Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IA 201



102 Ia 201

32. Urteil vom 17. August 1976 i.S. Minelli gegen Kanton Nidwalden.
Regeste

    Legitimation, Instanzenzug; Europäische Menschenrechtskonvention.

    1. Subsidiarität der staatsrechtlichen Beschwerde zur Beschwerde an
den Bundesrat nach Art. 73 Abs. 1 VwVG (E. 1).

    2. Erfordernis der Erschöpfung des Instanzenzuges für staatsrechtliche
Beschwerden wegen Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention;
Ausnahmen, analoge Anwendung von Art. 86 Abs. 2 OG (E. 2).

    3. Legitimation zur Anfechtung allgemeinverbindlicher Erlasse
(Art. 88 OG). Voraussetzungen, unter denen ein kantonaler Erlass auch
von ausserhalb des betreffenden Kantons wohnenden Bürgern angefochten
werden kann (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Gestützt auf Art. 60 KV und Art. 5 Abs. 2 des kantonalen
Schulgesetzes vom 30. April 1972 beschloss der Landrat (Kantonsparlament)
des Kantons Nidwalden am 11. April 1975 eine Vollziehungsverordnung
zum Schulgesetz (Schulverordnung). Diese wurde, nachdem hiegegen das
fakultative Referendum ergriffen worden war, von der Landsgemeinde am
25. April 1976 genehmigt. Das Ergebnis der Landsgemeindeabstimmung wurde
im Amtsblatt des Kantons Nidwalden vom 30. April 1976 publiziert.

    Ludwig A. Minelli, wohnhaft in Forch (Kanton Zürich), führt mit
Eingabe vom 28. Mai 1976 gegen die von der Landsgemeinde genehmigte
Schulverordnung staatsrechtliche Beschwerde mit dem Begehren, es seien
die §§ 15 Abs. 2; 24; 25; 36; 66 Abs. 1 Satzteil "nach christlichen
Grundsätzen ausgerichteten"; 67 Abs. 3 und 69 der angefochtenen Verordnung
aufzuheben. Er rügt eine Verletzung von Art. 4, 27 Abs. 3, 56, 65 Abs. 2
BV, Art. 2 ÜbBest. BV, Art. 1 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 2 Ziff. 5 KV, der
persönlichen Freiheit sowie von Art. 3, 9, 11 und 14 der Europäischen
Menschenrechtskonvention.

    Das Verfassungsgericht (Obergericht) des Kantons Nidwalden teilt dem
Bundesgericht auf entsprechende Anfrage hin mit, dass der betreffende
Erlass auch mittels einer kantonalen Verfassungsbeschwerde hätte
angefochten werden können. In seiner Stellungnahme zu diesem Bericht
führt der Beschwerdeführer aus, dass ihm die Möglichkeit der Einreichung
einer kantonalen Verfassungsbeschwerde nicht bekannt gewesen sei. Auch
der Staatsschreiber von Nidwalden, an den er sich gewandt habe, habe
ihn nicht auf dieses Rechtsmittel hingewiesen. Das Bundesgericht werde
ersucht, die staatsrechtliche Beschwerde dem Verfassungsgericht von
Nidwalden zu unterbreiten, damit dieses prüfe, ob die beim Bundesgericht
eingereichte Beschwerde noch verspätet als kantonale Verfassungsbeschwerde
entgegengenommen werden könne. Falls das Verfassungsgericht von Nidwalden
dies ablehne, habe das Bundesgericht auf die vorliegende staatsrechtliche
Beschwerde mindestens insoweit einzutreten, als darin eine Verletzung
der EMRK gerügt werde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 84 Abs. 2 OG ist die staatsrechtliche Beschwerde nur
zulässig, wenn die behauptete Rechtsverletzung nicht sonstwie durch Klage
oder Rechtsmittel beim Bundesgericht oder einer andern Bundesbehörde gerügt
werden kann (Grundsatz der Subsidiarität). Gemäss Art. 73 Abs. 1 lit. a
Ziff. 2 VwVG kann gegen kantonale Verfügungen und Erlasse wegen Verletzung
von Art. 27 Abs. 3 BV beim Bundesrat Beschwerde geführt werden. Soweit der
Beschwerdeführer eine Verletzung dieser Verfassungsbestimmung rügt, ist
auf die staatsrechtliche Beschwerde aufgrund von Art. 84 Abs. 2 OG nicht
einzutreten. Die Beschwerde ist zur Behandlung dieser Rüge gemäss Art. 96
OG an den Bundesrat weiterzuleiten. Ob das Erfordernis der Erschöpfung
des kantonalen Instanzenzuges (s. unten) auch für die Beschwerde nach
Art. 73 VwVG gilt und ob der Beschwerdeführer zu diesem Rechtsmittel
legitimiert ist, wird im Verfahren vor dem Bundesrat zu prüfen sein.

