Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IB 81



102 Ib 81

15. Urteil vom 7. Januar 1976 i.S. Scherrer und Bamert gegen Regierungsrat
des Kantons Zürich Regeste

    Verwaltungsgerichtsbeschwerde, Gegenstand. Begriff
der Verfügung (Art. 97 OG, Art. 5 VwVG). Unzulässigkeit der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Beschluss einer kantonalen
Regierung, einer "Aufsichtsbeschwerde", mit der die Verfügung eines
Departements beanstandet wird, keine Folge zu geben.

Sachverhalt

    A.- H. Geiges will auf einem Grundstück in Männedorf ein
Einfamilienhaus bauen. Der Standort der geplanten Baute liegt teilweise
innerhalb des Waldabstandes von 30 m, der in § 7 der Verordnung des
Regierungsrates des Kantons Zürich vom 29. November 1972 (kant. VMR)
zum BB vom 17. März 1972 über dringliche Massnahmen auf dem Gebiete
der Raumplanung (BMR) für den ganzen Kanton vorgeschrieben ist. Die
Baukommission Männedorf erteilte die von Geiges nachgesuchte Baubewilligung
mit dem Vorbehalt, dass vor Baubeginn eine Ausnahmebewilligung für
die Unterschreitung des Waldabstandes vorliegen müsse. Die kantonale
Baudirektion bewilligte die Unterschreitung gestützt auf Art. 4 BMR. Sie
erwog, der Waldabstand sei bereits durch Bauten in der Nachbarschaft des
Baugrundstücks unterschritten, so dass sein planerischer Zweck in dieser
Gegend nicht mehr erreicht werden könne.

    B. Scherrer und S. Bamert, Eigentümer überbauter Parzellen, die an
das Baugrundstück grenzen, erhoben gegen die Verfügung der Baudirektion
"Rekurs und Aufsichtsbeschwerde". Der Regierungsrat des Kantons Zürich
beschloss am 3. September 1975, auf den Rekurs nicht einzutreten und der
Aufsichtsbeschwerde keine Folge zu geben. Er nahm an, die Rekurrenten seien
zum Rekurs nicht legitimiert, und ein aufsichtsrechtliches Einschreiten
sei nicht geboten.

    Scherrer und Bamert führten entsprechend der vom Regierungsrat
erhaltenen Rechtsmittelbelehrung Beschwerde beim Verwaltungsgericht
des Kantons Zürich mit dem Antrag, dem Beschwerdegegner Geiges sei die
Bewilligung für die Unterschreitung des Waldabstandes in Aufhebung "des
Beschlusses" des Regierungsrates und der Verfügung der Baudirektion zu
verweigern. Sie erhoben indes keine Einwendungen gegen den Entscheid des
Regierungsrates, auf ihren Rekurs nicht einzutreten, sondern beanstandeten
nur, dass ihrer Aufsichtsbeschwerde keine Folge gegeben worden war.

    Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich beschloss am 4. Dezember
1975, auf die Beschwerde nicht einzutreten und sie gemäss Art. 107 Abs. 2
OG dem Bundesgericht zu überweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das Bundesgericht beurteilt nach Art. 97 Abs. 1 OG
Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne des Art. 5 VwVG,
die von einer der in Art. 98 OG erwähnten Vorinstanzen getroffen worden
sind und nicht unter eine der den Weg der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
ausschliessenden Bestimmungen der Art. 99-102 OG fallen. Als Verfügung
gilt nach Art. 97 Abs. 2 OG auch das unrechtmässige Verweigern oder
Verzögern einer Verfügung.

