Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 V 242



102 V 242

59. Auszug aus dem Urteil vom 26. November 1976 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen Rüegg und Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen Regeste

    Art. 81 IVG, 96 AHVG und 24 VwVG schliessen die Anwendung einer
kantonalen Regelung der Wiederherstellung einer Frist aus.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die vom 4. Juli 1975 datierte Kassenverfügung ist Karl Rüegg
am 7. Juli 1975 zugestellt worden. Die 30tägige Beschwerdefrist begann
daher am 8. Juli 1975 zu laufen und endete am 6. August 1975. Die
vorinstanzliche Beschwerde wurde aber erst am 7. August 1975, also nach
Ablauf der Rechtsmittelfrist, eingereicht.

    Es ist zu prüfen, ob die Vorinstanz zu Recht die versäumte
Frist wiederhergestellt hat und auf die offensichtlich verspätete
Beschwerde eingetreten ist. Dass das Bundesamt für Sozialversicherung
auf eine Stellungnahme in formellrechtlicher Beziehung verzichtet,
entbindet das Gericht nicht von dieser Prüfungspflicht (vgl. GYGI,
Verwaltungsrechtspflege und Verwaltungsverfahren im Bund, 2. Aufl. 1974,
S. 76, Ziff. 4).

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 69 IVG in Verbindung mit Art. 84 Abs. 1 AHVG
kann gegen Verfügungen der Ausgleichskassen innert 30 Tagen seit der
Zustellung Beschwerde erhoben werden. Diese gesetzliche Frist darf der
Richter nicht erstrecken (Art. 22 Abs. 1 VwVG in Verbindung mit Art. 96
AHVG und Art. 81 IVG). Läuft die Frist unbenützt ab, so erwächst die
Verfügung in formelle Rechtskraft mit der Wirkung, dass der Richter auf
die verspätet eingereichte Beschwerde nicht eintreten kann.

    Hingegen kann gemäss Art. 24 VwVG in Verbindung mit Art. 96 AHVG und
Art. 81 IVG eine Frist wiederhergestellt werden, wenn der Gesuchsteller
oder sein Vertreter unverschuldet abgehalten worden ist, innert der Frist
zu handeln, und wenn er binnen 10 Tagen nach Wegfall des Hindernisses
ein begründetes Begehren um Wiederherstellung einreicht und die versäumte
Rechtshandlung nachholt.

    Unzutreffend ist in diesem Zusammenhang die Auffassung der
Vorinstanz, dass - wie Art. 85 Abs. 2 AHVG - auch diese Ordnung
über die Wiederherstellung einer Frist, soweit sie das kantonale
Rekursverfahren betrifft, "nur als Wegleitung an die Kantone im Sinne
einer Minimalanforderung zu verstehen ist, die den Kantonen Raum für
eine weitergehende Regelung zum Rechtsschutz des Bürgers in diesem
Bereich offenlässt". Entgegen Art. 85 Abs. 2 AHVG, der lediglich die
allgemeinen Anforderungen umschreibt, denen das grundsätzlich kantonale
Beschwerdeverfahren zu genügen hat, erklärt Art. 96 AHVG die Art. 20-24
VwVG als direkt anwendbar. Damit werden die Berechnung, Einhaltung und
Erstreckung der Fristen sowie die Säumnisfolgen und die Wiederherstellung
einer Frist ausdrücklich durch Bundesrecht geregelt, welches auf diesen
Gebieten eine Anwendung weitergehenden oder einschränkenden kantonalen
Rechts ausschliesst.

    b) Nach der Rechtsprechung hat derjenige, der sich während eines
hängigen Verfahrens für längere Zeit von dem den Behörden bekanntgegebenen
Adressort entfernt, ohne für die Nachsendung der an die bisherige
Adresse gelangenden Korrespondenz zu sorgen und ohne der Behörde zu
melden, wo er nunmehr zu erreichen ist, bzw. ohne einen Vertreter zu
beauftragen, nötigenfalls während seiner Abwesenheit für ihn zu handeln,
eine am bisherigen Ort versuchte Zustellung als erfolgt gelten zu lassen
(BGE 97 III 10 und 86 II 4; nicht veröffentlichte Urteile des Eidg.
Versicherungsgerichts i.S. Waeber vom 22. September 1976 und Egloff vom 3.
April 1973).

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Fall erklärte Karl Rüegg in der vorinstanzlichen
Beschwerde u.a. folgendes: "Nach meinen Ferien finde ich unter meinen
Postzustellungen Ihre Hiobsbotschaft." Daraus kann nicht ohne weiteres
geschlossen werden, der Grund für die verspätet erhobene Beschwerde liege
in der Ferienabwesenheit. Es ist durchaus möglich, dass Karl Rüegg noch
vor Fristablauf aus den Ferien zurückgekehrt ist und das Rechtsmittel
noch rechtzeitig hätte ergreifen können. Selbst wenn indessen zu seinen
Gunsten angenommen wird, er habe infolge Abwesenheit vom Wohnort
das Rechtsmittel nicht rechtzeitig erheben können, liegt darin kein
Wiederherstellungsgrund. Karl Rüegg hatte weder der Ausgleichskasse
mitgeteilt, wo ihm der Verwaltungsakt während seiner Ferienabwesenheit
zugestellt werden könne, noch einen Vertreter beauftragt, nötigenfalls für
ihn zu handeln. Aus dieser Versäumnis lassen sich nach dem in Erwägung
2b Gesagten keine Rechte zu seinen Gunsten ableiten. Wenn das kantonale
Versicherungsgericht trotzdem die 30tägige Frist wiederherstellte, die
Beschwerde als rechtzeitig eingereicht behandelte und auf sie eintrat, so
verstiess es gegen Bundesrecht. Da das kantonale Gericht auf die Beschwerde
nicht hätte eintreten dürfen, muss sein Entscheid aufgehoben werden.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 13. Mai 1976
aufgehoben.