Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IA 17



104 Ia 17

6. Auszug aus dem Urteil vom 16. Februar 1978 i.S. B. gegen
Bezirksanwaltschaft Zürich und Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich
Regeste

    Art. 4 BV; Art. 6 Ziff. 3 EMRK; Strafuntersuchung.

    Eine Vorschrift, welche die Zulassung des Verteidigers zur Einvernahme
des Angeschuldigten in das Ermessen des Untersuchungsbeamten stellt,
ist verfassungsmässig (E. 4). Sie wird nicht willkürlich angewendet,
wenn der Verteidiger von der ersten Befragung ohne Angabe besonderer
Gründe ausgeschlossen wird (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Die Bezirksanwaltschaft Zürich führt gegen B. und weitere
Beteiligte eine Strafuntersuchung. Als B. zu einer ersten Einvernahme
vorgeladen wurde, ersuchte seine Verteidigerin um Verschiebung des
Verhörs. Sie erklärte, dass sie daran teilnehmen möchte, am vorgesehenen
Datum aber verhindert sei. Die Bezirksanwaltschaft lehnte das Gesuch
mit der Begründung ab, die erste Befragung des Beschuldigten werde
ohne Beisein eines Verteidigers durchgeführt. Gegen diese Verfügung
rekurrierte B. erfolglos an die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Das
Bundesgericht weist die gegen den Rekursentscheid erhobene staatsrechtliche
Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Umfang der Rechte des Angeschuldigten auf Verteidigung
bestimmt sich im schweizerischen Recht zunächst nach den kantonalen
Verfahrensvorschriften. Wo dieser kantonale Rechtsschutz sich als
ungenügend erweist, greifen die unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden,
also bundesrechtlichen Verfahrensregeln Platz, die dem Bürger in
allen Streitsachen ein bestimmtes Mindestmass an Verteidigungsrechten
gewährleisten. Die europäische Menschenrechtskonvention gewährt dem
Angeschuldigten keinen darüber hinausgehenden Schutz. Insbesondere
enthält Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK keine Vorschrift darüber, dass
der Angeschuldigte einen Anspruch darauf hätte, schon bei der ersten
Einvernahme durch einen Verteidiger verbeiständet zu sein. Auslegung
und Anwendung des kantonalen Rechts prüft das Bundesgericht nur unter
dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür; es prüft hingegen frei,
ob das kantonale Verfahrensrecht den bundesrechtlichen, unmittelbar aus
Art. 4 BV fliessenden Verteidigungsansprüchen genüge (BGE 103 Ia 138;
101 Ia 170; 98 Ia 6).

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer rügt sinngemäss, die Annahme der kantonalen
Instanzen, das zürcherische Verfahrensrecht erlaube es, die Verteidigerin
des Beschwerdeführers ohne Angabe von besonderen Gründen von der ersten
Einvernahme auszuschliessen, sei willkürlich. Diese Rüge ist nicht
stichhaltig. Gemäss § 17 Abs. 2 StPO "kann" der Untersuchungsbeamte dem
Verteidiger gestatten, den persönlichen Einvernahmen des Angeschuldigten
beizuwohnen. Die Zulassung des Verteidigers ist somit in das Ermessen
des Untersuchungsrichters gestellt. Dieses Ermessen ist nicht frei
und ungebunden. Wie auch den Weisungen der Staatsanwaltschaft an die
Bezirksanwaltschaften zu entnehmen ist, hat der Bezirksanwalt seinen
Entscheid über die Zulassung des Verteidigers stets im Hinblick auf
den Untersuchungszweck und dessen allfällige Gefährdung zu treffen. Die
Staatsanwaltschaft weist darauf hin, dass in der Zürcher Praxis die Regel
gelte, die Verteidiger zur ersten Einvernahme nicht zuzulassen, sofern
die Vermutung bestehe, der Angeschuldigte werde sich in Anwesenheit des
Verteidigers nicht frei und unbeeinflusst äussern. Die Abwesenheit des
Verteidigers erleichtere es dem Untersuchungsbeamten, den Angeschuldigten
unter Beachtung der prozessualen Regeln zu einer wahrheitsgemässen
Aussage zu veranlassen. Es liegt im Rahmen des den Untersuchungsbehörden
zustehenden Ermessens, wenn sie in der Regel die Verteidiger zur ersten
Einvernahme nicht zulassen. Da die Untersuchungsbehörden die einzelnen
Angeschuldigten nicht im voraus kennen, dient es nämlich der Wahrung
der Rechtsgleichheit, wenn sie grundsätzlich alle Angeschuldigten gleich
behandeln. Unter diesen Umständen sind die Behörden nicht verpflichtet,
für den Ausschluss des Verteidigers von der ersten Einvernahme noch
besondere Gründe, die sich auf den konkreten Fall beziehen, anzugeben. Für
die Nichtzulassung zu weiteren Einvernahmen wird man dagegen in der
Regel eine konkrete Begründung verlangen können, weshalb der Zweck
der Untersuchung durch die Teilnahme des Verteidigers gefährdet werde.
Jedenfalls kann der Entscheid der kantonalen Instanz, es sei zulässig,
die Verteidigerin des Beschwerdeführers von der ersten Einvernahme ohne
Angabe von besonderen Gründen auszuschliessen, nicht als eine willkürliche
Handhabung der Strafprozessordnung betrachtet werden.

