Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 V 40



102 V 40

11. Auszug aus dem Urteil vom 15. März 1976 i.S. K. gegen Ausgleichskasse
Basel-Stadt und Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen
Basel-Stadt Regeste

    Medizinische Eingliederungsmassnahmen (Art. 12 Abs. 1 IVG).

    - Zusammenfassung der Rechtsprechung betreffend Übernahme medizinischer
Vorkehren als Teil eines Behandlungskomplexes.

    - Unterschied zwischen therapeutisch stationär gehaltenem und stabilem
Zustand.

    - Physiotherapie nach ischämischem Insult verweigert.

Sachverhalt

    A.- Im April 1975 ersuchte die 1944 geborene R. K. um medizinische
Massnahmen der Invalidenversicherung. Dr. med. D. stellt in seinem Bericht
an die Invalidenversicherungs-Kommission des Kantons Basel-Stadt folgende
Diagnose:

    "1. Status nach Mitralklappenprothese.

    2. Status nach cerebrovasculärem Insult während der Herzoperation mit
   spastischer Parese der linken Hand und stark gestörter Sensibilität der
   linken Hand, sowie Reduktion der Merkfähigkeit und rasche Ermüdbarkeit.

    3. Verdacht auf Morbus Boeck."  Als für die Eingliederung ins
Erwerbsleben notwendige medizinische Massnahme nennt er "weiterhin Ergo-
und Physiotherapie im Kantonsspital Basel". Im Bericht des Dr. med. S. wird
nachstehende Diagnose genannt: "Status nach peroperativ aufgetretener
Embolie der rechten Media mit Hemiparese links in Rückbildung." Der
Arzt erwähnt, dass seit der Entlassung aus dem Spital Physiotherapie und
Ergotherapie durchgeführt worden seien. Die ambulante Rehabilitation sei
so weit gediehen, dass die Versicherte ihre Arbeit als Kinderschwester
wieder aufnehmen könne.

    Am 1. August 1975 lehnte die Ausgleichskasse Basel-Stadt die Übernahme
der Kosten medizinischer Massnahmen verfügungsweise ab, weil diese nicht
geeignet wären, die Arbeitsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern
oder zu erhalten.

    B.- Die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde hat die Kantonale
Rekurskommission für die Ausgleichskassen Basel-Stadt am 27. Oktober
1975 abgewiesen.

    C.- R. K. lässt durch Dr. med. S. Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen
mit dem Antrag, die Invalidenversicherung sei zu verpflichten, für die
Eingliederungsmassnahmen gemäss Art. 12 IVG aufzukommen. Zur Begründung
wird vorgebracht: Rehabilitationsmassnahmen, die bereits durchgeführt
worden und weiterhin notwendig seien (Ergo- und Physiotherapie),
hätten sich nach kurzer Zeit als erfolgreich erwiesen und würden die
Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit erlauben. Der Hirninfarkt sei
nach Tagen als "stationär bzw. stabil anzusehen". Der Arzt kritisiert
ferner die Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts betreffend
medizinische Massnahmen nach ischämischem Insult, wie sie vom kantonalen
Richter zitiert worden ist ...

    Die Ausgleichskasse verzichtet auf eine Vernehmlassung zur
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, deren Abweisung vom Bundesamt für
Sozialversicherung beantragt wird.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Unter den allgemeinen Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 1 IVG hat der
Versicherte nach Art. 12 Abs. 1 IVG Anspruch auf medizinische Massnahmen,
die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern unmittelbar
auf die berufliche Eingliederung gerichtet und geeignet sind, die
Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher
Beeinträchtigung zu bewahren. Diese Bestimmung bezweckt namentlich, die
Aufgabenbereiche der Invalidenversicherung einerseits und der sozialen
Kranken- und Unfallversicherung anderseits gegeneinander abzugrenzen. Die
Abgrenzung beruht auf dem Grundsatz, dass die Behandlung einer Krankheit
oder einer Verletzung ohne Rücksicht auf die Dauer des Leidens primär in
den Aufgabenbereich der Kranken- und Unfallversicherung gehört.

