Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IV 1



102 IV 1

1. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 30. Januar 1976 i.S. X.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt. Regeste

    Art. 33, 186 StGB.

    1. Das rechtswidrige Verweilen in einem geschützten Raum i.S. von
Art. 186 StGB stellt kein bloss passives Verhalten, sondern einen Angriff
auf das notwehrfähige Rechtsgut des Hausrechts dar (E. 2).

    2. Die Abgabe eines Warnschusses durch den Berechtigten in Richtung
des Eindringlings ist eine unverhältnismässige Abwehr des Angriffs auf
das Hausrecht (E. 3a).

    3. Hat der Berechtigte die Grenzen der Notwehr infolge Aufregung
überschritten, kann er nicht Straflosigkeit i.S. von Art. 33 Abs. 2 Satz 2
beanspruchen, wenn die Erregung durch andere Umstände als durch das blosse
rechtswidrige Verweilen des andern im geschützten Raum hervorgerufen wurde
(E. 3b).

Sachverhalt

    A.- Am 5. Oktober 1973, kurz nach 09.00 Uhr, fuhr X. mit einem
Personenwagen in Basel vom Voltaplatz durch die Elsässerstrasse
stadtauswärts Richtung Zollamt "Lysbüchel", in der Absicht, in der
von ihm geführten Wechselstube an der Elsässerstrasse 252 die Arbeit
aufzunehmen. Im Streckenabschnitt zwischen dem Voltaplatz und der
Kreuzung Elsässerstrasse/Hüningerstrasse überholte er den Personenwagen
des in gleicher Richtung fahrenden A. und schwenkte, weil die die Kreuzung
Elsässerstrasse/Hüningerstrasse absichernde Lichtsignalanlage mittlerweile
auf Rot geschaltet hatte, in knappem Abstand vor dem Fahrzeug des A. wieder
in dessen Fahrspur ein. Um eine Kollision zu vermeiden, war dieser
gezwungen, seinen Wagen brüsk abzubremsen. X. fuhr daraufhin an seinen
Arbeitsort, wobei ihm A. im Bestreben folgte, den Automobilisten wegen
des riskanten und vorschriftswidrigen Überholmanövers zur Rede zu stellen.

    Wenige Minuten nach dem Vorfall auf der Elsässerstrasse betrat A. die
genannte Wechselstube und machte dem bereits hinter dem Schalterkorpus
sitzenden X. sogleich heftige Vorwürfe wegen seines Verhaltens im
Strassenverkehr. X. gab zu verstehen, dass ihm die Sache leid tue und
er den begangenen Fehler einsehe. A. nahm indessen diese Äusserungen
nicht zur Kenntnis und steigerte sich, X. stets wieder dessen unkorrekte
Fahrweise vorwerfend, in eine masslose Erregung hinein. Im Verlaufe der
nun beiderseits aussergewöhnlich lautstark geführten Auseinandersetzung
forderte X. den A. mehrfach auf, das Lokal zu verlassen, da er sich
nicht anschreien lasse. Als A. diesen Aufforderungen nicht nachkam
und zu toben fortfuhr, behändigte X. seinen auf einem Ablagefach unter
dem Schalterkorpus deponierten Revolver Marke Smith & Wesson, Kal. 38,
richtete die mit insgesamt 5 Patronen geladene Waffe entsichert auf die
rund 2 1/2 Meter von seinem Sitzplatz entfernte, gegenüberliegende Wand
und gab auf diese einen Warnschuss ab. Das abgefeuerte Geschoss drang,
ca. 80 cm vom Standort des A. entfernt, in die mit je einer Schicht Holz
und Gips versehene Backsteinwand ein und blieb dort stecken. Mit dieser
Schussabgabe erreichte X., dass A. nunmehr fluchtartig die Wechselstube
verliess.

    B.- Mit Urteil vom 20. Dezember 1974 sprach der Strafgerichtspräsident
Basel-Stadt X. der Nötigung, des unerlaubten Schiessens sowie des
vorschriftswidrigen Motorfahrens schuldig und verurteilte ihn zu 20 Tagen
Gefängnis, mit bedingtem Strafvollzug, unter Auferlegung einer Probezeit
von 2 Jahren, sowie zu einer Busse von Fr. 2'000.--.

    A. wurde wegen Hausfriedensbruchs zu einer Busse von Fr. 30.--
verurteilt.

    Auf Appellation des X. hat der Ausschuss des Appellationsgerichts
des Kantons Basel-Stadt am 22. August 1975 das erstinstanzliche Urteil
bestätigt.

