Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 V 140



102 V 140

32. Auszug aus dem Urteil vom 14. September 1976 i.S. Poltera gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht von
Graubünden Regeste

    Art. 77 KUVG. Die nebenberufliche selbständige Erwerbstätigkeit ist
bei der Bemessung der Invalidität eines Versicherten, der im unterstellten
Betrieb nicht voll beschäftigt ist, zu berücksichtigen (Änderung der
Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Der Landwirt Poltera arbeitete jeweils im Winter während ungefähr
4 Monaten bei der X. Bergbahnen AG. Am 12. Februar 1973 geriet er mit
beiden Händen in ein laufendes Brems- und Förderband. Dabei zog er sich
mehrere Verletzungen der Finger zu, die zum Teil amputiert wurden. Am
7. Mai 1973 war der Versicherte klinisch geheilt, und die Behandlung
konnte abgeschlossen werden.

    Mit Verfügung vom 14. September 1973 sprach die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA), die für Taggeld und Heilungskosten
aufgekommen war, dem Versicherten für die Zeit vom 1. September 1973
bis 31. August 1974 eine Rente wegen 20%iger und für die Folgezeit eine
solche wegen 10%iger Invalidität zu.

    B.- Jakob Poltera liess "Klage" einreichen mit den Anträgen: Die
SUVA sei zu verpflichten, ihm vom 1. September 1973 hinweg bis zum
AHV-Alter eine monatliche Rente von Fr. 1'025.55 auszurichten unter
Abzug der bereits geleisteten Monatsbetreffnisse von Fr. 175.--;
ferner sei die Rente jährlich dem Lebenskostenindex anzupassen. Die
Leistungsfähigkeit in der Landwirtschaft sei von Dr. med. L. auf 25-30%
veranschlagt worden. Bei der Rentenberechnung dürfe, abweichend von der
SUVA, nicht von einem Jahresverdienst von Fr. 15'000.-- ausgegangen
werden. Massgebend sei vielmehr das Jahreseinkommen von Fr. 25'115.75,
das sich aus dem landwirtschaftlichen Einkommen von Fr. 19'557.--,
dem Verdienst aus unselbständiger Tätigkeit bei der X. Bergbahnen AG
von Fr. 5'020.80 und einem für Sägereiarbeiten bezogenen Gehalt von
Fr. 537.95 zusammensetze. Bei 70%iger Invalidität ergebe sich damit die
verlangte Monatsrente.

    Das Versicherungsgericht des Kantons Graubünden hat die "Klage"
am 17. Februar/10. März 1975 in dem Sinne gutgeheissen, dass es die SUVA
verpflichtete, dem Versicherten ab 1. September 1974 eine Dauerrente von
15%, berechnet auf einem Jahreseinkommen von Fr. 15'000.--, auszuzahlen.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt Poltera, es sei ihm
eine Rente wegen 70%iger Invalidität zuzusprechen. Zur Begründung
bringt er vor: Die X. Bergbahnen AG habe ihn entlassen, da er
wegen der körperlichen Behinderung die Mechanikerarbeiten nicht mehr
verrichten könne. Zudem müsse berücksichtigt werden, dass er in seiner
"Hauptfunktion als Landwirt" noch viel mehr behindert sei denn als
Gondelbahn-Angestellter. Die SUVA habe für den ganzen Verdienstausfall
von 70% des Jahreseinkommens von Fr. 25'000.-- zu haften ...

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer verlangt erneut, dass bei der Rentenberechnung
nicht nur der Lohn berücksichtigt werde, den er als Bergbahn-Angestellter
bezogen habe; zum anrechenbaren Verdienst gehöre vielmehr auch sein
Einkommen aus der Landwirtschaft.

    Gemäss Lohnbescheinigung der X. Bergbahnen AG betrug der Monatslohn
des Beschwerdeführers Fr. 1'225.--. Hätte der Beschwerdeführer ganzjährig
bei den X. Bergbahnen gearbeitet, würde sich das Jahreseinkommen auf rund
Fr. 15'000.-- belaufen haben. Ein höherer Verdienst darf gemäss Art. 79
Abs. 2 und 3 KUVG nicht berücksichtigt werden. Die SUVA hat daher zu
Recht einen Jahresverdienst von Fr. 15'000.-- zugrundegelegt.

Erwägung 3

    3.- Sein weiteres Begehren, den Invaliditätsgrad nicht bloss auf 15%,
sondern auf 70% festzusetzen, begründet der Beschwerdeführer damit, dass
er als Gondelbahn-Angestellter auch Mechanikerarbeiten verrichtet habe,
inzwischen von der Arbeitgeberfirma "nicht mehr weiter angestellt" worden
und auch in der Landwirtschaft sowie als Sägereiarbeiter beträchtlich
behindert sei.

    a) Im angefochtenen Entscheid wird ausdrücklich erwähnt, der
Beschwerdeführer sei bei den X. Bergbahnen auch für Unterhaltsarbeiten
eingesetzt gewesen und habe damit Tätigkeiten eines Mechanikers
ausgeübt. Die Vorinstanz bemerkt, er werde wegen der Fingerschäden
kaum mehr qualifizierte Unterhaltsarbeiten verrichten können, sondern
sich mit anspruchsloseren Arbeiten begnügen müssen. Zu Unrecht meint
also der Versicherte, das kantonale Versicherungsgericht habe bei der
Invaliditätsschätzung seine Beeinträchtigung bei Mechanikerarbeiten
nicht berücksichtigt.

