Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IA 196



102 Ia 196

31. Auszug aus dem Urteil vom 16. Juli 1976 i.S. Christen gegen Fink,
Geschworenengerichtspräsident und Verwaltungskommission des Obergerichts
des Kantons Zürich. Regeste

    Staatsrechtliche Beschwerde; Art. 88 OG.

    Legitimation zur Anfechtung der Abweisung einer Aufsichtsbeschwerde
nach § 132 des zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetzes vom 29. Januar
1911? Frage offengelassen (E. 1).

    Europäische Menschenrechtskonvention; Anfechtbarkeit von
Zwischenentscheiden.

    Verhältnis zwischen Art. 86 und 87 OG (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Gegen Walter Urs Christen ist zur Zeit beim Geschworenengericht
des Kantons Zürich ein Strafverfahren wegen gewerbsmässigen Betruges
und anderer Delikte hängig. Das Verfahren befindet sich im Stadium der
Vorbereitung der Hauptverhandlung, deren Beginn auf den 30. August 1976
festgesetzt ist. Amtlicher Verteidiger des Angeklagten war anfänglich
Rechtsanwalt Dr. W. Mit Präsidialverfügung vom 21. Januar 1975 wurde dieser
von seiner Aufgabe entbunden und Rechtsanwalt Dr. B. als neuer amtlicher
Verteidiger bestellt. Die Erwägungen zu dieser Verfügung schlossen mit der
Bemerkung, Direkt-Eingaben des Angeklagten seien für den ordnungsgemässen
Geschäftsgang nicht erwünscht. Mit Schreiben vom 5. Februar 1975 stellte
der Präsident des Geschworenengerichts, Dr. Peter Fink, dem neuen amtlichen
Verteidiger eine Zuschrift des Angeklagten vom 29. Januar 1975 samt zwei
Beilagen zu und ersuchte ihn, seinem Klienten klarzumachen, dass Eingaben
an das Gericht über den Verteidiger einzureichen seien. Eine gleichlautende
Aufforderung erging am 13. Januar 1976, in welcher Dr. Peter Fink den
amtlichen Verteidiger ersuchte, dem Angeklagten seinen Brief vom 5. Februar
1975 in Erinnerung zu rufen, wonach Eingaben an das Gericht durch den
Verteidiger einzureichen seien und direkte Eingaben des Angeklagten nicht
entgegengenommen werden könnten, auch nicht diejenigen vom 6.-10. Januar
1976. Nach den Angaben des Angeklagten wurden solche Eingaben in der
Folge unbesehen chronologisch in eine separate Kiste abgelegt, ohne dass
der Präsident des Geschworenengerichts dazu Stellung nahm.

    Gegen dieses Vorgehen des Geschworenengerichtspräsidenten erhob
Walter Urs Christen am 19. Januar 1976 Aufsichtsbeschwerde bei der
Verwaltungskommission des Obergerichts des Kantons Zürich. Er beschwerte
sich darüber, der Geschworenengerichtspräsident habe gewisse Eingaben
nicht zu den Prozessakten genommen und über bestimmte Anträge materiell
nicht entschieden. In zwei Ergänzungseingaben vom 22. Januar 1976 und vom
10. Februar 1976 beantragte er ferner, der Geschworenengerichtspräsident
sei anzuweisen, seine ab 1. Januar 1976 eingereichten, separat abgelegten
Eingaben zu den Akten zu nehmen und über die darin gestellten Begehren
zu entscheiden. Die Verwaltungskommission ging davon aus, die Vorbringen
des Beschwerdeführers schlössen den Vorwurf der Rechtsverweigerung in sich
und trat daher auf die Aufsichtsbeschwerde gemäss § 132 des zürcherischen
Gerichtsverfassungsgesetzes vom 29. Januar 1911 (GVG) ein, wies aber die
Beschwerde am 14. April 1976 vollumfänglich ab.

