Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IV 103



102 IV 103

26. Urteil des Kassationshofes vom 9. April 1976 i.S. Kaufmann gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden. Regeste

    Art. 277bis BStP, Art. 303 Ziff. 1 StGB.

    1. Ob der Täter wider besseres Wissen gehandelt habe, ist Tatfrage
(Erw. 1).

    2. Überprüfungsbefugnis des Kassationshofes. Sie erstreckt sich
grundsätzlich auch auf Rechtsfragen, die weder im kantonalen Verfahren
noch in der Nichtigkeitsbeschwerde aufgeworfen worden sind (Erw. 2).

    3. Wer während eines bereits im Gange befindlichen Strafverfahrens
an der falschen Anschuldigung festhält, macht sich dadurch nicht nach
Art. 303 StGB strafbar (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- 1.- Im Herbst 1971 sprach Frau Marie Kaufmann zweimal bei der
Sozialberatungsstelle des Kantons Nidwalden vor und beschuldigte Frau
Yvonne Hauser der Misshandlung ihres Kindes René Hauser, geb. 1968. Auch
äusserte sie die Vermutung, es könnte beim Tod des Knaben Roger Hauser
nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Ferner gab sie vor, dass eines
der sechs Kinder der Frau Hauser aus erster Ehe fast blind sei und dies
von Schlägen der Mutter herrühre. Als die Vormundschaftsbehörde von
Stans daraufhin eine Untersuchung einleitete, bestätigte Frau Kaufmann
im wesentlichen ihre früheren Aussagen und erklärte, sie habe wiederholt
gehört, wie Frau Hauser ihr Kind René angeschrien, ihm mit Schlägen
gedroht, es tatsächlich geschlagen und im Bett festgeschnallt habe. Sie
verlangte schliesslich, dass Frau Hauser "vor eine Behörde müsse" und das
Kind von einem Kinderarzt untersucht und unter Kontrolle gehalten werde.

    René Hauser wurde daraufhin für rund 2 Wochen ins Kinderspital Luzern
eingewiesen und anschliessend für 2 Monate in einer Kinderheilstätte
untergebracht. Die beiden Ärzte, die im Kantonsspital das Kind untersucht
hatten, berichteten am 11. Dezember 1971, sie könnten anhand der erhobenen
klinischen und radiologischen Befunde ein Misshandlungssyndrom bei René
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschliessen; auch die
psychiatrische Untersuchung habe keine Anhaltspunkte ergeben, die für
eine milieubedingte geistige Retardierung sprechen könnten.

    2.- Am 14. Dezember 1971 erhob Frau Hauser gegen Frau Kaufmann
Strafklage wegen falscher Anschuldigung, eventuell übler Nachrede und
Verleumdung.

    Obschon Frau Kaufmann die ärztlichen Untersuchungsergebnisse zur
Kenntnis gebracht worden waren, hielt sie in ihrer Einvernahme als
Angeschuldigte vom 5. Januar 1972 an ihren früheren Behauptungen fest.

    B.- Aus diesem Grund sprach das Strafgericht Nidwalden am 20. Juli 1973
Frau Kaufmann der falschen Anschuldigung (Art. 303 Ziff. 1 Abs. 1 StGB)
sowie der Verleumdung schuldig und verurteilte sie zu Fr. 150.-- Busse.

    Auf Rekurs der Frau Kaufmann erklärte das Kantonsgericht des
Kantons Nidwalden am 19. November 1975 die Ehrverletzung für verjährt,
bestätigte aber im übrigen den vorinstanzlichen Entscheid im Schuld-
wie im Strafpunkt.

    C.- Frau Kaufmann führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
das Urteil des Kantonsgerichtes sei in bezug auf die Verurteilung wegen
falscher Anschuldigung aufzuheben und die Sache zur Freisprechung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden beantragt Abweisung
der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das Kantonsgericht billigte der Beschwerdeführerin in bezug auf
den Tatbestand der falschen Anschuldigung zu, sie habe im Zeitpunkt ihrer
Strafanzeige aus redlichen und achtenswerten Beweggründen gehandelt.
Dagegen habe sie die Beschuldigung der Kindsmisshandlung nachträglich
wider besseres Wissen erhoben, als sie trotz dem Ergebnis der ärztlichen
Untersuchung sich auf ihre früheren Äusserungen versteift und an ihrer
unzutreffenden Vermutung festgehalten habe.