    Der kantonale Richter führt sodann aus, die Erwerbsmöglichkeiten
des Beschwerdeführers seien "auf dem für ihn in Betracht fallenden
Arbeitsmarkt" spürbar beeinträchtigt. Es erscheint fraglich, ob diese
Beeinträchtigung mit der vorinstanzlichen Invaliditätsschätzung hinreichend
berücksichtigt worden ist. Dabei ist nämlich zu beachten, dass der
Beschwerdeführer geltend macht, infolge seiner Behinderung habe ihn die
X. Bergbahnen AG entlassen, was noch zu überprüfen wäre. Nicht abgeklärt
sind ferner die Möglichkeiten, die dem in einer Bündner Berggemeinde
niedergelassenen Versicherten mit eigener Landwirtschaft offenstehen, als
Mechaniker oder in einem etwa gleichwertigen, ihm zumutbaren Berufszweig
auf dem in Betracht fallenden Arbeitsmarkt eingesetzt zu werden.

    b) Die SUVA wendet sich gegen die Auffassung des Beschwerdeführers,
bei der Bemessung seiner Invalidität müsse auch beachtet werden, dass die
Handverletzungen ihn bei seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit erheblich
behindern würden. Dementsprechend wurde bisher nicht geprüft, ob und
gegebenenfalls in welchem Ausmass eine solche Behinderung besteht.

    Nach der Rechtsprechung darf für die Invaliditätsschätzung eines
Versicherten, der in einem der SUVA unterstellten Betrieb verunfallt,
die Behinderung in einer Nebenbeschäftigung, insbesondere in der
Landwirtschaft, nur dann berücksichtigt werden, wenn der Versicherte
darin unselbständigerwerbend und im Hauptberuf nicht während der
vollen betriebsüblichen Arbeitszeit beschäftigt ist (EVGE 1955
S. 81). Diese Praxis wurde mit den Bestimmungen der Verordnung II über
die Unfallversicherung begründet. Danach wird für die Berechnung der
Versicherungsleistungen an Arbeitnehmer, die jeweils höchstens während der
Hälfte der für den einzelnen Arbeiter geltenden täglichen Arbeitsdauer
im versicherungspflichtigen Betrieb beschäftigt werden, der innerhalb
und ausserhalb dieses Betriebes verdiente "Lohn" zusammengerechnet und
bis zur Höhe des Durchschnittslohnes eines im gleichen oder in einem
gleichartigen benachbarten Betrieb vollbeschäftigten Arbeitnehmers
berücksichtigt (Art. 4 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 der
Verordnung II). Daraus schloss das Gericht, dass die betreffende Person
auch im Nebenberuf unselbständigerwerbend sein müsse.

    Diese Betrachtungsweise lässt sich indessen mit dem allgemein geltenden
Invaliditätsbegriff nicht vereinbaren. Für die Beurteilung der Frage,
in welchem Ausmass ein Versicherter in seiner Erwerbsfähigkeit gesamthaft
beeinträchtigt ist, kann es nicht darauf ankommen, ob ihn die Unfallfolgen
in einer unselbständigen oder in einer selbständigen Nebenerwerbstätigkeit
behindern. An der zitierten Rechtsprechung kann daher in dieser Hinsicht
nicht länger festgehalten werden. Vielmehr ist für die Schätzung der
Invalidität auch dann die Behinderung in der Nebenerwerbstätigkeit zu
berücksichtigen, wenn diese selbständig ausgeübt wird. Anderseits bleibt
es dabei, dass die Behinderung im Nebenberuf nur dann in Betracht fällt,
wenn die betreffende Person im Hauptberuf nicht voll beschäftigt ist.

    Poltera war bis zu seiner Invalidierung im Hauptberuf Arbeitnehmer
der X. Bergbahnen AG. Als Gondelbahnangestellter (und Mechaniker) war er
nur während der Wintermonate voll ausgelastet, während er in den übrigen
Monaten nicht beschäftigt wurde, sondern sich als selbständigerwerbender
Landwirt seinem Betrieb widmete und überdies in bescheidenem Ausmass auch
als Sägereiarbeiter tätig war. Nach den obigen Darlegungen muss bei der
Invaliditätsschätzung auch auf seine Behinderung in der Landwirtschaft
abgestellt werden. Ebenso ist, übrigens schon nach bisheriger
Rechtsprechung, zu berücksichtigen, inwieweit der Beschwerdeführer wegen
der Unfallfolgen sich auch nicht mehr als unselbständigerwerbender Säger
betätigen kann. Das Ausmass dieser Beeinträchtigungen lässt sich auf
Grund der vorliegenden Akten nicht beurteilen.

    c) Es wird Sache der SUVA sein, die zusätzlichen Abklärungen
vorzunehmen und alsdann über den Rentenanspruch des Poltera neu zu
befinden.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen,
dass der vorinstanzliche Entscheid sowie die Verfügung vom 14. September
1973 aufgehoben werden und die Sache an die SUVA zurückgewiesen wird,
damit diese im Sinn der Erwägungen verfahre.