Erwägung 2

    2.- Die übrigen Rügen fallen an sich in den Zuständigkeitsbereich des
Bundesgerichtes. Nach Art. 86 Abs. 2 und 87 OG ist eine staatsrechtliche
Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte - vorbehältlich
der in Art. 86 Abs. 2 OG vorgesehenen Ausnahmen - erst zulässig, nachdem
von den kantonalen Rechtsmitteln Gebrauch gemacht worden ist. Eine
entsprechende Regel gilt auch für Beschwerden wegen Verletzung von Normen
der EMRK, soweit es sich um Garantien handelt, die den verfassungsmässigen
Individualrechten im Sinne von Art. 84 Abs. 1 lit. a OG gleichgestellt
werden können (BGE 101 Ia 67 ff.). Ein Verzicht auf die vorgängige
Ergreifung der kantonalen Rechtsmittel ist grundsätzlich nur zulässig,
wenn die angerufenen Normen der EMRK jenen verfassungsmässigen Rechten
entsprechen, welche gemäss Art. 86 Abs. 2 OG vom Erfordernis der
Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges ausgenommen sind (BGE 101 Ia
69 E. 2c).

    Die Verletzung der hier angerufenen Verfassungsnormen - Art. 4, 56,
65 Abs. 2 BV; persönliche Freiheit; Art. 2 ÜbBest. BV; Art. 1 Abs. 1
und Art. 1 Abs. 2 Ziff. 5 KV - kann erst nach vorgängiger Ergreifung
der kantonalen Rechtsmittel mit staatsrechtlicher Beschwerde gerügt
werden. Entsprechendes gilt auch für die Rüge der Verletzung von Art. 3, 9,
11 und 14 EMRK, da diese Konventionsbestimmungen keine Garantien enthalten,
die den in Art. 86 Abs. 2 Satz 2 OG vorbehaltenen Verfassungsrechten
gleichzustellen wären. Auf die staatsrechtliche Beschwerde kann daher
nur eingetreten werden, wenn gegen den angefochtenen kantonalen Erlass
zur Geltendmachung der hier erhobenen Rügen kein kantonales Rechtsmittel
mehr gegeben war.

    Nach Art. 69 Abs. 2 Ziff. 2 der Nidwaldner Kantonsverfassung vom
10. Oktober 1965 und Art. 31 Ziff. 2 des kantonalen Gerichtsgesetzes
vom 28. April 1968 beurteilt das Obergericht als Verfassungsgericht
"Streitigkeiten über die Rechtmässigkeit von Gesetzen und Verordnungen
des Kantons, der Gemeinden und Korporationen". Die Frist für die
Beschwerde an das Verfassungsgericht beträgt "bis zum Erlass der neuen
Gesetzgebung" (welche offenbar noch nicht vorliegt) 20 Tage (Art. 72
des Gerichtsgesetzes).

