Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IA 161



104 Ia 161

27. Auszug aus dem Urteil vom 1. März 1978 i.S. Dr. X. gegen Gemeinde Z.,
Kantons und Kassationsgericht des Kantons St. Gallen Regeste

    Art. 4 BV; administrative Entlassung eines Beamten.

    1. Rechtsnatur der Verwaltungsverordnung. Die rechtliche Grundordnung
eines Beamtenverhältnisses ist keine Verwaltungsverordnung, sondern hat
Rechtssatzcharakter (E. 2).

    2. Verhältnis administrativer und disziplinarischer Entlassung eines
Beamten (E. 3a).

    Weiterbeschäftigung des Beamten während einer beschränkten Zeit trotz
administrativer Entlassung (E. 3b).

Sachverhalt

    A.- Dr. X. war seit dem 1. April 1969 Chefarzt der medizinischen

    Klinik des Spitals in Z. Das Anstellungsverhältnis wurde durch einen
schriftlichen Vertrag geregelt; die kommunale Dienst- und Besoldungsordnung
als ergänzend anwendbar erklärt.

    Schon bald nach dem Stellenantritt von Dr. X. kam es zu Spannungen
zwischen ihm und dem Verwaltungsdirektor und in der Folge auch
mit der vorgesetzten Behörde. Diese sah sich deshalb veranlasst,
das Anstellungsverhältnis am 14. August 1971 auf Ende Februar 1972 zu
kündigen. Dr. X. nahm darauf durch seinen Anwalt zur Kündigung und zu den
Verhältnissen im Spital im allgemeinen Stellung. Kopien dieses Briefes
liess er verschiedenen Stellen und Personen zugehen. Die vorgesetzte
Behörde erblickte in dieser nach aussen gerichteten Kritik eine Verletzung
der Dr. X. treffenden Treuepflicht und löste vor allem deshalb mit
Schreiben vom 9. September 1971 das Dienstverhältnis bereits auf Ende
September auf. Bei untadeligem Verhalten wurde Dr. X. die Auszahlung des
Gehaltes bis Ende Februar 1972 zugesichert.

    Dr. X. stellte seine Tätigkeit am Spital in Z. Ende September 1971
ein, bot jedoch seine Dienste bis zum Ablauf der Kündigungsfrist an und
erhob für diese Zeit Anspruch auf volle Entschädigung einschliesslich der
Nebenbezüge. Die vorgesetzte Behörde erklärte, im Hinblick auf eine von
Dr. X. veranlasste Pressekampagne würden sämtliche finanziellen Leistungen
an ihn eingestellt.

    Dr. X. erhob in der Folge beim Bezirksgericht Z. gegen die Gemeinde
Z. Klage auf Bezahlung von Fr. 50'000.- als Entschädigung für die ihm
während der Kündigungszeit entgangenen Bezüge. Das Bezirksgericht hiess
diese Klage teilweise gut. Dr. X. erklärte Berufung an das Kantonsgericht;
die Gemeinde Z. erhob Anschlussberufung.

    Das Obergericht wies die Klage in vollem Umfange ab. Dagegen führte
Dr. X. sowohl Nichtigkeitsbeschwerde beim Kassationsgericht des
Kantons St. Gallen als auch zivilrechtliche Nichtigkeitsbeschwerde
beim Bundesgericht. Das kantonale Kassationsgericht wies die
Nichtigkeitsbeschwerde ab, soweit es darauf eintrat. Die I. Zivilabteilung
des Bundesgerichtes behandelte die zivilrechtliche Nichtigkeitsbeschwerde
als Berufung und wies diese gleichfalls ab, soweit darauf einzutreten war.