    Demgegenüber bestreitet die Beschwerdeführerin, die Beschuldigung
wider besseres Wissen aufrechterhalten zu haben. Das ärztliche Gutachten
habe die Verdachtslage nicht völlig entkräftet, so dass die Möglichkeit
einer Kindsmisshandlung fortbestanden habe. Unter diesen Umständen habe
der Verdacht in guten Treuen aufrechterhalten werden dürfen.

    Dieser Einwand scheitert an den tatsächlichen Feststellungen
der Vorinstanz. Sie bezeichnete den Bericht der Ärzte, die keine
Anhaltspunkte für eine Kindsmisshandlung fanden und eine solche mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschlossen, als eindeutig. Sie
erachtete damit den Beweis für die Unhaltbarkeit der Anschuldigung der
Beschwerdeführerin als einwandfrei erbracht. Ihre weitere Feststellung,
die Beschwerdeführerin habe nach Kenntnisnahme des Gutachtens wider
besseres Wissen am Vorwurf der Kindsmisshandlung festgehalten, kann nur
so verstanden werden, dass die Vorinstanz davon ausgegangen ist, auch die
Beschwerdeführerin habe nach dem Untersuchungsergebnis die Unrichtigkeit
ihres Vorwurfes erkannt und somit gewusst, dass ihr Festhalten am Verdacht
der Wirklichkeit widersprach. Diese tatsächlichen Annahmen binden den
Kassationshof und können mit der Nichtigkeitsbeschwerde nicht bestritten
werden. Die Beschwerde ist somit in diesem Punkt unbegründet.

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführerin, welche die Anzeige wegen Kindsmisshandlung
gutgläubig erstattet hatte, ist wegen falscher Anschuldigung verurteilt
worden, weil sie nach Eröffnung des Untersuchungsergebnisses wider besseres
Wissen an der Beschuldigung festgehalten hat. Es fragt sich, ob auch bei
diesem Sachverhalt noch eine falsche Anschuldigung im Sinne des Art. 303
Ziff. 1 Abs. 1 StGB vorliege. Da diese Frage weder im kantonalen noch
im Verfahren vor Bundesgericht aufgeworfen wurde, ist vorerst zu prüfen,
ob sie vom Kassationshof von Amtes wegen behandelt werden kann.

    a) Grundsätzlich überprüft der Kassationshof nach der bisherigen
Praxis alle Fragen des eidgenössischen Rechts, die sich auf Grund des
verbindlich festgestellten Sachverhalts und im Rahmen der Anträge des
Beschwerdeführers stellen (Art. 277bis Abs. 1 und 2 BStP), sofern es
sich beim angefochtenen Entscheid um ein letztinstanzliches Urteil gemäss
Art. 268 BStP handelt. Als nicht letztinstanzlich gilt ein Urteil auch in
bezug auf Rechtsfragen, die nach kantonalem Prozessrecht von der letzten
kantonalen Instanz mangels Geltendmachung durch den Beschwerdeführer
nicht zu prüfen waren und deshalb offen geblieben sind. In solchen Fällen
kann sich der Kassationshof mit der nicht behandelten Rechtsfrage nicht
mehr befassen (BGE 87 IV 102). Von dieser Einschränkung abgesehen, ist
aber das Bundesgericht in der rechtlichen Würdigung frei, auch wenn die
Rüge einer Rechtsverletzung weder im kantonalen Verfahren noch mit der
eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde erhoben wurde. Soweit die in
BGE 87 IV 102 dargelegte Rechtsprechung in neueren Entscheidungen weiter
eingeschränkt worden ist (z.B. BGE 95 IV 103 Erw. 3, 98 IV 49 Erw. 7),
kann daran nicht festgehalten werden.

    b) Im Kanton Nidwalden ist das Kantonsgericht nach Gesetz und Praxis
weder verpflichtet noch ermächtigt, im Rekursverfahren nur diejenigen
rechtlichen Rügen zu prüfen, die vor ihm erhoben werden (vgl. § 40
StPO). Es steht deshalb nichts im Wege, dass die eingangs erwähnte
Rechtsfrage vom Kassationshof von sich aus entschieden wird.