    Aus diesen Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen wie auch aus dem
eingeholten Amtsbericht des Verfassungsgerichtes von Nidwalden geht
hervor, dass der Beschwerdeführer die in Frage stehende Schulverordnung
mit einem kantonalen Rechtsmittel hätte anfechten können, und zwar
mit sämtlichen Rügen, die Gegenstand der staatsrechtlichen Beschwerde
bilden. Der Beschwerdeführer stellt dies in seiner Vernehmlassung vom
5. Juli 1976 auch nicht in Abrede. Er macht jedoch geltend, es müsse
hier, entsprechend einem in BGE 101 Ia 71 E. 2g gemachten Vorbehalt,
auf die Rüge der Verletzung der EMRK gleichwohl eingetreten werden. Dem
ist nicht beizupflichten. Wohl behielt sich das Bundesgericht im
erwähnten Entscheid vor, in bezug auf die EMRK vom Erfordernis der
Letztinstanzlichkeit (von der analogen Anwendung von Art. 86 Abs. 2
Satz 2 OG abgesehen) "in jenen Fällen Ausnahmen zu machen, wo das
Nichteintreten auf die staatsrechtliche Beschwerde mangels Erschöpfung
des kantonalen Instanzenzuges den Beschwerdeführer jeder ordentlichen
Anfechtungsmöglichkeit berauben würde." - Unter welchen Voraussetzungen
eine derartige Ausnahme gerechtfertigt sein könnte, braucht hier nicht
weiter erörtert zu werden. Im vorliegenden Fall besteht jedenfalls kein
Anlass, von dem in BGE 101 Ia 68 ff. aufgestellten Grundsatz abzuweichen,
da die Frage, ob die beanstandeten Normen der Schulverordnung mit der EMRK
vereinbar seien, im Anschluss an einen späteren Anwendungsakt, d.h. im
Rahmen der konkreten Normenkontrolle, von jedem tatsächlich Betroffenen
erneut mit staatsrechtlicher Beschwerde dem Bundesgericht unterbreitet
werden kann. Mangels Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges ist auf die
vorliegende Beschwerde, soweit sie in den sachlichen Zuständigkeitsbereich
des Bundesgerichtes fällt, nicht einzutreten.

Erwägung 3

    3.- Auf die Beschwerde könnte überdies auch wegen fehlender
Legitimation nicht eingetreten werden.

    Zur Anfechtung eines allgemeinverbindlichen Erlasses ist jeder
legitimiert, auf den die als verfassungswidrig bezeichneten Vorschriften
künftig einmal angewendet werden könnten; es genügt ein virtuelles
Betroffensein (BGE 100 Ia 99, 43; 99 Ia 396 E. Ia mit Hinweisen). Nur
wo es nach der Materie, die der Erlass regelt, von vornherein als
ausgeschlossen erscheint, dass der Beschwerdeführer von den angefochtenen
Normen einmal berührt werden könnte, wird das erforderliche praktische
Interesse an der Beschwerdeführung verneint (BGE 99 Ia 265 f., 85 I 53,
64 I 386, 48 I 595). So kann eine Gefängnisverordnung auch von Personen
angefochten werden, die nicht bereits in ein Strafverfahren gezogen sind
(BGE 99 Ia 265 f.), eine Vorschrift über die Beschränkung der Bootslänge
auch von Personen, deren Boote noch innerhalb der zulässigen Norm liegen
(BGE 100 Ia 43), ein Erlass über die Voraussetzungen zur Führung eines
Taxibetriebes auch von jemandem, der nicht Taxihalter ist (BGE 99 Ia 396),
ein Steuergesetz auch von Personen, die die streitige Steuer einstweilen
noch nicht zu entrichten haben (BGE 99 Ia 643/4, 48 I 265 f.), die
Einführung einer Hundetaxe auch von jemandem, der nicht Hundehalter ist
(BGE 33 I 390), um einige Beispiele aus der Praxis zu nennen. Grundsätzlich
wird dabei aber vorausgesetzt, dass der Erlass für den Beschwerdeführer
"verbindlich" ist, d.h. dass der Beschwerdeführer im betreffenden Kanton
wohnt und damit dessen Territorialhoheit untersteht (BGE 99 Ia 239, 85
I 53; 48 I 595, 266; 33 I 626; 23 II 1565). Die Praxis lässt allerdings,
je nach Art des angefochtenen Erlasses, auch Ausnahmen zu: So kann auch
ein ausserhalb des Kantons niedergelassener Unternehmer, der sich als
Aufsteller von Geldspielautomaten betätigt, gegen das generelle Verbot
solcher Apparate staatsrechtliche Beschwerde führen, und zwar selbst
dann, wenn er im betreffenden Kanton noch keine Apparate aufgestellt
hat und daher in seiner Geschäftstätigkeit bloss virtuell betroffen ist
(BGE 101 Ia 336 ff., nicht publizierte Erw. 2a). Ebenso ist ein Hausierer
legitimiert zur Anfechtung eines Erlasses über die Hausiertaxen, auch
wenn er in einem andern Kanton wohnt; es genügt, dass er bei der Ausübung
seiner Erwerbstätigkeit von diesem Erlass betroffen werden könnte (BGE 64
I 386). Schliesslich ist auch klar, dass ein Gesetz, das für ausserhalb
des Kantons wohnhafte Schiffshalter eine höhere Schiffssteuer vorsieht,
von diesen angefochten werden kann (BGE 101 Ia 182 ff.).