    Das Gesetz umschreibt die Vorkehren medizinischer Art, welche von
der Invalidenversicherung nicht zu übernehmen sind, mit dem Rechtsbegriff
"Behandlung des Leidens an sich". Wo und solange labiles pathologisches
Geschehen besteht und mit medizinischen Vorkehren angegangen wird,
seien diese kausal oder symptomatisch, auf das Grundleiden oder auf
dessen Folgeerscheinungen gerichtet, stellen solche Heilmassnahmen,
sozialversicherungsrechtlich betrachtet, Behandlung des Leidens an
sich dar. Dem labilen pathologischen Geschehen hat die Rechtsprechung
seit jeher im Prinzip alle nicht stabilisierten Gesundheitsschäden
gleichgestellt, die Krankheitswert haben. Demnach gehören jene Vorkehren,
die auf die Heilung oder Linderung pathologischen oder sonstwie
Krankheitswert aufweisenden Geschehens labiler Art gerichtet sind, nicht
ins Gebiet der Invalidenversicherung. Erst wenn die Phase des (primären
oder sekundären) pathologischen Geschehens insgesamt abgeschlossen und ein
stabiler oder mindestens relativ stabilisierter Zustand eingetreten ist,
kann sich - beim volljährigen Versicherten - überhaupt die Frage stellen,
ob eine Vorkehr Eingliederungsmassnahme sei. Die Invalidenversicherung
übernimmt in der Regel nur unmittelbar auf die Beseitigung oder Korrektur
stabiler Defektzustände oder Funktionsausfälle gerichtete Vorkehren,
sofern sie die Wesentlichkeit und Beständigkeit des angestrebten Erfolges
im Sinne des Art. 12 Abs. 1 IVG voraussehen lassen. Dagegen hat die
Invalidenversicherung eine Vorkehr, die der Behandlung des Leidens an
sich zuzuzählen ist, auch dann nicht zu übernehmen, wenn ein wesentlicher
Eingliederungserfolg vorausgesehen werden kann. Der Eingliederungserfolg,
für sich allein betrachtet, ist im Rahmen des Art. 12 IVG kein taugliches
Abgrenzungskriterium, zumal praktisch jede ärztliche Vorkehr, die
medizinisch erfolgreich ist, auch im erwerblichen Leben eine entsprechende
Verbesserung bewirkt (BGE 100 V 101 und 98 V 208).

    Stabilisierende Vorkehren richten sich immer gegen labiles
pathologisches Geschehen. Deshalb muss eine kontinuierliche Therapie,
die notwendig ist, um das Fortschreiten eines Leidens zu verhindern,
als Behandlung des Leidens an sich bewertet werden. Keine stabile Folge
von Krankheit, Unfall oder Geburtsgebrechen ist daher ein Zustand, der
sich nur dank therapeutischen Massnahmen einigermassen im Gleichgewicht
halten lässt, gleichgültig welcher Art die Behandlung sei (BGE 98 V 95 und
209). Ein solcher Zustand ist, solange er im Gleichgewicht bewahrt werden
kann, wohl stationär, aber nicht im Sinne der Rechtsprechung stabil. Die
medizinischen Vorkehren, die zur Aufrechterhaltung des stationären
Zustandes erforderlich sind, können daher von der Invalidenversicherung
nicht übernommen werden. In diesem Sinne hat das Eidg. Versicherungsgericht
in seinem unveröffentlichten Urteil vom 6. März 1974 i.S. Schwestermann
entschieden, dass es sich bei der durch die Apoplexie erlittenen
Hirnschädigung um labiles Krankheitsgeschehen handle und dass die
auf dessen Folgeerscheinung gerichtete Physiotherapie als Behandlung
des Leidens an sich nicht der Invalidenversicherung belastet werden
könne. Entgegen den Ausführungen im angefochtenen kantonalen Entscheid
hat das Eidg. Versicherungsgericht im Urteil Schwestermann nirgends in
genereller Weise "ausdrücklich festgehalten, dass bei einem reversiblen
ischämischen Hirninfarkt keine Rehabilitationsmassnahmen gewährt werden
können".

    Muss sich ein Versicherter mehreren medizinischen Vorkehren
mit verschiedenem Zweck unterziehen, so beurteilt sich deren
rechtlicher Charakter danach, in welchem Verhältnis sie zueinander
stehen. Grundsätzlich sind alsdann Art und Ziel aller Vorkehren zusammen
dafür ausschlaggebend, ob sie im Sinne der Rechtsprechung unter Art. 12
IVG subsumiert werden können. Dies jedenfalls dann, wenn sich die
einzelnen Vorkehren nicht voneinander trennen lassen, ohne dass dadurch
die Erfolgsaussichten gefährdet würden, und die einen Vorkehren für sich
allein nicht von solcher Bedeutung sind, dass die andern Vorkehren in
den Hintergrund treten. Ist diese enge Konnexität zu bejahen, so ist
die Invalidenversicherung nur dann leistungspflichtig, wenn die auf die
Eingliederung gerichteten Vorkehren überwiegen (EVGE 1968 S. 240 Erw. 2
und 1967 S. 251, ZAK 1969 S. 375, unveröffentlichtes Urteil vom 1. Oktober
1971 i.S. Laissue).

