Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IA 28



102 Ia 28

6. Urteil vom 3. März 1976 i.S. Dr. X. gegen Aufsichtskammer über die
Walliser Advokaten. Regeste

    Art. 4 BV; Disziplinarrecht des Anwaltes.

    Disziplinarische Sanktionen mit überwiegendem Strafcharakter, wie
Verweis und Busse, fallen unter den Grundsatz ne bis in idem.

Sachverhalt

    A.- Dr. X. führt ein Advokaturbüro in Basel und Raron. Die
Aufsichtskammer über die Walliser Advokaten büsste ihn - allein gestützt
auf die Tatbestände zweier ihr mitgeteilter Disziplinarentscheide
der bernischen Anwaltskammer - am 27. Februar 1975 wegen Verletzung
der Standesregeln mit Fr. 500.-- und erlegte ihm die Kosten ihres
Disziplinarverfahrens auf. Zur Begründung führte sie im wesentlichen an:
Da sogar ein Entzug der Berufsausübungsbewilligung in mehreren Kantonen
zugleich wegen einer und derselben Handlung nicht gegen den Grundsatz ne
bis in idem verstosse, sei sie ermächtigt, zusätzlich einen Verweis oder
eine Busse auszusprechen. Die im Kanton Bern disziplinierten Handlungen
seien im Domizilkanton Wallis ebenfalls zu ahnden, da sie auch hier
geeignet seien, das Vertrauen in den fehlbaren Anwalt zu erschüttern. Mit
staatsrechtlicher Beschwerde gestützt auf Art. 4 BV verlangt Dr. X. die
Aufhebung dieses Entscheides.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer rügt, der angefochtene Entscheid bedeute
eine missbräuchliche, den Grundsatz der Verhältnismässigkeit verletzende
Häufung von Bussen. Die gleichen Sachverhalte, die zur angefochtenen
Busse geführt hätten, seien schon mit zwei Bussen in Basel-Stadt sowie
mit einer Busse und einer Einstellung im Berufe in Bern diszipliniert
worden. Der Grundsatz ne bis in idem gelte zwar in Disziplinarverfahren
nicht unbesehen. Doch sei ein zusätzlicher Eingriff der Behörden
eines Kantons, in dem der Betroffene nicht tätig geworden ist, nur in
krassen Fällen disziplinwidrigen Verhaltens zulässig (vgl. W. DUBACH,
Das Disziplinarrecht der freien Berufe, in ZSR 70/1951 S. 105a). Ein
Anwalt, der wie der Beschwerdeführer in mehreren Kantonen praktiziere,
laufe Gefahr, für einen in einem Kanton begangenen Fehler mehrfach und
kumuliert bestraft zu werden.

    a) Disziplinarische Sanktionen gegenüber Anwälten unterstehen
dem Verhältnismässigkeitsprinzip (BGE 100 Ia 357 ff.). Das dem
Strafprozessrecht angehörende Prinzip ne bis in idem hat damit indessen
nichts zu tun, sondern besagt, dass ein Beschuldigter für die gleiche Tat
nicht mehrmals bestraft werden soll. Dieser Grundsatz gilt freilich in den
auf Art. 33 BV ausgerichteten kantonalen Disziplinarverfahren nicht ohne
weiteres. Er schränkt die Kantone in der Ausübung ihrer Disziplinarhoheit
über Rechtsanwälte und andere patentpflichtige Angehörige der freien
Berufe nicht allgemein ein (vgl. E. MARTIN-ACHARD, ZSR 70/1951 S. 247a;
W. DUBACH, aaO S. 103a ff.). War das Verhalten des Betreffenden in einem
Kanton geeignet, das für die Zulassung zum Anwaltsberuf erforderliche
Vertrauen zu erschüttern, so braucht er in der Tat in keinem andern Kanton
zur Anwaltspraxis zugelassen zu werden.

    b) Disziplinarverstösse können aber nach Art und Schwere sehr
verschieden sein. Dementsprechend sehen die meisten kantonalen
Disziplinarrechte eine Skala möglicher Sanktionen vor. Der Kanton Wallis
erlaubt in seinem vom Staatsrat erlassenen "Reglement betreffend die
Aufsichtskammer über die Walliser Advokaten" vom 3. September 1962
wahlweise folgende Sanktionen:

    - Verweis (Art. 7 Abs. 2 lit. a).

    - Busse von Fr. 20.-- bis Fr. 500.-- (Art. 7 Abs. 2 lit. b).

    - Einstellung im Beruf von sechs Monaten bis zwei Jahren (Art. 8
Abs. 1).