    Eine gewisse minimale Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer
durch den angefochtenen Erlass einmal betroffen werden könnte, muss
somit in jedem Falle vorhanden sein (JEAN-CLAUDE HEFTI, De la qualité
pour recourir dans la juridiction constitutionnelle et administrative
du Tribunal Fédéral, Diss. Lausanne 1958, S. 60/61). Aus der bisherigen
Rechtsprechung ist ersichtlich, dass ein Erlass nur dann von ausserhalb
des Kantons wohnhaften Personen angefochten werden kann, wenn er nach
Art der geregelten Materie ohne weiteres auch für Nichtkantonseinwohner
Rechtswirkungen zu entfalten vermag. Trifft dies nicht zu und fällt der
Beschwerdeführer bloss unter der Annahme, dass er künftig vielleicht
einmal seinen Wohnsitz in den betreffenden Kanton verlegen könnte, als
virtueller Normadressat in Betracht, so ist das erforderliche praktische
Interesse an der Beschwerdeführung - wie gering die Anforderungen in
bezug auf die Anfechtung allgemeinverbindlicher Erlasse auch sein mögen -
in der Regel nicht gegeben.

    Der Beschwerdeführer ist wohl Vater zweier schulpflichtiger Kinder;
er ist jedoch nicht im Kanton Nidwalden, sondern im Kanton Zürich
(Forch) wohnhaft und insoweit durch die angefochtene Schulverordnung
weder unmittelbar noch virtuell betroffen. Der blosse Umstand, dass er
rechtlich jederzeit die Möglichkeit hätte, seinen Wohnsitz nach Nidwalden
zu verlegen, vermag nach dem Gesagten seine Beschwerdelegitimation
noch nicht zu begründen. Wie es sich verhielte, wenn glaubhaft dargetan
wäre, dass ein Umzug nach Nidwalden beabsichtigt sei, kann dahingestellt
bleiben. Unter den tatsächlich gegebenen Umständen ist der Beschwerdeführer
zur Anfechtung der streitigen Schulverordnung nicht legitimiert. Auch wenn
die staatsrechtliche Beschwerde in bezug auf die Anfechtung von Erlassen
einer Popularbeschwerde nahe stehen mag, setzt sie doch ein minimales
persönliches Interesse des Beschwerdeführers voraus; zur Wahrnehmung
rein öffentlicher Interessen steht das Rechtsmittel nicht zur Verfügung
(BGE 96 I 626/7 E. 3 mit Hinweisen).

Erwägung 4

    4.- Zu einer Weiterleitung der vorliegenden Beschwerde an das
kantonale Verfassungsgericht besteht kein Anlass, da die Frist für
die Anrufung der kantonalen Rechtsmittelinstanz im Zeitpunkt der
Einreichung der staatsrechtlichen Beschwerde bereits abgelaufen war
(vgl. BGE 95 I 558). Wie das Verfassungsgericht in seiner Vernehmlassung
ausführt, begann die 20tägige kantonale Beschwerdefrist mit dem "Erlass
bzw. Publikation" der Verordnung zu laufen, d.h. spätestens am 30. April
1976; die staatsrechtliche Beschwerde wurde jedoch erst am 28. Mai 1976
der Post übergeben.

    Falls der Beschwerdeführer der Auffassung sein sollte, er habe wegen
falscher behördlicher Rechtsauskunft einen Anspruch auf Wiederherstellung
der kantonalen Beschwerdefrist, kann er nach Massgabe des kantonalen
Verfahrensrechtes bei der zuständigen kantonalen Instanz ein entsprechendes
Begehren stellen.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird, soweit sie sich auf Art. 27 Abs. 3 BV stützt,
an den Bundesrat weitergeleitet. Im übrigen wird auf die Beschwerde
nicht eingetreten.