Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IV 225



102 IV 225

48. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 17. Dezember 1976 i.S. X.
und Y. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft Regeste

    1. Art. 139 Ziff. 2 Abs. 5 StGB. Verhältnis von Abs. 5 (voraussehbare
Todesfolge) zu den Qualifikationsmerkmalen der Abs. 2-4 (E. 2).

    2. Art. 11 StGB. Nicht jede neurotische Fehlentwicklung
(Verunsicherung, starke Minderwertigkeitsgefühle, Entschlussunfähigkeit)
genügt, um die Zurechnungsfähigkeit herabzusetzen. Ermessen des Richters
(E. 7).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Fragen kann sich, ob in Fällen, wo der verübte Raub neben der
voraussehbaren Todesfolge bereits andere Qualifikationsmerkmale gemäss Art.
139 Ziff. 2 StGB aufweist und demzufolge überhaupt kein Unterschied im
Strafminimum besteht, nicht vom normalen Fahrlässigkeitsbegriff auszugehen
sei. Das ist zu verneinen. Entscheidend sind nach der Rechtsprechung
die Strafminima des einfachen und des durch die voraussehbare Todesfolge
qualifizierten Tatbestandes. Art. 139 Ziff. 2 Abs. 5 StGB umschreibt zudem
keine qualifiziertere Art eines gegenüber dem einfachen Raub bereits
qualifizierten Straftatbestandes, sondern einen unter verschiedenen,
durch jeweils besondere Merkmale ausgezeichneten Raub, der hinsichtlich
der Rechtsfolge insofern abweichend von den übrigen behandelt wird, als
nicht nur auf Zuchthaus von 5-20 Jahren, sondern auch auf lebenslängliches
Zuchthaus erkannt werden kann. Für die Qualifikationsmerkmale des Art. 139
Ziff. 2 Abs. 1-4 StGB hat die Rechtsprechung bereits erkannt, "doppelt
ausgezeichnet in dem Sinne, dass der aus dem einen Grunde verschärfte
Strafrahmen aus einem andern Grunde noch weiter verschärft würde", könne
der Raub nicht sein (BGE 73 IV 19).

Erwägung 7

    7.- a) Y. macht geltend, die Vorinstanz habe zu Unrecht eine
Verminderung der Zurechnungsfähigkeit in leichtem Grade, wie sie das über
ihn erstattete psychiatrische Gutachten vorsehe, verneint.

    b) Gemäss Art. 11 StGB kann der Richter die Strafe nach freiem
Ermessen mildern (Art. 66 StGB), wenn der Täter zur Zeit der Tat in seiner
geistigen Gesundheit oder in seinem Bewusstsein beeinträchtigt oder geistig
mangelhaft entwickelt war, so dass die Fähigkeit, das Unrecht seiner Tat
einzusehen oder gemäss seiner Einsicht in das Unrecht der Tat zu handeln,
herabgesetzt war.

    Zur Annahme verminderter Zurechnungsfähigkeit genügt nicht jede
geringfügige Herabsetzung der Fähigkeit, sich zu beherrschen (BGE 73 IV
210). Der Täter muss vielmehr, zumal der Begriff des normalen Menschen
nicht eng zu fassen ist (BINDER, SJZ 47, S. 101 ff.; BGE 73 IV 210, 78 IV
212, 81 IV 8), in hohem Masse in den Bereich des Abnormen fallen, seine
Geistesverfassung nach Art und Grad stark vom Durchschnitt nicht bloss
der Rechts-, sondern auch der Verbrechensgenossen abweichen (BGE 98 IV
154/55, 100 IV 130). Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist weitgehend
Ermessensfrage (BGE 73 IV 211). Der Sachrichter ist bei seinem Entscheid
nicht an die Schlussfolgerungen eines von ihm eingeholten psychiatrischen
Gutachtens gebunden. Er kann dieses vielmehr in tatsächlicher Hinsicht
frei auf seine Beweiskraft hin würdigen, und es steht ferner ihm,
nicht dem Sachverständigen zu, den von ihm festgestellten Sachverhalt
als Verminderung der Zurechnungsfähigkeit im Sinne von Art. 11 StGB
zu werten oder zu erklären, er erfülle die gesetzlichen Merkmale dieses
Rechtsbegriffes nicht (BGE 75 IV 148 E. 1; 81 IV 8 E. 1; 96 IV 98). Weicht
er in Fachfragen von der Auffassung des Experten ab, so hat er hiefür
allerdings triftige Gründe anzuführen (BGE 101 IV 129).

