Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IV 29



102 IV 29

9. Urteil des Kassationshofes vom 6. Februar 1976 i.S. Grau und Wolf
gegen Generalprokurator des Kantons Bern. Regeste

    1. Art. 305 StGB.

    Wer einen Dritten begünstigt, ist straflos, wenn er zugleich auch
sich selbst begünstigen wollte (Erw. 1).

    2. Art. 251 Ziff. 1, 110 Ziff. 5 StGB.

    Eine Falschurkunde kann auch vorliegen, wenn unwahre Tatsachen
beurkundet werden, die für die Beurteilung des Werts oder der Beweiskraft
eines Beweismittels von rechtlicher Bedeutung sind (Erw. 2a). Beweiseignung
privatschriftlicher Aufzeichnungen kraft kantonalen Prozessrechts
(Erw. 2b).

Sachverhalt

    A.- Im Frühjahr 1974 eröffnete das Richteramt Interlaken eine
Strafuntersuchung gegen den in Goldswil niedergelassenen deutschen
Staatsangehörigen Karl Grau und seine deutsche Schwiegermutter Anita Wolf,
die bei ihm zu Besuch weilte. Grau wurde vorgeworfen, seit mehr als einem
Jahr einen Personenwagen geführt zu haben, ohne einen schweizerischen
Führerausweis zu besitzen, und ferner den Besuch seiner Schwiegermutter
nicht angemeldet zu haben. Anita Wolf wurde des illegalen Aufenthaltes
beschuldigt, indem sie sich seit Ende Dezember 1973 ununterbrochen mehr
als drei Monate ohne Bewilligung in Goldswil aufgehalten habe.

    Anlässlich ihrer Einvernahme vom 28. Juni 1974 gab Frau Wolf ein
maschinengeschriebenes Schreiben vom 20. Juni 1974 zu den Akten, in
welchem Frau Aenne Bornemann, wohnhaft in Marköbel (BRD), unterschriftlich
erklärte, dass Frau Wolf in der Zeit vom 7. bis 11. Januar 1974 bei ihr
zu Besuch gewesen sei und dass dies auch ihr Ehemann und ihre Nachbarn
bezeugen könnten. Auf Ersuchen des Gerichtspräsidenten von Interlaken durch
das Amtsgericht Hanau einvernommen, gestand Frau Bornemann, dass sich Frau
Wolf in der fraglichen Zeit nicht bei ihr aufgehalten habe und dass ihr
das Schreiben von Grau zur Unterzeichnung vorgelegt worden sei. Dieser
hatte die Bestätigung während eines Aufenthaltes in Frankfurt geschrieben
und nach der Unterzeichnung durch Frau Bornemann seiner Schwiegermutter
übergeben, damit sie es dem Gericht als Beweismittel einreiche.

    B.- Am 3. April 1975 sprach der Gerichtspräsident 1 von Interlaken
Frau Wolf von der Anschuldigung der Widerhandlung gegen das Bundesgesetz
über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer frei, verurteilte sie
dagegen wegen Urkundenfälschung zu einem Monat Gefängnis mit bedingtem
Strafvollzug. Grau wurde wegen Anstiftung zur Urkundenfälschung, Führens
eines Personenwagens ohne gültigen schweizerischen Führerausweis
und Widerhandlung gegen das ANAG zu einer bedingt aufgeschobenen
Gefängnisstrafe von zwei Monaten und zu einer Busse von Fr. 100.--
verurteilt.

    Gegen dieses Urteil erhoben beide Verurteilten Berufung, die Sich
auf die Schuldsprüche wegen Urkundenfälschung und Anstiftung dazu
beschränkte. Das Obergericht des Kantons Bern wies am 9. September
1975 beide Berufungen ab. Es erklärte Grau ausserdem des Versuches der
Begünstigung schuldig, nahm aber mit Rücksicht auf die nahe Beziehung zur
Begünstigten von einer Bestrafung Umgang und bestätigte die erstinstanzlich
ausgefällten Strafen.

    C.- Beide Verurteilten führen in getrennten Eingaben
Nichtigkeitsbeschwerde. Frau Wolf ersucht um Aufhebung des
obergerichtlichen Urteils und Rückweisung der Sache zu ihrer
Freisprechung. Grau beantragt Aufhebung des angefochtenen Urteils in
bezug auf die Schuldsprüche der versuchten Begünstigung und der Anstiftung
zur Urkundenfälschung.