    C.- X. führt eidg. Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt, das Urteil
des Appellationsgerichts sei aufzuheben und die Sache zur Freisprechung
von der Anklage der Nötigung und des unerlaubten Schiessens in Anwendung
von Art. 33 Abs. 1 StGB an die Vorinstanz zurückzuweisen; eventuell habe
das Appellationsgericht ihn in Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Satz 2 StGB
straflos zu erklären oder zumindest die Strafe gemäss Art. 33 Abs. 2 Satz
1 StGB zu mildern.

    D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt beantragt teilweise
Gutheissung der Beschwerde. X. sei der Nötigung und des unerlaubten
Schiessens, begangen im nichtentschuldbaren Notwehrexzess, schuldig
zu erklären.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 2

    2.- Die kantonalen Gerichte verneinen eine Notwehrlage.  Selbst wenn
das Hausrecht des Beschwerdeführers als notwehrfähiges Gut betrachtet
werde, könne Art. 33 StGB nicht zur Anwendung kommen, weil A. sich
bereits im Laden befand, als er durch Nichtbefolgung der Aufforderung des
Beschwerdeführers Hausfriedensbruch beging. Gegen seine nur passive Haltung
gebe es keine Notwehr. A. habe zwar gebrüllt, den Beschwerdeführer aber
nicht tätlich angegriffen oder anzugreifen gedroht. Bei dieser Sachlage
wäre nur der Rechtfertigungsgrund der Selbsthilfe denkbar, nicht aber
Notwehr, da diese einen Angriff voraussetze.

    a) Der Hausfriedensbruch im Sinne von Art. 186 StGB ist ein
persönliches Rechtsgut, das notwehrfähig ist. Die Frage, ob und inwieweit
die Notwehr i.S. von Art. 33 StGB auf persönliche Rechtsgüter beschränkt
ist (vgl. SCHULTZ, Allg. T., 2. Aufl., S. 171), kann daher offen bleiben.

    b) Die Handlung, gegen welche sich die Notwehr richtet, umschreibt
Art. 33 StGB mit "Angriff" (attaque; aggressione), ebenso wie das deutsche
Recht (der alte § 53, der neue § 32 StGB), während das italienische Recht
den etwas weitern Begriff "offesa" (Art. 52 CP) verwendet. Dem Angriff
steht die Notwehrhandlung gegenüber, welche im Text des Art. 33 StGB
mit "abwehren" (repousser; respingere) wiedergegeben wird, im Marginale
des französischen und italienischen Textes mit "défense" bzw. "difesa",
während im deutschen Text "Notwehr" an "Abwehr" erinnert.

    Daraus wird der Unterschied zwischen der Notwehr i.e.S. des Art. 33
StGB zur Selbsthilfe (Art. 52 Abs. 3 OR, auch Art. 57 OR, Art. 926 Abs. 2
ZGB) abgeleitet, der nach Auffassung von HAFTER und GERMANN darin besteht,
dass sich die Notwehr nur gegen ein Tun, nicht gegen ein Unterlassen,
ein bloss passives Verhalten richten kann (HAFTER, Allg. T. 2 S. 145 oben;
GERMANN, Das Verbrechen, Art. 33 N. 1/2, S. 215).

    Das Wort "Angriff" wird indessen bei Notwehr nicht eng
gefasst. Nach VON HIPPEL (Deutsches Strafrecht, Bd. 2 (1930), S. 204)
ist blosses Nichtstun, z.B. Nichterfüllung von Verbindlichkeiten,
kein Angriff. Dagegen stehe selbstverständlich hier wie sonst die
rechtswidrige Begehung durch Unterlassung, also das Kommissivdelikt (mag
es strafbar sein oder nicht, z.B. fahrlässige Freiheitsberaubung), der
aktiven Tätigkeit gleich. Denn sie bedeute genau denselben Eingriff in
fremdes Machtgebiet wie jene (im gleichen Sinne THORMANN/VON OVERBECK,
Art. 33 N. 5; LOGOZ, Allg. T., Art. 33 N. 2b, S. 133; SCHÖNKE/SCHRÖDER,
§ 53 N. 5). Nach JESCHECK (2. Aufl. 1972, § 32 II 1, S. 252) stellt auch
der Hausfriedensbruch durch unbefugtes Verweilen einen Angriff auf das
Hausrecht dar, dagegen sei die Unterlassung der Räumung einer Wohnung
nach Ablauf des Mietvertrages kein Angriff, weil der Mieter Besitzer der
Mietsache bleibe (RG 19, 298), doch komme hier Selbsthilfe in Betracht.

