974, S. 1868, 1887), und auch der Gemeindeordnung
von Richterswil ist hierüber keine ausdrückliche Vorschrift zu
entnehmen. Dementsprechend bestehen auch keine gesetzlichen Vorschriften
über das Verfahren, das bei Durchführung derartiger Volksabstimmungen
zu befolgen ist. Das heisst jedoch nicht, dass die Behörden bei der
Durchführung einer Konsultativabstimmung völlig frei wären. Vielmehr
haben in diesem Falle diejenigen Verfahrensvorschriften analog Anwendung
zu finden, die für die ordentlichen Volksabstimmungen vorgesehen sind,
vorausgesetzt, dass sie sich auch für konsultative Volksbefragungen als
sachgerecht erweisen. Das ist bei den hier in Frage stehenden Bestimmungen
über die Vorbereitung der Abstimmung der Fall. Diese Vorschriften sollen
gewährleisten, dass den Stimmbürgern und den politischen Gruppierungen
genügend Zeit zur Verfügung steht, um sich über die Abstimmung aufgrund
der amtlichen Unterlagen zu unterrichten, gegenteilige Auffassungen
zur Kenntnis zu nehmen und ihre eigene Auffassung in der öffentlichen
Diskussion zu vertreten. Diese Zielsetzungen gelten für konsultative
Volksbefragungen in gleicher Weise wie für ordentliche Abstimmungen, denn
nur bei richtiger Vorbereitung des Urnenganges besteht Gewähr, dass die
Befragung nicht die in einem bestimmten Zeitpunkt zufällig vorherrschende
Stimmung widerspiegelt, sondern mit grösstmöglicher Zuverlässigkeit den
repräsentativen, aus der politischen Auseinandersetzung hervorgegangenen
Willen der Stimmbürger zum Ausdruck bringt.

    c) Wie aus den Akten hervorgeht, wurde die streitige Volksbefragung
von den kommunalen Behörden angeordnet, um einer sich neu bildenden
Opposition gegen das Seestrassenprojekt begegnen zu können. Nach der
Annahme der kantonalen Initiative "Demokratie im Strassenbau" hatte nämlich
eine private Arbeitsgruppe in der Gemeinde Richterswil Unterschriften
für eine Petition an den Regierungsrat gesammelt, mit welcher verlangt
wurde, es sei eine kantonale Volksabstimmung über den Bau der geplanten
Seestrasse anzusetzen. Der Gemeinderat befürchtete bei dieser Sachlage,
die Realisierung der Seestrasse könnte aufgrund der Petition um Jahre
hinausgezögert werden. Der Petition sollte deshalb eine repräsentative
Äusserung des Willens der Stimmbürger gegenübergestellt werden, um den
Regierungsrat über den wirklichen Willen der Gemeinde zu orientieren und
um den Behörden eine Richtlinie für ihr weiteres Verhalten in dieser
Sache zu geben. Wenn den Stimmbürgern die Abstimmungsunterlagen mit
der Weisung des Gemeinderates und den genauen Abstimmungsfragen erst im
Verlaufe der letzten Woche vor der Abstimmung zugestellt wurden, statt
mindestens zwanzig Tage zum voraus, wie das kantonale und kommunale Recht
es für ordentliche Abstimmungen vorschreibt, so wurde die Meinungsbildung
der Stimmbürger erheblich beeinträchtigt. Bei einer derart massiven
Abweichung von den hier analog anzuwendenden Gesetzesvorschriften
über die Vorbereitung des Urnenganges erscheint eine Auswirkung auf das
Abstimmungsergebnis als möglich, woran selbst die Tatsache nicht zu ändern
vermag, dass die Einwohnerschaft von Richterswil bereits bei früheren
Gelegenheiten über das Seestrassenprojekt orientiert worden war und die
Konsultativabstimmung für beide Abstimmungsfragen einen verhältnismässig
grossen Überschuss an Ja-Stimmen ergab. Bei dieser Sachlage ist die
Abstimmung aufzuheben, und es kann dahingestellt bleiben, wie es sich
mit den weiteren Rügen des Beschwerdeführers verhält.