    Gegen das Urteil des Kassationsgerichtes des Kantons St. Gallen
und gleichzeitig gegen dasjenige des Kantonsgerichts führt
Dr. X. staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV. Das
Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer erblickt eine formelle Rechtsverweigerung
zunächst darin, dass das Kassationsgericht auf die Rüge der Verletzung
der Dienst- und Besoldungsordnung für das Personal der Gemeinde Z. (DBO)
nicht eintrat. Das Kassationsgericht begründete seinen Entscheid in diesem
Punkt damit, bei der DBO handle es sich weder um eine "Gesetzesbestimmung
des Kantons oder des Bundes", die nach dem Wortlaut von Art. 427 Ziff. 1
des Gesetzes über die Zivilrechtspflege (ZPO, vom 20. März 1939) mit
der Nichtigkeitsbeschwerde angefochten werden könnte, noch um eine
"Rechtsverordnung, die materiell zur Gesetzgebung gehört" und die
daher nach Lehre und Praxis ebenfalls diesem Rechtsmittel unterstünde
(LUTZ, Kommentar zum Zivilrechtspflegegesetz des Kantons St. Gallen,
2. Auflage, lit. a zu Art. 427 Ziff. 1). Es handle sich vielmehr um
eine Verwaltungsverordnung, die generelle Anordnungen zur Regelung
der Interna des Verwaltungsdienstes oder einer öffentlichen Anstalt
enthalte. Adressaten der DBO seien ausschliesslich im Dienste der
Gemeinde stehende Beamte und Arbeitnehmer, die wegen ihrer Tätigkeit für
die Ortsbürgergemeinde zu dieser in einem besonderen Rechtsverhältnis
stünden. Ein Schutz der Beschwerde käme daher selbst dann nicht in Frage,
wenn durch den Entscheid des Obergerichtes die DBO verletzt worden
sein sollte.

    Diese Begründung erweckt Bedenken. Zwar ist es richtig, dass die
ZPO als ersten der beiden in Art. 427 vorgesehenen Nichtigkeitsgründe
die Verletzung oder Umgehung einer "Gesetzesbestimmung des Kantons
oder des Bundes" nennt und Verordnungen in diesem Zusammenhang nicht
erwähnt. Indessen ist kein vernünftiger Grund ersichtlich, weshalb die
Verletzung von Normen höherer Ordnung mit der Nichtigkeitsbeschwerde sollte
gerügt werden können, diejenige von Verordnungen indessen nicht. LUTZ
bemerkt in seinem Kommentar zur ZPO (lit. a zu Art. 427 Ziff. 1) unter
Hinweis auf die Rechtsprechung, als "Gesetzesbestimmungen" im Sinne
der erwähnten Norm seien auch "Rechtsverordnungen" zu betrachten. "die
materiell zur Gesetzgebung gehörten".

    Das Kassationsgericht hat dies auch nicht verkannt,
indessen angenommen, bei der DBO handle es sich um eine blosse
Verwaltungsverordnung. Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden.