    Willkür ist im Fall des Beschwerdeführers umso weniger gegeben, als
seine Verteidigerin verhindert war, am fraglichen Termin an der Befragung
teilzunehmen, und der Bezirksanwalt ein Verschiebungsgesuch abgelehnt
hatte. § 17 StPO gibt dem Verteidiger, wie das Bundesgericht mit bezug
auf den im wesentlichen gleichlautenden Art. 118 BStP entschieden hat,
höchstens ein Recht, der Befragung zuzuhören; er darf sich nicht in das
Verhör einmischen und kann deshalb keine Verschiebung der Einvernahme
verlangen, wenn er aus irgend einem Grund daran nicht teilnehmen kann (BGE
95 IV 47). Gerade bei stark beanspruchten Untersuchungsbehörden bedeutet
jede Verschiebung eine Verlängerung der Untersuchungsdauer. Wo deshalb,
wie im zürcherischen Recht, der Beizug des Verteidigers zur Einvernahme
des Angeschuldigten ins Ermessen des Untersuchungsbeamten gestellt ist,
verletzt der Bezirksanwalt die StPO nicht, wenn er bei Verhinderung eines
Verteidigers die Einvernahme in dessen Abwesenheit durchführt.

Erwägung 4

    4.- Der Beschwerdeführer macht im weiteren mindestens dem Sinne nach
geltend, die Regelung von § 17 StPO, wonach die Zulassung des Verteidigers
zur Einvernahme seines Mandanten im Ermessen des Untersuchungsbeamten
stehe, sei an sich verfassungswidrig; analog zur Rechtsprechung des
amerikanischen Supreme Court sei dem Angeschuldigten nach dem Prinzip der
Waffengleichheit das Recht zuzugestehen, schon das erste Mal in Anwesenheit
seines Verteidigers einvernommen zu werden. Die Staatsanwaltschaft hält
jedoch dafür, dieses Recht könne weder aus der Bundesverfassung noch aus
der EMRK abgeleitet werden; zur Wahrung der Rechte des Angeklagten genüge
die Möglichkeit, die Auskunft an der ersten Einvernahme zu verweigern.

