Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 V 37



101 V 37

7. Urteil vom 9. Januar 1975 i.S. Tragust gegen Schweizerische
Ausgleichskasse und Rekurskommission der AHV/IV für die im Ausland
wohnenden Personen Regeste

    Art. 1 und 6 Abs. 1 IVG, Art. 1 Abs. 1 lit. b AHVG. Dauer der
Versicherteneigenschaft eines im Ausland wohnhaften Italieners, der während
der krankheitsbedingten Arbeitseinstellung gegenüber dem schweizerischen
Arbeitgeber während beschränkter Zeit Anspruch auf Lohnfortzahlung hat
(alter Art. 335 OR, neuer Art. 324a OR).

Sachverhalt

    A.- Der in Schluderns (Südtirol) wohnende Italiener Tragust (geb. 1922)
hatte seit 1948 häufig in der Schweiz gearbeitet, zuletzt vom 9. Juni 1964
bis 1. März 1965 und vom 24. Mai bis 11. November 1965 als Handlanger des
Baugeschäftes Scandella in Münster. Wegen chronischer asthmoider Bronchitis
arbeitsunfähig geworden, weilt er seit dem 12. November 1965 zu Hause
in Schluderns. Laut einem Kollektivvertrag der Firma Scandella mit der
öffentlichen Krankenkasse des Münstertals bezog er ab 11. November 1965
während 720 Tagen ein Krankengeld von 60% des Lohnes, wofür die Firma
Scandella Prämien entrichtet hatte.

    B.- Als der Patient im Juni 1967 eine Rente der schweizerischen
Invalidenversicherung verlangte, schloss der Arzt der
Invalidenversicherungs-Kommission gestützt auf Berichte des Istituto
Nazionale della Previdenza Sociale (INPS), Zweigstelle Bozen, und des
Kreisspitals Santa Maria im Münstertal, dass eine 80%ige Invalidität wegen
langdauernder Krankheit vorliege und ein allfälliger Rentenanspruch am
1. Februar 1967 entstanden sei. Doch lehnte die Kommission am 18. August
1972 das Rentengesuch mit folgender Begründung ab:

    "L'inizio dell'incapacità al lavoro risale al 12.11.1965 ed il diritto
   alla rendita sarebbe sorto l'1.2.1967 (450 giorni dopo l'inizio
   dell'incapacità parziale al lavoro). Visto che a questa data (1.2.1967)
   voi non eravate assicurato né in Svizzera né in Italia - infatti
   in Svizzera siete stato assicurato fino all'11.11.1965 ed in Italia
   l'ultimo contributo all'assicurazione sociale prima dell'invalidità
   è stato versato il 19.5.1965 - nessuna rendita dell'assicurazione
   invalidità svizzera vi può essere accordata".

    Dieser Beschluss wurde dem Gesuchsteller mit Kassenverfügung vom
gleichen Tage eröffnet.

    C.- Tragust rekurrierte und erneuerte sein Begehren. Er habe vom
11. November 1965 bis 1. Dezember 1967 in der Schweiz Krankengeld bezogen
und sei während jener Zeit dort versichert gewesen.

    Mit Urteil vom 14. Dezember 1973 wies die Rekurskommission für Personen
im Ausland die Beschwerde aus folgenden Erwägungen ab:

    "Der Rentenanspruch entsteht nach der bis 31.12.1967 geltenden

    Fassung von Art. 29 Abs. 1 IVG ... bei langdauernder Krankheit,

    a) wenn der Versicherte während 360 Tagen ununterbrochen vollständig
   arbeitsunfähig war und weiterhin mindestens zur Hälfte erwerbsunfähig
   ist (Variante II), oder

    b) wenn der Versicherte während 450 Tagen durchschnittlich mindestens
   zu zwei Dritteln erwerbsunfähig war und weiterhin mindestens zur Hälfte
   erwerbsunfähig ist (Variante IIIa) ...