    Bedeutsam wird hier die Frage nach der Beendigung des Angriffs. Der
begonnene, schon in Verletzung übergegangene Angriff bleibt solange
gegenwärtig, als die Zufügung einer neuen oder die Vergrösserung der
bereits eingetretenen Verletzung durch das Verhalten des Angreifers
unmittelbar bevorsteht.

    Dieser Gesichtspunkt wird für die Dauerdelikte besonders hervorgehoben,
deren Natur darin besteht, dass das strafbare Verhalten durch die
Herbeiführung eines rechtswidrigen Zustandes nicht abgeschlossen (beendet)
ist, dass das strafbare Verhalten vielmehr anhält, solange der Täter diesen
Zustand aufrechterhält. Er endet erst mit der Aufhebung dieses Zustandes
(vgl. SCHÖNKE/SCHRÖDER, N. 45 ff. vor § 73; JESCHECK, aaO, § 66 II 3,
S. 541; SCHWANDER, Das schweiz. Strafgesetzbuch, 2. Aufl. Nr. 330b).

    In diesem Zusammenhang wird insbesondere auf den Straftatbestand des
Hausfriedensbruchs hingewiesen. Er gilt mit Recht als Dauerdelikt, das
solange anhält, bis der Täter die Wohnung verlassen hat (SCHÖNKE/SCHRÖDER;
§ 123, N. 2). Dasselbe trifft für die Begehungsform des Verweilens zu
(STRATENWERTH, Bes. T., Bd. I, § 5 V 5, S. 104; VON HIPPEL, aaO; JESCHECK,
aaO, § 33 II 1a, S. 252).

    Das Schwergewicht des Unrechts des Hausfriedensbruchs liegt nicht
in der Pflicht, den Raum zu verlassen, sondern im Unrecht des Verweilens
im Raum durch die unerwünschte Person. Dieses Verweilen stört in akuter
und andauernder Weise den Hausfrieden. Der Eindringling sieht und hört,
was im Raum vorgeht, er kann sich dort hin- und herbewegen, kann die
Anwesenden ansprechen. Diese sind allfälligen weitern Eingriffen und
Belästigungen durch den Eindringling ausgesetzt. Schon seine Anwesenheit
hemmt die freie Betätigung der Berechtigten. Diese können nicht mehr
ungehemmt ihre Konversation führen, ihrer gewohnten Beschäftigung,
Arbeit oder Ruhe nachgehen. Sie fühlen sich weniger geborgen und
sind oft verunsichert. Der Eingriff in das Wohnrecht ist daher kein
blosses Unterlassen. Der unerwünscht Anwesende stört die Atmosphäre im
befriedeten Raum. Seine blosse Anwesenheit strahlt aus und stellt einen
fortdauernden Angriff auf die freie Lebensentfaltung der Berechtigten dar,
ganz gleichgültig, ob der Täter den Raum schon rechtswidrig betreten hat
oder ob sein Verweilen erst nachträglich durch die Wegweisung rechtswidrig
geworden ist. Das gilt sowohl für die Wohnung im engern Sinne wie auch für
die Arbeitsstätte und die übrigen in Art. 186 StGB geschützten Räume. Die
Pflicht, den Raum auf Geheiss zu verlassen, ist lediglich die Folge davon,
dass der Täter den Hausfrieden solange stört, als er sich im befriedeten
Raum aufhält und ihm, um den Angriff auf das Hausrecht zu beenden, nichts
anderes übrig bleibt, als den geschützten Raum zu verlassen. Das ist aber
nur die Folge des gesetzlichen Verbotes, im Raum zu verweilen. Verbote
aber werden durch Begehung übertreten. Von einem rein passiven Verhalten,
das einen Angriff im Sinne von Art. 33 StGB ausschliessen würde, kann
daher beim "Verweilen" gemäss Art. 186 StGB nicht gesprochen werden.