    Im Rahmen des heutigen Verfahrens ist nicht zu prüfen, wann einem
inhaftierten Beschuldigten ein erster Kontakt mit seinem Verteidiger
gestattet werden muss. Es ist zu untersuchen, ob ein Angeschuldigter,
der sich in Freiheit befindet und deshalb vor der Einvernahme mit seinem
Verteidiger Fühlung nehmen und sich beraten lassen kann, unmittelbar
aus Art. 4 BV einen Anspruch auf Teilnahme seines Verteidigers an der
ersten Einvernahme ableiten kann. In der Literatur wird diese Forderung
verschiedentlich erhoben (vgl. SCHULTZ in ZBJV 107/1971 S. 347; PONCET,
La protection de l'accusé par la Convention européenne des droits de
l'homme, Genève 1977, S. 166 ff.). Auch ist nicht zu verkennen, dass für
viele Angeschuldigte die Anwesenheit eines Verteidigers schon bei der
ersten Einvernahme eine psychologische Hilfe bedeutet; der Beschuldigte
hofft darauf, der Verteidiger werde den Untersuchungsrichter schon gleich
zu Beginn des Untersuchungsverfahrens veranlassen, zusätzliche Fragen zu
stellen, deren Beantwortung sich zu seinen Gunsten auswirken könne. Zudem
weiss der Untersuchungsbeamte, dass der Verteidiger die Art seiner
Fragestellung laufend kontrolliert. Der Wegfall dieser Kontrollmöglichkeit
beeinträchtigt die Verteidigungsrechte des Angeschuldigten jedoch
nicht, da der Verteidiger auf jeden Fall in einem späteren Zeitpunkt,
wenn ihm volle Akteneinsicht gewährt wird, eine zusätzliche Befragung
des Angeschuldigten fordern kann. Andererseits kann in vielen Fällen
eine erste Einvernahme ohne Anwesenheit des Verteidigers zur objektiven
Wahrheitserforschung wesentlich beitragen. Sollte ein Untersuchungsbeamter
bei der ersten Einvernahme Rechtsvorschriften verletzen und beispielsweise
unzulässige Druckmittel anwenden, so kann dies im nachfolgenden Verfahren
gerügt werden. Ein aus Art. 4 BV abgeleiteter Anspruch des Beschuldigten
auf Teilnahme seines Verteidigers an der ersten Einvernahme entspricht
in der Schweiz auch nicht einer allgemeinen Rechtsüberzeugung,
welche mindestens in den neueren kantonalen Strafprozessordnungen
und im neusten Verfahrensrecht des Bundes ihren Niederschlag gefunden
hätte. Die Kantone regeln die Möglichkeit des Beschuldigten, zu seiner
Einvernahme einen Verteidiger beizuziehen, ganz unterschiedlich. Nur
wenige Kantone gewähren dem Beklagten ein Recht auf Teilnahme des
Verteidigers an Befragungen, beschränken aber diesen Anspruch, wenn
dadurch der Untersuchungszweck gefährdet würde. (R. HAUSER, Kurzlehrbuch
des schweizerischen Strafprozessrechts, Basel 1978, S. 195; SCHUBARTH,
Die Rechte des Beschuldigten im Untersuchungsverfahren, besonders bei
Untersuchungshaft, Bern 1973, S. 232 f.; P. HUBER, Die Stellung des
Beschuldigten - insbesondere seine Rechte - in der Strafuntersuchung
unter besonderer Berücksichtigung des Kantons Zürich, Diss. Zürich 1974,
S. 153). Auf Bundesebene sieht Art. 39 Abs. 3 des Bundesgesetzes über das
Verwaltungsstrafrecht vom 22. März 1974 vor, der Beschuldigte könne,
sofern es sich nicht um seine erste Vernehmung handle, verlangen,
dass der Verteidiger zugegen sei. Auch diese strafprozessuale Norm
des Bundes gestattet somit, den Verteidiger von der ersten Einvernahme
auszuschliessen. Der Bundesgesetzgeber ist also auch in neuester Zeit bei
der Überzeugung geblieben, es sei der Wahrheitsfindung förderlich und
den Persönlichkeitsrechten des Angeschuldigten nicht abträglich, wenn
die erste Einvernahme unter Ausschluss des Verteidigers erfolge. Unter
diesen Umständen ist die Beschwerde auch unter dem Gesichtspunkt der
bundesrechtlichen Mindestansprüche auf Verteidigung (Art. 4 BV) abzuweisen.