    Gemäss Art. 5 Abs. 1 VwVG gelten als Verfügungen Anordnungen der
Behörden im Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen
und zum Gegenstand haben: a) Begründung, Änderung oder Aufhebung von
Rechten oder Pflichten; b) Feststellung des Bestehens, Nichtbestehens
oder Umfanges von Rechten oder Pflichten; c) Abweisung von Begehren
auf Begründung, Änderung, Aufhebung oder Feststellung von Rechten oder
Pflichten, oder Nichteintreten auf solche Begehren. Aus dieser Umschreibung
ergibt sich, dass es sich um Akte handeln muss, durch die eine Behörde ein
individuelles und konkretes verwaltungsrechtliches Verhältnis in Anwendung
des öffentlichen Rechts des Bundes in verbindlicher Weise regelt (Botschaft
des Bundesrates vom 24. September 1965 über das Bundesverwaltungsverfahren,
BBl 1965 II 1362 ff.; GRISEL, Droit administratif suisse, S. 466 ff.; GYGI,
Verwaltungsrechtspflege und Verwaltungsverfahren im Bund, 2. Aufl., S. 95
ff.). Die Verbindlichkeit für die Verwaltung und die Betroffenen ist ein
Merkmal der "Anordnungen" ("mesures", "provvedimenti"), von denen in Art. 5
Abs. 1 VwVG die Rede ist. Weil dem so ist, können diese Anordnungen nach
der gesetzlichen Ordnung mit förmlicher Beschwerde angefochten werden,
falls sie nicht endgültig sind. Wären sie nicht verbindlich, so könnte
niemand ein genügendes Interesse an ihrer Anfechtung auf dem Beschwerdeweg
haben. Das Rechtsschutzinteresse ist ein Ausfluss der Verbindlichkeit
des in Frage stehenden Aktes (vgl. GYGI aaO S. 95 f.).

Erwägung 2

    2.- Mit der Bestimmung des § 7 kant. VMR über den Waldabstand sind nach
der Auffassung der kantonalen Verwaltung provisorische Schutzgebiete im
Sinne des BMR ausgeschieden worden. Im vorliegenden Fall hat die kantonale
Baudirektion gestützt auf Art. 4 BMR eine Ausnahmebewilligung für den
in ein solches Schutzgebiet übergreifenden Bau eines Einfamilienhauses
erteilt. Dieser Entscheid hat den Charakter einer Verfügung im Sinne
des Art. 5 Abs. 1 VwVG. Der Regierungsrat hat der Aufsichtsbeschwerde
Scherrers und Bamerts keine Folge gegeben, weil er gefunden hat, die
Verfügung der Baudirektion verletze weder klares Recht noch "zwingende"
öffentliche Interessen. Offenbar hat er die Frage, ob er unter diesen
Gesichtspunkten Anlass zu einem aufsichtsrechtlichen Einschreiten
habe, nach Massgabe des Art. 4 BMR und des § 7 kant. VMR geprüft.
Sein Beschluss, der Aufsichtsbeschwerde nicht Folge zu geben, beruht also
mindestens teilweise auf der Anwendung von Bundesverwaltungsrecht. Gegen
eine Verfügung, die eine letzte kantonale Instanz gestützt auf Art. 4 BMR
trifft, ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht zulässig
(Art. 97 Abs. 1, Art. 98 lit. g OG, Art. 8 BMR); sie wird in diesem
Fall durch keine Bestimmung ausgeschlossen. Der Regierungsrat des Kantons
Zürich ist als letzte kantonale Instanz für die Beurteilung von Begehren
um Erteilung von Ausnahmebewilligungen nach Art. 4 BMR zuständig. Sein
hier angefochtener Beschluss betrifft einen Einzelfall. Es fragt sich
indes, ob dieser Beschluss als Anordnung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 VwVG
zu betrachten sei; ist die Frage zu verneinen, so stellt er keine mit
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht anfechtbare Verfügung dar.

Erwägung 3

    3.- Die Aufsichtsbeschwerde steht im Gegensatz zur förmlichen
Beschwerde; sie ist eine blosse Anzeige. Für das Verwaltungsverfahren
im Bund bestimmt Art. 71 Abs. 2 VwVG ausdrücklich, dass der Anzeiger
nicht die Rechte einer Partei hat. Die gleiche Regel wird von den
kantonalen Behörden angewandt, selbst wenn entsprechende gesetzliche
Vorschriften fehlen (GRISEL, Pouvoir de surveillance et recours de
droit administratif, ZBl 74/1973, S. 54). Sie gilt insbesondere auch
im Kanton Zürich (Rechenschaftsbericht des Zürcher Verwaltungsgerichts
1961 Nr. 19). Da der Anzeiger nicht die Rechte einer Partei besitzt,
hat er keinen Anspruch darauf, dass die Aufsichtsbehörde sich mit der
ihr angezeigten Angelegenheit befasst, ihn anhört und ihm Bescheid gibt
(GIACOMETTI, Allgemeine Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts,
S. 474 f.; GRISEL, ZBl 74/1973, S. 54 und 57; IMBODEN, Schweizerische
Verwaltungsrechtsprechung, 3./4. Aufl., II Nr. 641 S. 708).