    Der Generalprokurator des Kantons Bern stellt das Begehren um Abweisung
der Beschwerden.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Begünstigung im Sinne des Art. 305 StGB setzt voraus, dass
der Täter jemanden der Strafverfolgung oder dem Vollzug einer Strafe
oder Massnahme entzieht. Aus dem Wortlaut der Bestimmung ergibt sich,
dass der Täter einen andern als sich selbst begünstigen muss. Lehre und
Rechtsprechung nehmen auch einhellig an, dass die Selbstbegünstigung,
besondere Fälle der Nebenstrafgesetzgebung ausgenommen, straflos sei,
sofern die Begünstigungshandlung nicht einen andern Straftatbestand erfüllt
(BGE 72 IV 164, 73 IV 239, 74 IV 56, 96 IV 168; SCHWANDER, S. 504 Ziff. 1b,
STRATENWERTH, II, S. 623, LOGOZ, II, N 3c zu Art 305 StGB).

    a) Der Beschwerdeführer Grau macht geltend, er habe ausser
seiner Schwiegermutter auch sich selbst begünstigen wollen und dürfe
infolgedessen nicht nach Art. 305 StGB schuldig erklärt werden. Trifft der
behauptete Sachverhalt zu, ist der Rechtsauffassung des Beschwerdeführers
beizupflichten. Denn wenn die Selbstbegünstigung straflos ist, muss der
gleiche Grundsatz auch Anwendung finden, wenn die Begünstigungshandlung
zugleich auch einen Dritten begünstigt. Wollte man die Fremdbegünstigung,
die notwendig mit einer persönlichen Selbstbegünstigung konkurriert,
generell bestrafen, würde der Grundsatz, wonach ein Beschuldigter sich
Straflos der Strafverfolgung entziehen darf, wieder verneint. Müsste aber
zwischen den beiden Arten der Begünstigung unterschieden werden, wäre
es schwierig oder unmöglich, zuverlässig festzustellen, ob der Wille des
Täters vorwiegend auf die Selbstbegünstigung oder die Fremdbegünstigung
gerichtet war, um davon abhängig zu machen, ob die Fremdbegünstigung als
untergeordnete Nebenfolge in der Selbstbegünstigung aufgehe oder aber
als vorwiegend angestrebte Tat für sich allein bestraft werden solle. Es
ist daher gerechtfertigt, auch die Fremdbegünstigung grundsätzlich
immer dann straflos zu lassen, wenn der Täter zugleich auch sich
selbst begünstigen wollte, unabhängig davon, ob die eigene oder fremde
Begünstigung das Hauptmotiv der Tat war. Im gleichen Sinne hat sich der
Kassationshof bereits am 2. Oktober 1975 (BGE 101 IV 315) ausgesprochen.
Auf demselben Standpunkt steht auch die Literatur (WALDER, Die Vernehmung
des Beschuldigten, S. 94/95, anscheinend auch STRATENWERTH, II, S. 623
lit. c; Leipziger Kommentar, 9. Aufl., II, N 31 zu § 257; SCHÖNKE-SCHRÖDER,
13. Aufl., N 41 zu § 257; MAURACH, Deutsches Strafrecht, 5. Aufl., BT
S. 732 und die in dieser Literatur angeführte deutsche Rechtsprechung).

    b) Dem angefochtenen Urteil ist indessen nicht eindeutig zu
entnehmen, ob der Beschwerdeführer mit der Bestätigung ausschliesslich
seine Schwiegermutter oder zugleich auch sich selbst habe begünstigen
wollen. Das Obergericht erklärt einerseits, dass der Einwand des
Beschwerdeführers, er habe sich und seiner Familie den Vorwurf
fremdenpolizeilicher Widerhandlungen ersparen wollen, also lediglich
eine straflose Selbstbegünstigung begangen, nicht gehört werden könne,
da er zugegebenermassen Frau Wolf nicht innerhalb der vorgeschriebenen
Monatsfrist angemeldet habe. Darin liegt eher eine Verneinung des
Willens zur Selbstbegünstigung. Anderseits wird im Widerspruch dazu in
den Erwägungen über die Strafzumessung ausgeführt, es dürfe immerhin zur
Entlastung des Beschwerdeführers angenommen werden, er habe sich selbst
und seiner Schwiegermutter zum Recht verhelfen wollen. Die Vorinstanz
hat sich daher klar dazu zu äussern, ob der Wille des Beschwerdeführers
darauf gerichtet war, einzig seine Schwiegermutter oder aber auch sich
selbst einer Bestrafung zu entziehen.