    Geht man von der Arbeitsfähigkeit zu 100% bis 11. November 1965
   und 80%iger Arbeitsunfähigkeit ab 12. November 1965 aus, so war der

    Moment, in dem eine Arbeitsunfähigkeit von durchschnittlich mindestens
   zwei Dritteln ... 450 Tage andauerte, im Februar 1967 erreicht.

    Der Rentenanspruch nach Variante IIIa von Art. 29 Abs. 1 IVG entstand
   am 1. Februar 1967 ... Der Rentenanspruch könnte allerdings schon am
   1. November 1966 nach Variante II entstanden sein, wenn nachgewiesen
   wäre, dass der Beschwerdeführer vom 12. November

    1965 an während 360 Tagen ununterbrochen voll arbeitsunfähig gewesen
   wäre ...

    Anspruch auf eine Invalidenrente der IV hatte der Beschwerdeführer
   am 1. Februar 1967 nur, wenn er damals ... versichert war (Art. 6

    Abs. 1 IVG). Versichert sind in der IV die nach Art. 1 und 2

    AHVG obligatorisch oder freiwillig versicherten Personen (Art. 1 IVG).

    Das
   sind ... die natürlichen Personen, die in der Schweiz ihren
   zivilrechtlichen Wohnsitz haben (Art. 1 Abs. 1 lit. a AHVG) oder in der

    Schweiz eine Erwerbstätigkeit ausüben (Art. 1 Abs. 1 lit. b AHVG).

    Der Beschwerdeführer hatte nach seiner eigenen Angabe in der Anmeldung
   vom 5. Juni 1967 seinen Wohnsitz in Schluderns. Seine Ehefrau und
   die beiden Kinder lebten immer dort. Er arbeitete als Bauarbeiter nur
   saisonweise bei der Firma Scandella ... Auf Grund seiner

    Erwerbstätigkeit bei der schweizerischen Arbeitgeberfirma war der

    Beschwerdeführer nur so lange in der Schweiz versichert, als diese

    Erwerbstätigkeit andauerte. Das war nur bis zum 11. November 1965 der

    Fall. Für die Folgezeit bezahlte ihm die Firma Scandella keinen Lohn
   mehr, sondern richtete ihm nur zu Lasten der Krankenkasse das

    Krankengeld aus ...

    Ein italienischer Staatsangehöriger gehört im Sinne von Art. 8 lit. b
   des Sozialversicherungsabkommens der italienischen Versicherung
   an, solange er an diese Beiträge entrichtet oder ihm bei dieser
   gleichgestellte Zeiten gutgeschrieben werden. Das war beim
   Beschwerdeführer zuletzt ... in der Zeit vom 20. Mai 1964 bis
   19. Mai 1965 der Fall, als ihm obligatorische Beiträge gutgeschrieben
   wurden. in der Folge leistete er keine Beiträge mehr, hat aber auch
   keine gleichgestellten Zeiten mehr auszuweisen, bis er später ... vom
   30. Juni bis 31. August 1967 freiwillige Beiträge entrichtete. Am
   1. Februar 1967 war er somit im

    Sinne von Art. 8 lit. b des Sozialversicherungsabkommens nicht der
   italienischen Versicherung angehörig. Wenn der Rentenanspruch schon
   am 1. November 1966 entstanden wäre, hätte der Beschwerdeführer damals
   übrigens ebensowenig als versichert gelten können."

    D.- Rechtsanwalt Dr. S. führt rechtzeitig
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Er verlangt für den Beschwerdeführer eine
ganze Invalidenrente (nebst Zusatzrenten für Frau und Kinder) und macht
namentlich folgendes geltend:

    Laut Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts vom 14. Februar 1973
   in Sachen Santilli (ZAK 1974 S. 136 ff.) sei ein italienischer

    Saisonarbeiter, der krankheitshalber die Erwerbstätigkeit in der
Schweiz
   aufgegeben habe und bis zum Eintritt der Invalidität zu
   Therapiezwecken in der Schweiz verblieben sei, gemäss Art. 6 Abs. 1
   IVG versichert. Analog sei im vorliegenden Fall zu entscheiden,
   obwohl Tragust nach Aufgabe der Arbeit bei Scandella in seine Heimat
   zurückgekehrt sei. - Überdies habe der Beschwerdeführer gestützt auf
   Art. 3 Abs. 3 der

    Zusatzvereinbarung vom 4. Juli 1969 zum schweizerisch-italienischen

    Abkommen Anspruch auf eine schweizerische Invalidenrente.