    Allerdings kann die Aufsichtsbehörde sich veranlasst sehen, in einer
bestimmten Angelegenheit, von der sie durch eine Anzeige oder sonstwie
Kenntnis erhalten hat, kraft ihres Aufsichtsrechtes einzuschreiten. Ihre
Intervention kann darin bestehen, dass sie einen Beschluss fasst, der den
Fall in einer für die Verwaltung und die Betroffenen verbindlichen Weise
ordnet, also die Merkmale einer Verfügung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 VwVG
trägt, wenn er sich auf öffentliches Recht des Bundes stützt. Solche von
der Aufsichtsbehörde nicht als Beschwerdeinstanz, sondern von Amtes wegen
erlassene Verfügungen können mit förmlicher Beschwerde, unter Umständen
mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht, angefochten werden,
sofern der Beschwerdeführer ein genügendes Interesse am Rechtsschutz hat
und die übrigen gesetzlichen Voraussetzungen der Beschwerdemöglichkeit
erfüllt sind (BBl 1965 II 1375; BGE 100 Ib 94 ff.; GYGI aaO S. 97). Zur
Beschwerde gegen eine Verfügung der Aufsichtsbehörde berechtigt kann
auch der Anzeiger sein. Seine Beschwerdebefugnis ergibt sich aber nicht
schon daraus, dass er eine Aufsichtsbeschwerde eingereicht hat; vielmehr
muss er wie jeder andere Beschwerdeführer das nach Gesetz erforderliche
individuelle Rechtsschutzinteresse besitzen (GRISEL, ZBl 74/1973, S. 58).

    Anders verhält es sich dagegen, wenn die Aufsichtsbehörde einer
Anzeige keine Folge gibt. Sie wird zwar in der Regel dem Anzeiger
von diesem Ausgang Kenntnis geben, doch ist sie dazu rechtlich nicht
verpflichtet. Ihr Beschluss, der Aufsichtsbeschwerde nicht Folge zu
geben, hat nicht Verfügungscharakter, gleichviel ob sie dem Anzeiger
Bescheid gibt oder nicht; er stellt keinesfalls einen Akt dar, durch den
ein Rechtsverhältnis für die Verwaltung und die Betroffenen verbindlich
geordnet wird mit der Folge, dass jemand ein ausreichendes Interesse an
der Anfechtung durch förmliche Beschwerde haben könnte. Auch der Anzeiger,
dem ja die Aufsichtsbeschwerde nicht die Rechte einer Partei verschafft,
kann sich gegenüber einem abschlägigen Bescheid der Aufsichtsbehörde
nicht auf ein Rechtsschutzinteresse berufen. Ein solcher Bescheid kann
demnach nicht eine beschwerdefähige Verfügung im Sinne des Art. 5 VwVG
sein (BBl 1965 II 1373; GRISEL, ZBl 74/1973, S. 57; GYGI aaO S. 97).
Art. 5 Abs. 2 VwVG, der besondere Arten von Verfügungen aufzählt, erwähnt
denn auch die Entscheide über die Aufsichtsbeschwerde nicht.

    Der Beschluss einer Aufsichtsbehörde, einer Anzeige keine
Folge zu geben, kann auch niemals Gegenstand einer Beschwerde wegen
Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung im Sinne des Art. 97 Abs. 2 OG
sein (GYGI aaO S. 97). In der Tat lässt sich nicht annehmen, dass durch
ihn eine Verfügung "unrechtmässig" verweigert oder verzögert wird, da die
Aufsichtsbeschwerde, wie gesagt, keinen Anspruch auf Erledigung verleiht.

Erwägung 4

    4.- Die Beschwerde Scherrers und Bamerts gegen den Beschluss des
Regierungsrates, ihrer Aufsichtsbeschwerde keine Folge zu geben, kann daher
vom Bundesgericht nicht als Verwaltungsgerichtsbeschwerde entgegengenommen
und beurteilt werden. Sie kann auch nicht als staatsrechtliche Beschwerde
behandelt werden; denn die Anzeiger sind mangels eines Anspruchs auf
einen Bescheid der Aufsichtsbehörde zu dieser Beschwerde nicht legitimiert
(BGE 90 I 230 f.).

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.