    Es steht fest, dass der Beschwerdeführer Art. 2 Abs. 2 ANAG schon
verletzte, als er den Aufenthalt seiner Schwiegermutter nach Ablauf
eines Monats nicht gemeldet hatte. Objektiv betrachtet konnte ihn daher
die Bestätigung nicht mehr entlasten, mit der bewiesen werden wollte,
dass Frau Wolf sich keine drei vollen Monate in der Schweiz aufgehalten
habe (Art. 2 Abs. 1 ANAG). Die Vorinstanz wird jedoch abzuklären haben,
ob der Beschwerdeführer nicht, wie er behauptet hat, in einem Irrtum
befangen war, indem er glaubte, mit jenem Schriftstück auch sich selber
vor einer Verurteilung wegen Übertretung des ANAG schützen zu können, in
der Annahme, die Meldefrist daure für ihn wie für die Schwiegermutter drei
Monate. Wäre dem so, müsste von dem Sachverhalt ausgegangen werden, den
sich der Beschwerdeführer vorgestellt hat (Art. 19 Abs. 1 StGB, vgl. BGE 82
IV 202). Der Wille zur Selbstbegünstigung ist daher nicht ausgeschlossen.

Erwägung 2

    2.- Anita Wolf und Grau bestreiten, sich des Gebrauchs einer falschen
Urkunde im Sinne des Art. 251 Ziff. 1. Abs. 3 StGB beziehungsweise
der Anstiftung dazu schuldig gemacht zu haben, im wesentlichen
mit der Begründung, dass das von Frau Bornemann unterzeichnete
Bestätigungsschreiben keine Urkunde gewesen sei.

    a) Es ist unbestritten, dass die Bestätigung dazu bestimmt war,
eine Tatsache von rechtlicher Bedeutung zu beweisen. Denn sie wurde in
der Absicht erstellt, den Vorwurf der Widerhandlung gegen Art. 2 Abs. 1
ANAG durch den Nachweis zu widerlegen, dass Frau Wolf vor Ablauf der
Dreimonatsfrist wieder nach Deutschland verreist sei. Die Vorinstanzen
haben allerdings auf Grund der spätern Aussagen des Zeugen Tessmer
angenommen, Frau Wolf habe zur fraglichen Zeit tatsächlich in Frankfurt
geweilt. Soweit mit der Bestätigung der Aufenthalt in Deutschland bestätigt
werden wollte, war sie somit wahr. Im übrigen war ihr Inhalt jedoch falsch;
insoweit kann eine Falschbeurkundung vorliegen.

    Rechtserheblich im Sinne des Art. 110 Ziff. 5 StGB sind nämlich nicht
nur Tatsachen, die den Sachverhalt unmittelbar, z.B. Tatbestandsmerkmale,
betreffen, sondern auch Indizien, die den Schluss auf erhebliche
Tatsachen zulassen (BGE 73 IV 50 unten), und ebenso Hilfstatsachen,
zu denen Tatsachen gehören, die für die Beurteilung des Werts oder der
Beweiskraft eines Beweismittels, z.B. die Glaubwürdigkeit eines Zeugen, von
rechtlicher Bedeutung sind (BGE 75 IV 70 oben; SCHWANDER, Nr. 687 und 764;
WAIBLINGER, Das Strafverfahren des Kantons Bern, S. 366; LÖWE-ROSENBERG,
Die Strafprozessordnung, 21. Aufl., S. 976 N 28). Tatsachen dieser Art
liegen darin, dass Frau Bornemann in der Bestätigung an Eides Statt
erklärte, Frau Wolf sei an den erwähnten Tagen bei ihr in Marköbel zu
Besuch gewesen und ihr Mann und ihre Nachbarn könnten den mehrtägigen
Besuch ebenfalls bestätigen. Das Schriftstück zeichnet sich dadurch aus,
dass es darauf angelegt war, ihm die Wirkung besonderer Glaubwürdigkeit
beizumessen. Diesem Zweck diente schon die Verwendung des formellen
Ausdruckes "an Eides Statt", sodann die konkrete Angabe, dass Frau Wolf
während mehreren bestimmten Tagen bei Frau Bornemann in Marköbel zu Besuch
gewesen sei, ferner der diese Behauptung bekräftigende Hinweis, dass
eine Reihe weiterer Augenzeugen die Anwesenheit der Frau Wolf persönlich
festgestellt hätten und bezeugen könnten. Durch diese Hilfstatsachen sollte
also unmittelbar der Beweiswert der Bestätigung erhöht und mittelbar die
Tatsache des Aufenthalts in Deutschland belegt werden.