    - Entzug des Patentes (Art. 8 Abs. 1).  Verweis und Busse sind für
leichtere oder solche Fälle bestimmt, die an sich die Vertrauenswürdigkeit
des Anwalts nicht beeinträchtigen können. Sie haben Strafcharakter,
denn mit ihnen soll der Disziplinverstoss gesühnt und der Fehlbare
spezialpräventiv von der Wiederholung ähnlicher Handlungen abgehalten
Werden. Die befristete Einstellung im Beruf hingegen ist gedacht für
schwerere Vorfälle, welche die Vertrauenswürdigkeit eines Anwalts
erschüttern; sie hat Merkmale der Strafe wie der administrativen
Massnahme. Der disziplinarische Bewilligungsentzug schliesslich ist
offensichtlich keine Strafe, sondern eine Massnahme (vgl. W. DUBACH,
aaO S. 39a); durch ihn soll im öffentlichen Interesse das rechtsuchende
Publikum vor einer berufsunwürdigen Person geschützt werden. Zwar mag
diese Massnahme auf den Betroffenen wie eine Strafe wirken, vielleicht
mehr als ein Verweis oder eine Busse. Doch steht bei ihr jedenfalls das
polizeiliche Verwaltungshandeln der Behörde zum Schutz des Publikums im
Vordergrund und die Straffunktion ist lediglich eine Nebenwirkung.

    c) Aus dieser unterschiedlichen Natur der Sanktionen ergibt sich,
dass Verweigerung oder Entzug der Berufsausübungsbewilligung, sofern sie
sachlich am Platze sind, ohne weiteres in mehreren Kantonen verhängt werden
können (BGE 53 I 29; W. DUBACH, aaO S. 104a). Anderseits fallen Verweis
und Busse oder ähnliche Sanktionen mit überwiegendem Strafcharakter
unter den Grundsatz ne bis in idem. Es wäre in der Tat stossend und
mit den rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar, wenn ein fehlbarer
Anwalt für den gleichen Verstoss kumulativ in all jenen Kantonen gebüsst
werden könnte, in denen er eine Zulassungsbewilligung zum Anwaltsberuf
besitzt und folglich der betreffenden Disziplinarbehörde untersteht. Das
effektive Strafmass hinge dann davon ab, in wie vielen Kantonen er
eine Berufsausübungsbewilligung hat und wie diese Kantone das hier
massgebende Opportunitätsprinzip handhaben; dabei nimmt jede einzelne
Strafe - unabhängig von den andern - für sich in Anspruch, den Verstoss
angemessen, d.h. auch in entsprechender Schwere zu sühnen. Vom Zweck der
Disziplinarbusse her ist eine Häufung ebenfalls nicht erforderlich. Es
genügt durchaus die Büssung in einem Kanton - zumeist jenem, in dem der
Verstoss begangen wurde.

    d) Die Regel des in maiore minus, von der die Walliser Aufsichtskammer
sich leiten liess, spielt hier nicht. Nicht die sachliche Kompetenz zu
Disziplinarsanktionen steht vorliegend in Frage, sondern die örtliche
Zuständigkeit und deren unterschiedliche Beurteilung je nach dem Zwecke
der in Frage stehenden Sanktion. Die Busse ist hier kein minus, sondern
ein aliud. Ist ein Entzug der Berufsausübungsbewilligung zum Schutze
des Publikums nicht oder noch nicht am Platze, so kann nicht ohne
Weiteres in jedem Kanton eine Busse als leichtere Sanktion verhängt
werden. Vielmehr ist zu prüfen, ob nicht schon in einem andern Kanton
der Disziplinarverstoss gesühnt worden ist.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall hat die Walliser Aufsichtskammer für
ihren Kanton und dessen rechtsuchende Bevölkerung die schwerwiegende
Massnahme des Entzuges der Berufsausübungsbewilligung nicht als
notwendig erachtet. Die Verhängung einer disziplinarischen Sanktion
mit Strafcharakter wäre also nur noch in Betracht gefallen, wenn dies
für die fraglichen Disziplinartatbestände nicht schon in einem andern
Kanton geschehen Wäre. Das war hier aber der Fall. Die angefochtene Busse
beruht auf Sachverhalten, die bereits von der bernischen Anwaltskammer mit
einer Busse und einem einjährigen Entzug der Berufsausübungsbewilligung
belegt worden sind; auch die zweite Sanktion wirkt sich, empfindlicher
noch als die erste, für den Beschwerdeführer wie eine Strafe aus; das
ist hier entscheidend.

    Für die Aussprechung einer reinen Disziplinarstrafe im Kanton
Wallis war somit kein Raum mehr. Die Walliser Aufsichtskammer konnte
nach Ablehnung eines Bewilligungsentzuges von den in Bern ausgefällten
Sanktionen formell Akt nehmen und ihrem eigenen Verfahren keine weitere
Folge geben. Wenn sie zusätzlich zu den bernischen Sanktionen noch eine
Busse verhängte, verstiess sie gegen den bundesrechtlich anerkannten
Grundsatz ne bis in idem. Der angefochtene Entscheid lässt sich daher
vor Art. 4 BV nicht halten und muss aufgehoben werden.