    Das Bundesgericht versteht unter Verwaltungsverordnungen Anweisungen
an das öffentliche Personal bei der Erfüllung ihrer Dienstpflichten
(Dienstanweisungen; BGE 98 Ia 510 f. E. 1). A. GRISEL (Droit administratif
suisse, S. 82) führt aus, die Verwaltungsverordnungen "ne concernent que
les agents de l'administration, dont elles règlent le mécanisme interne";
ähnlich ist die Begriffsbestimmung von FAVRE (Droit constitutionnel
suisse, S. 431). GYGI (Verwaltungsrechtspflege und Verwaltungsverfahren im
Bund, 2. Auflage, S. 144) bemerkt, Verwaltungsvorschriften begründeten
weder Rechte noch Pflichten. TH. FLEINER (Grundzüge des allgemeinen
und schweizerischen Verwaltungsrechtes, S. 75/76) bezeichnet die
Verwaltungsverordnungen als Weisungen vorgesetzter Instanzen an ihre
Untergebenen über die Art und Weise, wie Zuständigkeiten der Verwaltung
auszufüllen seien; solche Weisungen hätten generell-abstrakten Charakter,
richteten sich aber nur an die internen Instanzen. Geht man von diesen
Begriffsbestimmungen aus, so ergibt sich, dass der Grunderlass,
der die Begründung, den Inhalt und die Beendigung des Beamten- und
öffentlich-rechtlichen Anstellungsverhältnisses für einen ganzen Kanton
oder eine Gemeinde regelt, keine Verwaltungsverordnung darstellen kann. Er
betrifft nicht oder doch nicht zur Hauptsache den internen Dienstbetrieb,
sondern die Rechtsstellung einer grösseren Gruppe von Einzelpersonen
gegenüber der sie beschäftigenden öffentlichen Körperschaft. Wollte man
eine solche Dienst- und Beamtenordnung als blosse Verwaltungsverordnung
betrachten, so könnte der einzelne Funktionär aus ihr keine Rechte
ableiten, was seine Stellung in unerträglicher Weise beeinträchtigen
und der Zweckbestimmung des Erlasses offensichtlich widersprechen
würde. Auch der vom Kassationsgericht zitierte Autor SCHWARZENBACH
(Grundriss des allgemeinen Verwaltungsrechts, 6. Auflage, S. 38)
vertritt im Grunde genommen keine andere Auffassung. Er spricht von
"generellen Anordnungen, welche Interna des Verwaltungsdienstes oder
einer öffentlichen Anstalt regeln", und sich an Personen richten,
die in einem besonderen Rechtsverhältnis zum Staat stehen; er führt in
Übereinstimmung mit der übrigen Lehre und Rechtsprechung den "allgemeinen
Dienstbefehl" als Beispiel an. Darin kommt zum Ausdruck, dass auch hier
eine Grundordnung des Dienstverhältnisses auf rechtssatzmässiger Grundlage
vorausgesetzt wird, die durch besondere Dienstbefehle konkretisiert
wird. - Das Kassationsgericht hätte somit auf die Rüge der Verletzung
der DBO eintreten sollen.

    Ob das gegenteilige Vorgehen geradezu unhaltbar und damit
willkürlich war, kann indessen dahingestellt bleiben. Tatsächlich hat das
Kassationsgericht nämlich die Rügen, die der Beschwerdeführer aus der DBO
ableitet, behandelt, obschon es formell erklärt hat, darauf nicht eintreten
zu wollen. Der Beschwerdeführer hat in seiner Nichtigkeitsbeschwerde die
DBO in zwei Punkten als verletzt bezeichnet: einmal machte er geltend,
diese Verordnung kenne das Institut der administrativen Entlassung gar
nicht, und zum andern wurde gerügt, die DBO schreibe in jedem Falle die
vorherige Anhörung des zu Entlassenden vor. Das Kantonsgericht hat sich
in seinem Urteil sowohl mit der Frage der Zulässigkeit der administrativen
Entlassung wie auch mit den rechtlichen Folgen der unterbliebenen Anhörung
einlässlich befasst. Damit ist der Rüge der formellen Rechtsverweigerung
durch das Kassationsgericht der Boden entzogen.