    b) Der Begriff der Urkunde erfordert in allen Fällen, dass die Schrift
zum Beweise geeignet sei. Die Beweiseignung kommt einer Schrift zu, wenn
ihr diese Eigenschaft durch Gesetz oder Verkehrsübung zuerkannt wird
(BGE 101 IV 279).

    Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem angefochtenen Urteil,
dass die bernische Zivilprozessordnung jede Aufzeichnung über Tatsachen
grundsätzlich als Urkunde, d.h. als taugliches Beweismittel, anerkennt
und lediglich ihre Beweiskraft von der richterlichen Würdigung abhängig
macht. Das gleiche gilt auch für das bernische Strafverfahren, wie das
Obergericht für den Kassationshof verbindlich feststellt. Ist demnach
davon auszugehen, dass im Kanton Bern privatschriftliche Aufzeichnungen
Dritter über eigene Wahrnehmungen als Beweismittel gelten, so kam auch
der Erklärung der Frau Bornemann kraft kantonalen Verfahrensrechts
Beweiseignung zu. Sie setzt nicht voraus, dass die Urkunde im konkreten
Fall beweiskräftig sei; die abstrakte Beweiseignung genügt (SCHWANDER,
Nr. 688a). Diese entfällt auch nicht, wenn der Richter es für nötig
erachtet, den Aussteller der Schrift noch als Zeuge einzuvernehmen.

    c) Auch die Absicht, sich einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen
(Art. 251 Ziff. 1 StGB), ist gegeben. Der erstrebte Vorteil lag in der
Verbesserung der Beweislage, indem mit der Bestätigung der Vorwurf der
Widerhandlung gegen das ANAG widerlegt werden wollte, um die drohende
Bestrafung abzuwenden. Unrechtmässig war dieser Vorteil, weil der
Aufenthalt in Deutschland, der nicht belegt werden konnte, durch ein
Beweismittel erbracht werden wollte, das sich auf unwahre Angaben stützte.
Der rechtswidrige Vorteil wird nicht deswegen zum rechtmässigen, weil das
angewendete Mittel die Verhinderung einer ungerechtfertigten Verurteilung
bezweckte. Gleich wie im Zivilprozess eine Partei nicht befugt ist, ein
ihr zustehendes Recht durch falsche Urkunden zu belegen (BGE 83 IV 81),
so wenig darf sich ein Beschuldigter mit unerlaubten Mitteln verteidigen,
insbesondere nicht Massnahmen ergreifen, die in einer strafbaren
Handlung bestehen. Der Umstand aber, dass das neue Bundesgesetz über
das Verwaltungsstrafrecht die privatschriftliche Falschbeurkundung in
seinem Geltungsbereich straflos lässt, verpflichtet den Richter nicht,
in einem Falle wie dem vorliegenden, wo allein die Bestimmungen des StGB
anzuwenden sind, Art. 251 StGB restriktiver auszulegen als bisher.

    Anita Wolf ist daher zu Recht wegen Gebrauchs einer falschen Urkunde
und Grau wegen Anstiftung dazu verurteilt worden.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    1. Die Nichtigkeitsbeschwerde des Beschwerdeführers Grau wird teilweise
gutgeheissen, das Urteil der II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons
Bern vom 9. September 1975 aufgehoben und die Sache im Sinne der Erwägungen
zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

    2. Die Nichtigkeitsbeschwerde der Beschwerdeführerin Wolf wird
abgewiesen.