    Der Kassationshof hat auf Nichtigkeitsbeschwerde hin einzig
zu prüfen, ob die Vorinstanz Bundesrecht zutreffend angewandt habe,
insbesondere ob der von der Vorinstanz für ihn verbindlich festgestellte
biologisch-psychologische Zustand, in dem der Täter die Delikte beging
(Art. 277bis Abs. 1 BStP), die rechtlichen Merkmale der verminderten
Zurechnungsfähigkeit im Sinne von Art. 11 StGB aufweist oder nicht (BGE
81 IV 8).

    c) Nach dem von der Vorinstanz bei der psychiatrischen
Universitätsklinik Bern eingeholten Gutachten hat Y. eine neurotische
Fehlentwicklung durchgemacht, bei der er seine ursprünglich gute
Intelligenzlage verkümmern liess und heute noch eine Intelligenzleistung
von 90-95 IQ-Punkten aufweist. Die neurotische Reifungshemmung äussert
sich in schwerer Verunsicherung, starken Minderwertigkeitsgefühlen,
grosser Ambivalenz, woraus sich wiederum eine grosse Entschlussunfähigkeit
ergibt. Dieser Mechanismus führt nach Auffassung des Sachverständigen zu
seelischem Druck, aus dem sich unüberlegte Handlungen ergeben könnten,
besonders wenn zum Beispiel durch Alkohol die Hemmschranken weggefallen
seien. Y. lehne sich in seiner Unsicherheit gerne an andere an, wobei
er diese oft überschätze, sich selbst aber unterschätze. Die Fähigkeit,
gemäss der vorhandenen Einsicht in das Unrecht der Tat zu handeln, sei
in leichtem Grade herabgesetzt gewesen.

    d) Die Vorinstanz geht, ohne das zwar ausdrücklich festzuhalten,
offenbar vom biologisch-psychologischen Zustand des Y. aus, wie
ihn das Gutachten beschreibt. Sie macht jedenfalls diesbezüglich
keinerlei Einschränkungen. Eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit
hat sie, ausgehend von einem rechtlich zutreffenden Begriff der
Zurechnungsfähigkeit, deshalb verneint, weil die bei Y. festgestellte
neurotische Fehlentwicklung nicht als schwerwiegender erscheine als der in
BGE 78 IV 211 ff. umschriebene Mangel der Persönlichkeitsentwicklung. Sie
hat das ihr bei dieser Wertung zustehende Ermessen nicht
überschritten. Zwar spricht - wie bereits dargetan - das Gutachten
davon, die neurotische Reifungshemmung des mit Sicherheit nicht
schwachsinnigen Y. äussere sich in schwerer Verunsicherung, starken
Minderwertigkeitsgefühlen, grosser Ambivalenz, woraus wieder eine
grosse Entschlussunfähigkeit resultiere. Den seelischen Druck, zu dem
dieser Mechanismus führe, charakterisiert das Gutachten indessen nicht
näher, bezeichnet ihn jedenfalls nicht als einen solchen schwerwiegender
Art. Abgesehen davon, dass unüberlegtes Handeln an sich eine Verminderung
der Zurechnungsfähigkeit nicht indiziert, hält das Gutachten lediglich
fest, aus dem geschilderten seelischen Druck könnten sich unüberlegte
Handlungen ergeben, besonders wenn die Hemmungsschranken, beispielsweise
durch Alkoholkonsum, wegfielen. Dass und inwiefern allenfalls mit bezug
auf den in Frage stehenden Raub gerade eine solche Wirkung eingetreten
sei, legt das Gutachten indessen nicht dar. Die Alkoholisierung des
Y. war nach den Feststellungen des Strafgerichtes, die unwidersprochen
blieben, derart geringfügig, dass von einem Wegfall der Hemmschranken
ohnehin nicht die Rede sein kann. Unter diesen Umständen durfte die
Vorinstanz ohne Ermessensüberschreitung annehmen, Y. falle selbst nach
der Persönlichkeitsbeschreibung im Gutachten nicht in derart hohem
Masse in den Bereich des Abnormen, dass sich daraus eine Verminderung
der Zurechnungsfähigkeit, die der Gutachter selber nur als eine solche
in leichtem Masse bezeichnet, ergebe.