Erwägung 3

    3.- Die falsche Anschuldigung setzt sowohl in Abs. 1 wie Abs.
2 des Art. 303 Ziff. 1 StGB voraus, dass der Täter in der Absicht
handelt, durch eine Strafanzeige oder arglistige Veranstaltungen eine
Strafverfolgung gegen einen Nichtschuldigen herbeizuführen (en vue de
faire ouvrir... une poursuite pénale, per provocare... un procedimento
penale). Herbeiführen ist gleichbedeutend mit eröffnen lassen. Eine
bereits eingeleitete Verfolgung bloss fortdauern zu lassen, fällt nach
dem Wortlaut des Gesetzes nicht darunter.

    Der gleiche Sinn ergibt sich auch aus der Entstehungsgeschichte der
Bestimmung. In der 2. Expertenkommission, die sich mit dem Vorentwurf
von 1908 zu befassen hatte, wurde unmissverständlich betont, dass die
falsche Anschuldigung auf die Einleitung eines Strafverfahrens gerichtet
sei und dass beiden Tatbestandsformen die Absicht des Täters gemeinsam sei,
gegen einen Nichtschuldigen ein Strafverfahren herbeizuführen. Umstritten
war vorerst nur, ob im Falle der Anzeige die dahingehende Absicht genüge
oder ob im zweiten Fall die tatsächliche Eröffnung einer Strafverfolgung
erforderlich sei (Prot. 2. ExpKomm V 224-235, Erläuterungen Zürcher
S. 384). In der weitern Beratung wurde ein Antrag, auch beim ersten
Tatbestand die Vollendung des Delikts erst mit der Eröffnung der
Strafverfolgung eintreten zu lassen, abgelehnt, gleichzeitig aber angeregt,
den Zeitpunkt der Vollendung bei beiden Tatbestandsformen gleich zu regeln
(Prot. 2. ExpKomm VI 109 f.). Das geschah in der Weise, dass beim zweiten
Tatbestand auf die Eröffnung eines Verfahrens verzichtet und für diesen
wie den ersten Tatbestand die Absicht, eine Strafverfolgung herbeizuführen,
als ausreichend erachtet wurde (Art. 267 der Fassung von 1915). Dabei ist
es geblieben, und ebenso wurde an der von Anfang an vertretenen Auffassung
festgehalten, wonach der Täter durch sein Verhalten die Einleitung einer
Strafverfolgung müsse bewirken wollen (Prot. Komm NR vom 8. September
1926 S. 28).

    Der klare und dem Willen des Gesetzgebers entsprechende Gesetzestext
erfordert somit die Absicht des Täters, gegen den Beschuldigten die
Eröffnung eines Strafverfahrens zu veranlassen; die Absicht, eine bereits
laufende Strafuntersuchung bloss fortdauern zu lassen, genügt also nicht
(ebenso SCHULTZ, ZStR 1958, S. 235). Anders zu entscheiden, verstiesse
gegen Art. 1 StGB (vgl. BGE 91 IV 196 unten, 96 IV 85). Die durch das
Festhalten an einer falschen Anschuldigung gegebenenfalls verletzte
Ehre des zu Unrecht Beschuldigten kann über Art. 173 ff. StGB geschützt
werden. Zudem kann die Bekräftigung einer falschen Anschuldigung während
eines Verfahrens unter Umständen als falsches Zeugnis (Art. 307 StGB)
strafbar sein. Vorzubehalten ist dagegen der Fall, in dem der Täter eine
bereits eingestellte Strafuntersuchung durch neue Vorbringen wider besseres
Wissen wieder aufnehmen lassen will.

    Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin die falsche
Anschuldigung erst während der schon im Gang befindlichen Untersuchung
wider besseres Wissen bekräftigt. Sie ist deshalb zu Unrecht gemäss
Art. 303 Ziff. 1 Abs. 1 StGB verurteilt worden.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird, soweit auf sie eingetreten werden
kann, dahin gutgeheissen, dass das Urteil des Kantonsgerichts des Kantons
Nidwalden vom 19. November 1975 aufgehoben und die Sache zur Freisprechung
der Beschwerdeführerin an die Vorinstanz zurückgewiesen wird.