Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IB 224



102 Ib 224

36. Urteil vom 26. März 1976 i.S. Böhler gegen Verwaltungsrekurskommission
des Kantons St. Gallen Regeste

    BG über das Verwaltungsverfahren. Auslegung des Art. 1 Abs.  3: Art. 55
ist auf das Verfahren letzter kantonaler Instanzen nur soweit anwendbar,
als er den Entzug der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde betrifft. Die
Zwischenverfügung, mit der eine solche Instanz die Wiederherstellung dieser
Wirkung verweigert, gründet sich auf das kantonale Recht und unterliegt
daher der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht nicht.

Sachverhalt

    A.- Das Amt für Administrativmassnahmen nach SVG des Kantons St. Gallen
entzog der Frau Erika Böhler den Führerausweis auf unbestimmte Zeit;
gleichzeitig entzog es einem allfälligen Rekurs gegen diese Verfügung
die aufschiebende Wirkung. Frau Böhler focht die Verfügung bei der
Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen an und verlangte
die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung. Die Rekursinstanz
wies dieses Gesuch ab. Hiegegen erhebt Erika Böhler beim Bundesgericht
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Die kantonale Rekursinstanz und das Eidg.
Justiz- und Polizeidepartement schliessen auf Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 1 Abs. 3 VwVG finden auf das Verfahren letzter
kantonaler Instanzen, die gestützt auf öffentliches Recht des Bundes
nicht endgültig verfügen, nur einige wenige Bestimmungen dieses Gesetzes
Anwendung, nämlich lediglich die Art. 34 bis 38 und 61 Abs. 2 und 3
über die Eröffnung von Verfügungen sowie Art. 55 Abs. 2 und 4 über den
Entzug der aufschiebenden Wirkung. Der Wortlaut des Art. 1 Abs. 3 VwVG
ist klar: Das darin verwendete Wort "lediglich" macht deutlich, dass nur
die anschliessend erwähnten Bestimmungen des VwVG anwendbar sind. Daraus
erhellt, dass die kantonalen Behörden weder dem Art. 55 Abs. 1 VwVG,
wonach die Beschwerde aufschiebende Wirkung hat, noch dem Art. 55 Abs. 3
VwVG, welcher die Beschwerdeinstanz zur Wiederherstellung der von der
unteren Instanz entzogenen aufschiebenden Wirkung ermächtigt, unterstellt
sind. Denn diese Bestimmungen sind in Art. 1 Abs. 3 VwVG nicht genannt,
und die daselbst auf die Erwähnung von Art. 55 Abs. 2 und 4 folgenden Worte
"über den Entzug der aufschiebenden Wirkung" bestätigen unzweideutig, dass
auf das Verfahren letzter kantonaler Instanzen nicht auch die Bestimmungen
des VwVG, welche der Beschwerde grundsätzlich aufschiebende Wirkung
verleihen (Art. 55 Abs. 1) und die Möglichkeit der Wiederherstellung
dieser Wirkung vorsehen (Art. 55 Abs. 3), Anwendung finden. Demnach ist
hinsichtlich der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung in einem
unter Art. 1 Abs. 3 VwVG fallenden Verfahren nicht Art. 55 Abs. 3 VwVG,
sondern das kantonale Recht massgebend.

Erwägung 2

    2.- Nach der Rechtsprechung darf die zur Anwendung des Gesetzes
berufene Behörde vom klaren Wortlaut einer gesetzlichen Bestimmung nur
dann abweichen, wenn triftige Gründe den Schluss aufdrängen, dass er
nicht den wahren Sinn der Norm wiedergibt (BGE 101 Ia 207). Es stellt sich
die Frage, ob Art. 1 Abs. 3 VwVG insofern eine (unechte) Lücke aufweise,
als er nicht auch Art. 55 Abs. 1 und 3 VwVG anwendbar erklärt. Das wäre zu
bejahen, wenn der Text des Art. 1 Abs. 3 VwVG in diesem Punkte nach den dem
Gesetze zugrunde liegenden Wertungen und Zielsetzungen als unvollständig
und daher ergänzungsbedürftig erachtet werden müsste (vgl. BGE 88 II 483).

    Indes besteht kein zureichender Grund, eine solche "planwidrige
Unvollständigkeit" des Art. 1 Abs. 3 VwVG anzunehmen. Wenn der Gesetzgeber
das Problem der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde regelt, hat er zwei
sich gegenüberstehende Interessen zu würdigen: Einerseits hat der Bürger
ein Interesse daran, dass eine ihn belastende Verfügung nicht vollstreckt
wird, bevor sie endgültig geworden ist, d.h. ein Interesse an der Erteilung
oder der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung; anderseits ist das
Gemeinwesen daran interessiert, dass die Vollstreckung einer als dringlich
erscheinenden Verfügung während eines Beschwerdeverfahrens nicht gehindert
wird, m.a.W. dass einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung entzogen
werden kann. Wie sich aus Art. 1 Abs. 3 VwVG ergibt, waren die Urheber
dieser Bestimmung der Meinung, es rechtfertige sich nicht, zum Schutz des
Interesses des Bürgers vom Grundsatz abzuweichen, dass das Verfahren vor
den kantonalen Behörden sich nach dem kantonalen Rechte richtet. Deshalb
haben sie davon abgesehen, die Bestimmungen des Art. 55 VwVG, nach denen
eine Beschwerde von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung hat und die
Beschwerdeinstanz gegebenenfalls diese Wirkung wiederherstellen kann,
auf das Verfahren der kantonalen Behörden anwendbar zu erklären. Dagegen
haben sie gefunden, dass das Interesse des Bundes an der sofortigen
Vollstreckbarkeit gewisser kantonaler Verfügungen geschützt werden
müsse. Daher haben sie das Verfahren der letzten kantonalen Instanzen
den Vorschriften des Art. 55 VwVG über den Entzug der aufschiebenden
Wirkung unterstellt. Art. 1 Abs. 3 VwVG bringt diese unterschiedliche
Würdigung der widerstreitenden Interessen durch den Gesetzgeber genau
zum Ausdruck und ist deshalb entsprechend dem Wortlaut auszulegen. Die
Bestimmung weist keine Lücke auf, die vom Richter auszufüllen wäre.

    Allerdings hat diese Auslegung zur Folge, dass die Verfügung,
mit der die letzte kantonale Instanz die Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung ablehnt, nicht mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beim Bundesgericht angefochten werden kann, während dieses Rechtsmittel
gegen den Entzug der aufschiebenden Wirkung durch die gleiche kantonale
Instanz zulässig ist. Hätten aber die Verfasser des Art. 1 Abs. 3 VwVG
den Weg der Verwaltungsgerichtsbeschwerde in allen Fällen, in denen
sich die Frage der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde an die letzte
kantonale Instanz stellt, öffnen wollen, so hätten sie diese Bestimmung
gewiss anders gefasst; sie hätten dann Art. 55 VwVG ohne Einschränkung
auf das Verfahren der kantonalen Instanzen anwendbar erklärt.

Erwägung 3

    3.- Stützt sich somit die Zwischenverfügung, mit der
die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen die
von der Beschwerdeführerin nachgesuchte Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung abgelehnt hat, nicht auf öffentliches Recht
des Bundes, so unterliegt sie der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an
das Bundesgericht nicht. Die vorliegende Beschwerde ist daher als
Verwaltungsgerichtsbeschwerde unzulässig. Als staatsrechtliche Beschwerde
kann sie nicht behandelt werden, da sie den Anforderungen von Art. 90
Abs. 1 lit. b OG nicht genügt.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.