    Gegen diesen Beschluss der Verwaltungskommission führt Walter Urs
Christen staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV
und Art. 6 Ziff. 3 lit. c und d EMRK. Das Bundesgericht tritt auf die
Beschwerde nicht ein aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Tritt eine obere kantonale Instanz auf eine Aufsichtsbeschwerde
nicht ein oder weist sie diese ab, so kann dieser Entscheid nicht mit
staatsrechtlicher Beschwerde angefochten werden (Urteil des Bundesgerichts
vom 7. Februar 1962 in ZBl 63/1962, E. 3, S. 467 f.; BGE 90 I 230). Die
Begründung für diese Rechtsprechung liegt vor allem darin, dass derjenige,
der eine Aufsichtsbeschwerde einreicht, nach allgemeiner Anschauung keinen
Anspruch auf einen Bescheid der Behörde hat und deshalb nicht in seinen
persönlichen Interessen verletzt ist, wenn seiner Beschwerde keine oder
nicht die gewünschte Folge gegeben wird.

    Der angefochtene Beschluss betrifft eine Beschwerde wegen Verweigerung
und Verzögerung der Rechtspflege gemäss § 132 GVG. Dieser Rechtsbehelf
wird als Aufsichtsbeschwerde bezeichnet und ist auch entsprechend im
Abschnitt des GVG über "Rechte und Pflichten der Gerichte in ihrem
Verhältnis zueinander und zu anderen Behörden" aufgeführt. In ihrer
Funktion unterscheidet sich indes die Beschwerde gemäss § 132 GVG in
mancher Hinsicht von einer Aufsichtsbeschwerde im eigentlichen Sinn. So
kommt ihr im Zivilprozess teilweise die Funktion eines zivilprozessualen
Rechtsmittels zu (vgl. MEILI, Der Rekurs im Strafprozess nach zürcherischem
Recht, Diss. Zürich 1968, S. 20 mit Hinweisen). Dies trifft im Strafprozess
nicht in entsprechender Weise zu, da hier weitgehend der Rekurs nach
§ 402 StPO möglich ist (HAUSER/HAUSER, Kommentar zum GVG, 3. A., 3.
Lieferung, S. 477; MEILI aaO S. 21). Gegen Verfügungen und Beschlüsse
des Präsidenten des Geschworenengerichts ist jedoch der Rekurs nach §
402 StPO ausgeschlossen (ZR 39/1940, Nr. 168). Es fragt sich daher, ob
die erwähnte Rechtsprechung des Bundesgerichts auf den vorliegenden Fall
angewendet werden kann und demnach auf die staatsrechtliche Beschwerde
nicht einzutreten ist. Diese Frage kann jedoch offen bleiben, da auf
die Beschwerde aus einem anderen Grund nicht eingetreten werden kann.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer beklagt sich über eine Verletzung des
Art. 4 BV. Beim angefochtenen Beschluss handelt es sich um einen
letztinstanzlichen Zwischenentscheid. Gegen einen solchen Entscheid
ist eine staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV
nur dann zulässig, wenn der Entscheid für den Betroffenen einen nicht
wiedergutzumachenden Nachteil zur Folge hat (Art. 87 OG). Dabei muss
der Nachteil rechtlicher und nicht bloss tatsächlicher Art sein (BGE 98
Ia 328 mit Nachweisen). Die Vorbringen des Beschwerdeführers enthalten
sinngemäss insgesamt den Vorwurf, er sei durch das Vorgehen des Präsidenten
des Geschworenengerichts in seinen Parteirechten verletzt. Wegen einer
wesentlichen Beeinträchtigung der Parteirechte kann gegen ein Urteil
des Geschworenengerichts Nichtigkeitsbeschwerde erhoben werden (§
430 Ziff. 4 in Verbindung mit § 428 Ziff. 2 StPO). Das gilt nach der
ausdrücklichen Regelung in § 430 Ziff. 4 auch dann, wenn der Mangel
bereits in der Untersuchung eingetreten ist und im späteren Verfahren
nicht aufgehoben werden konnte. Selbst wenn sich also herausstellen
würde, dass der Beschwerdeführer durch den angefochtenen Beschluss und
das Vorgehen des Geschworenengerichtspräsidenten tatsächlich in seinen
Parteirechten verletzt wäre, könnte er das noch nach ergangenem Urteil
mit einer Nichtigkeitsbeschwerde uneingeschränkt geltend machen. Es
kann daher nicht angenommen werden, der angefochtene Beschluss habe
für den Beschwerdeführer einen nicht wiedergutzumachenden rechtlichen
Nachteil zur Folge. Im übrigen kann der Beschwerdeführer alles, was er
vorbringen will, über seinen Verteidiger durchaus geltend machen. Auch hat
er die Aufsichtsbeschwerde angehoben, bevor überhaupt ein Beweisbeschluss
vorlag und sogar bevor die Beweismittelbezeichnung durch den Verteidiger
erfolgt war. Es bestätigt sich unter diesem Gesichtspunkt, dass der
Beschwerdeführer nicht von einem rechtlichen Nachteil im Sinne von Art. 87
OG betroffen ist, der nicht wiedergutzumachen wäre.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer stützt seine Beschwerde nicht bloss auf
Art. 4 BV, sondern macht auch eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 3 lit. c
und d EMRK geltend. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist es
wegen der engen inhaltlichen Beziehung zwischen den von der Verfassung und
der Konvention geschützten Rechten geboten, Beschwerden wegen Verletzung
der Konvention verfahrensmässig gleich zu behandeln wie solche wegen
Verletzung verfassungsmässiger Rechte (BGE 101 Ia 69 E. 2c).