    Es wäre auch unnatürlich Notwehr dann anzuerkennen, wenn jemand schon
rechtswidrig eingedrungen ist, sie aber zu verneinen, wenn jemand zwar
eingelassen wurde, den Raum aber nach später erfolgter Aufforderung,
wegzugehen, nicht verlässt. In beiden Fällen ist die Abwehr gleich
berechtigt, der Exzess möglicherweise gleich entschuldbar. Von der
Tatseite her betrachtet, besteht zwischen den beiden Varianten des
Hausfriedensbruchs in der Regel kein Unterschied. Auch der, welcher in
die Wohnung oder den Arbeitsraum eingelassen wird, greift de facto in die
Sphäre der Anwesenden ein. Der Unterschied zur ersten Variante besteht
lediglich darin, dass die Rechtswidrigkeit, infolge Änderung des Willens
des Berechtigten, bei der zweiten Variante später eintritt.

Erwägung 3

    3.- Befand sich der Beschwerdeführer somit in Notwehr, so stellt sich
die Frage, ob er den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise
abgewehrt (Art. 33 Abs. 1) oder die Grenzen der Notwehr überschritten hat
(Art. 33 Abs. 2), und ob er in diesem Fall in entschuldbarer Aufregung
oder Bestürzung handelte.

    a) Die Abwehrhandlung des Beschwerdeführers ging offensichtlich über
das Zulässige hinaus. In diesem Zusammenhang erhält der Hinweis der
kantonalen Gerichte Bedeutung, dass A. zwar das Hausrecht verletzte,
herumbrüllte und den Beschwerdeführer reizte, ihn aber weder bedrohte
noch angriff. Noch angemessen wäre die Abwehr gewesen, wenn der
Beschwerdeführer versucht hätte, A. mit Brachialgewalt auf die Strasse zu
stellen. Schon die Bedrohung mit einem geladenen und entsicherten Revolver
war unverhältnismässig, wurde dadurch doch eine akute Gefahr geschaffen,
zumal beide Antagonisten sehr erregt Waren. Vollends unzulässig war die
Abgabe eines scharfen Schreckschusses mit der jedem Schützen bekannten
Gefahr von Prellschüssen und deren möglichen Folgen.

    b) Nach Art. 33 Abs. 2 Satz 2 StGB bleibt straflos, wer einen
rechtswidrigen Angriff abwehrt, wenn er "die Grenzen der Notwehr in
entschuldbarer Aufregung oder Bestürzung über den Angriff" überschreitet
(si cet excès provient d'un état excusable d'excitation ou de saisissement
causé par l'attaque). Diese durch Aufregung oder Bestürzung bewirkte
Verminderung der Schuld, sowie der Umstand, dass der Verletzte selber
durch seinen rechtswidrigen Angriff die Tat provoziert hat, haben den
Gesetzgeber bewogen, in solchen Fällen von Strafe abzusehen.

    Straflos ist der Täter also nur, wenn der rechtswidrige Angriff es
war, welcher allein oder doch vorwiegend die Aufregung oder die Bestürzung
des Täters verursacht hat. Überdies müssen Art und Umstände des Angriffs
derart sein, dass sie die Aufregung oder die Bestürzung entschuldbar
erscheinen lassen. Entschuldbar müssen also, analog wie bei Totschlag
(Art. 113 StGB), Aufregung oder Bestürzung sein, nicht aber die deliktische
Reaktion des Angegriffenen.

    Über den Grad der Aufregung oder Bestürzung spricht sich das
Gesetz nicht näher aus. Es verlangt beispielsweise nicht eine "heftige"
Gemütsbewegung wie beim Totschlag. Doch kann es offensichtlich nicht Sinn
des Gesetzes sein, schon an jede geringfügige Erregung oder Bestürzung
Straflosigkeit zu knüpfen. Vielmehr muss der Richter von Fall zu Fall
ermessen, ob die Aufregung oder die Bestürzung hinreichend erheblich
war, um den Täter nicht mit Strafe zu belegen und ob Art und Umstände
des Angriffs diesen Grad der Erregung entschuldbar erscheinen lassen. Er
wird einen umso strengeren Massstab anlegen, d.h. einen umso höheren Grad
entschuldbarer Aufregung oder Bestürzung verlangen, je mehr die Reaktion
des Täters den Angreifer verletzt oder gefährdet. Insoweit schliesst
dieser Strafausschliessungsgrund trotz der absoluten Formulierung ein
gewisses Ermessen ein. Indessen verlangt er, wie schon gesagt, nicht,
dass die Reaktion des Abwehrenden schlechtweg schuldlos sein müsse. Sie
ist lediglich nicht strafwürdig.