Erwägung 2

    2.- ... Die Invalidenversicherungs-Kommission hat sich auf die
Feststellung beschränkt, dass die medizinischen Massnahmen nicht geeignet
seien, die Arbeitsfähigkeit der Versicherten dauernd oder wesentlich
zu verbessern oder zu erhalten. Zur primären Frage, ob nämlich ein
stabiler Defektzustand vorliegt, hat sie nicht Stellung genommen.
Die Vorinstanz äussert sich lediglich zur rechtlichen Bedeutung der
Anticoagulationstherapie, die sie, weil der Stabilisierung eines
Zustandes nach ischämischem Infarkt dienend, der Beschwerdeführerin
verweigerte. Dieser Auffassung ist beizupflichten. Das Grundleiden
der R. K. besteht in der latenten Bereitschaft zu neuen Embolien. Die
Anticoagulationstherapie ist darauf gerichtet, solchen weitern arteriellen
Embolien vorzubeugen. Sie bezweckt mit andern Worten, den gegenwärtigen
Zustand der Versicherten stationär zu halten, und dient daher, für sich
allein betrachtet, nicht unmittelbar der Eingliederung. Eine wirksame
Anticoagulationstherapie würde aber an sich noch nicht ausschliessen,
dass andern medizinischen Vorkehren doch Eingliederungscharakter zukäme,
dann nämlich, wenn sie sich auf einen andern, von der Emboliegefährdung
unabhängigen Leidenskomplex beziehen würden, wenn dieser Leidenskomplex
als stabil gelten könnte und der Eingliederungserfolg nicht durch andere
Gebrechen in Frage gestellt oder beeinträchtigt würde. Im vorliegenden
Fall besteht indessen zwischen dem Grundleiden der Emboliegefährdung
und der Hemiparese, für deren Behandlung Physiotherapie und Ergotherapie
verlangt werden, ein unmittelbarer Konnex. Nicht nur ist die Hemiparese
die unmittelbare Folge einer bereits erlittenen Embolie, sondern es
wäre ohne dauernde Anticoagulation stets mit neuen Embolien und dadurch
bedingten neuen Paresen und sonstigen, die Erwerbsfähigkeit oder gar das
Leben bedrohenden Folgen zu rechnen. Unter diesen Umständen stellen die
verschiedenen Therapien einen zeitlich und sachlich eng zusammenhängenden
Massnahmenkomplex dar, dessen stabilisierender Charakter eindeutig
überwiegt. Die Invalidenversicherung hat daher nicht nur die Kosten der
Anticoagulationstherapie, sondern auch jene der Physiotherapie und der
Ergotherapie nicht zu übernehmen.

    Es verhält sich hier ähnlich wie bei dem von Vorinstanz, Dr. S. und
Bundesamt zitierten Fall Sidler (Urteil vom 10. April 1975). Damals hat
das Eidg. Versicherungsgericht einem an Thrombosen im linken Vorhof
bei Mitralvitium und Vorhofflimmern leidenden Versicherten, der nach
Einsetzen einer Herzklappenprothese eine Hirnembolie erlitten hatte,
Lähmungsbehandlung und Heilgymnastik verweigert. Die Vorinstanz führt
mit dem Hinweis auf dieses Urteil aus, dass nach einer Hirnembolie bei
künstlicher Herzklappe so lange kein stabiler Defekt anzunehmen sei, als
"anticoaguliert" werden müsse. Dr. S. erachtet dies als falsch. Seiner
Kritik liegt die Annahme zugrunde, der allein massgebende Defekt
seien die Herzstörungen. Hiezu ist - in Ergänzung der vorinstanzlichen
Urteilsbegründung - zu bemerken, dass das Eidg. Versicherungsgericht im
Urteil Sidler ausführte, durch die Daueranticoagulation könne wohl das
labile pathologische Geschehen stationär gehalten werden, doch vermöge
sie angesichts des Krankheitsbildes nach ärztlicher Erkenntnis keine
stabilisierten Verhältnisse herbeizuführen. Als massgebend wurde somit
erachtet, dass durch die Anticoagulation der Gesamtzustand wohl stationär,
aber nicht stabil geworden war.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.