    Für Beschwerden wegen Verletzung der EMRK gilt die Beschränkung
des Art. 87 OG an sich nicht; sie sind nicht nur gegenüber
letztinstanzlichen Endentscheiden, sondern allgemein auch gegenüber
letztinstanzlichen Zwischenentscheiden zulässig. Dass durch den
angefochtenen Zwischenentscheid ein unheilbarer Mangel drohen müsste,
ist nicht erforderlich. Voraussetzung ist aber, dass die zusätzliche
Rüge der Verletzung der EMRK neben der Rüge der Verletzung von Art. 4
BV selbständige Bedeutung hat, dass mit anderen Worten die als verletzt
bezeichneten, von der Konvention gewährleisteten Rechte über die bereits
von Art. 4 BV garantierten hinausgehen, und dass ferner die zusätzliche
Rüge nicht offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist. Andernfalls
würde die der Prozessökonomie dienende Vorschrift des Art. 87 OG ihren
Zweck nicht erfüllen, da sie durch die blosse Anrufung irgend einer
Bestimmung der EMRK umgangen werden könnte (vgl. BGE 99 Ia 250 E. 1).

    Das in Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK festgehaltene Recht, sich selbst zu
verteidigen oder den Beistand eines Verteidigers eigener Wahl zu erhalten,
ist nur alternativ gewährleistet (vgl. Entscheid der Europäischen
Kommission für Menschenrechte No. 2676/65 vom 3. April 1967, Rec. 23,
S. 35) und geht zumindest bei der hier gegebenen Sachlage nicht weiter
als der bundesrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör. Der Rüge, Art. 6
Ziff. 3 lit. c EMRK sei verletzt, kommt somit neben der Rüge der Verletzung
von Art. 4 BV keine selbständige Bedeutung zu; sie steht demzufolge der
Anwendung von Art. 87 OG nicht entgegen.

    Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK räumt dem Angeklagten das Recht ein,
"Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen
und die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter denselben
Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken". Dieses Recht,
das in Zusammenhang mit dem Grundsatz der Waffengleichheit gemäss Art. 6
Ziff. 1 EMRK zu sehen ist (vgl. z.B. JACOBS, The European Convention on
Human Rights, Oxford 1975, S. 119), ist durch den angefochtenen Beschluss
offensichtlich nicht verletzt, da der Verteidiger des Beschwerdeführers
ohne weiteres alle Eingaben, die hierfür erforderlich sind, machen kann
und dem Angeklagten zudem in der Hauptverhandlung ein entsprechendes
Fragerecht weitgehend auch noch persönlich zusteht, das durch das Vorgehen
des Geschworenengerichtspräsidenten in keiner Weise berührt worden ist
(s. insbesondere §§ 205 und 232 ff. StPO). Die Rüge der Verletzung von
Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK ist somit offensichtlich unbegründet und
hindert daher die Anwendung von Art. 87 OG ebenfalls nicht.

    Da demnach die Rüge der Verletzung der EMRK neben jener der Verletzung
von Art. 4 BV keine selbständige Bedeutung hat bzw. sich als offensichtlich
unbegründet erweist, kann nach dem Gesagten nicht auf die Beschwerde
eingetreten werden.