Erwägung 3

    3.- a) Der Beschwerdeführer macht geltend, das Kantonsgericht habe
willkürlich gehandelt, indem es ausgeführt habe, es sei einem blossen
gesetzgeberischen Versehen zuzuschreiben, dass in der DBO nur die
disziplinarische, nicht aber die administrative Entlassung vorgesehen
sei. Die Willkürrüge konnte gemäss Art. 427 Ziff. 2 ZPO im Verfahren vor
dem Kassationsgericht vorgebracht werden und wurde dort tatsächlich auch
erhoben. Auf die nicht weiter begründete Rüge ist daher grundsätzlich
einzutreten, wobei die Auffassung als solche, nicht die Erwägungen des
Kassationsgerichtes unter dem eingeschränkten Gesichtswinkel der Willkür
der Beurteilung nach Art. 4 BV unterliegen. Indessen ist die Meinung
der kantonalen Instanzen mit sachlichen Gründen vertretbar. Es genügt,
den Text von Art. 16 Abs. 2 DBO zu lesen, um festzustellen, dass er
im wesentlichen demjenigen von Art. 337 Abs. 2 OR entspricht. Damit
war es nicht unhaltbar, anzunehmen, auch der Sinn jener Bestimmung
des kommunalen Rechtes entspreche demjenigen der genannten Bestimmung
des OR, welche die Entlassung aus wichtigen Gründen nicht von einem
Verschulden des Entlassenen abhängig macht. Verhält es sich aber so,
dann kann das Nebeneinanderbestehen von Gründen, die allenfalls eine
disziplinarische Entlassung hätten rechtfertigen können, und von solchen,
die zu einer administrativen Entlassung führen mussten, die Möglichkeit
der administrativen Entlassung nicht einschränken, würde doch sonst der
öffentliche Funktionär, der aus objektiven Gründen untragbar geworden ist,
bevorzugt, wenn ihm daneben noch ein Verschulden zur Last fällt, was nicht
der Sinn der Beamtenordnung sein kann. Es hätte sich einzig die Frage
stellen können, ob die administrative Entlassung nur vorgeschoben sei,
um nicht den Weg des Disziplinarverfahrens beschreiten zu müssen. Allein
dies wird mit der Beschwerde nicht oder doch zum mindesten nicht in klarer
Form geltend gemacht.

    Wollte man annehmen, die Rüge sei sinngemäss erhoben worden,
so zöge dies nicht die Nichtigkeit der Entlassung nach sich, sondern
es wäre allenfalls nachträglich zu prüfen, ob die Voraussetzungen für
eine disziplinarische Entlassung gegeben waren (BGE 100 Ib 26 E. 1b, mit
Hinweisen). Die Frage, in welchem Verfahren und bis zu welchem Zeitpunkt
eine solche Überprüfung hätte verlangt werden können, wird im folgenden
zu untersuchen sein.

    b) Der Beschwerdeführer erblickt ein widersprüchliches Verhalten
und damit Willkür darin, dass das Kassationsgericht in Übereinstimmung
mit dem Kantonsgericht es nicht als unzulässig erklärt habe, ihn aus
wichtigen Gründen ohne Einhaltung der Kündigungsfrist zu entlassen
und ihn trotzdem vom Entlassungsschreiben bis zum 30. September 1971,
also während 21 Tagen, in seiner Stellung zu belassen. Die kantonalen
Instanzen haben sich mit dieser Frage einlässlich auseinandergesetzt und
dargelegt, dass es im Interesse der Patienten notwendig gewesen sei,
den Beschwerdeführer noch so lange zu beschäftigen, bis die Nachfolge
wenigstens provisorisch geregelt gewesen sei. Weshalb diese Erwägung
falsch oder gar geradezu willkürlich gewesen sein soll, wird in der
Beschwerde nicht dargelegt. Eine solche Rüge wäre auch offensichtlich
unbegründet. Es kann durchaus notwendig sein, einen grundsätzlich für
das Spital untragbar gewordenen Arzt noch für eine kurze Übergangszeit
weiterzubeschäftigen, wenn die medizinische Versorgung der Kranken nicht
anders gesichert werden kann, ohne dass der Arzt daraus ableiten könnte,
seine Weiterbeschäftigung wäre dem Staat oder der Gemeinde während der
ganzen rechtlichen Dauer der Kündig ungsfrist, also noch während fünf
weiterer Monate, zuzumuten gewesen. Anders zu entscheiden wäre einzig
dann, wenn jede auch noch so kurzfristige Weiterbeschäftigung Leben und
Gesundheit der Patienten einer ernsthaften Gefahr aussetzen würde, also
vor allem dann, wenn fachliche Inkompetenz Grund der Entlassung ist.