    Die Ausgleichskasse hält die Beschwerde für unbegründet. Hingegen
beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung, sie gutzuheissen, und
bringt hauptsächlich folgendes vor:

    Nach EVGE 1960 S. 179 Erw. 2 sei Erwerbstätigkeit in der Schweiz
   für so lange anzunehmen, als ein Ausländer hier ein Entgelt beziehe,
   das AHV-rechtlich als Lohn zu betrachten sei. Tragust habe nach Aufgabe
   der Arbeit am 11. November 1965 für 720 Tage Krankengeld erhalten,
   das man als Entgelt gemäss alt Art. 335 OR oder Ersatz eines solchen
   betrachten müsse. Auch habe die Firma Scandella mit Schreiben vom
   24. Juni 1974 an das Bundesamt erklärt, sie werde "die AHV-Beiträge
   für die bezogenen Taggelder vom November 1965 bis November

    1967 bezahlen". Bei dieser Sachlage sei der Beschwerdeführer kraft
   des Art. 6 Abs. 1 IVG versichert und daher rentenberechtigt.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Eine Rente schuldet die Invalidenversicherung nach schweizerischem
Recht einem invaliden Ausländer nur, wenn und solange er in der
Schweiz zivilrechtlichen Wohnsitz hat oder hier eine Erwerbstätigkeit
ausübt (Art. 28 Abs. 1 und 6 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 1
IVG und Art. 1 Abs. 1 lit. a und b AHVG). Darüber hinaus stellt das
schweizerisch-italienische Abkommen vom 14. Dezember 1962 über soziale
Sicherheit die Italiener den nach schweizerischem Recht versicherten
Personen gleich, wenn sie

    a) der italienischen Sozialversicherung angehören oder vor dem
Verlassen der Schweiz eine ordentliche Invalidenrente bezogen haben
(Art. 8 lit. b des Abkommens, in Kraft seit 1. September 1964), oder

    b) als Grenzgänger in der Schweiz beschäftigt waren und in
den drei Jahren unmittelbar vor Eintritt des Versicherungsfalles
während mindestens zwei Jahren Beiträge an die schweizerische Alters-,
Hinterlassenen- und Invalidenversicherung entrichtet haben (Art. 3 Abs. 3
der Zusatzvereinbarung vom 4. Juli 1969, in Kraft seit 1. Juli 1973).

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer hatte weder während seiner letzten Tätigkeit
im Baugeschäft Scandella noch seither zivilrechtlichen Wohnsitz in
der Schweiz, wie die Vorinstanz unwidersprochen ausführt. Bis zur
Arbeitseinstellung am 11. November 1965 hat er von der Firma Scandella
Lohn und anschliessend von der Krankenkasse des Münstertals während 720
Tagen ein Krankengeld im Betrage von 60% des Lohnes bezogen.

    Die Rekurskommission hält dafür, der Beschwerdeführer sei nur bis
11. November 1965 gemäss Art. 1 Abs. 1 lit. b AHVG in unserem Lande
erwerbstätig gewesen und deshalb am 1. Februar 1967 - dem laut Art. 29
Abs. 1 Variante IIIa IVG massgebenden Tag - längst nicht mehr bei der
schweizerischen Invalidenversicherung versichert gewesen. Hiezu ist
folgendes festzustellen:

    a) Nach dem alten Art. 335 OR (gültig gewesen bis 31. Dezember
1971) hatte bei jedem auf längere Dauer geschlossenen Dienstvertrag
der Arbeitnehmer, wenn er wegen (unverschuldeter) Krankheit an der
Arbeit verhindert war, gleichwohl Anspruch auf Lohnzahlung für eine
verhältnismässig kurze Zeit. Jene wenig bestimmte Regelung wurde
im Lauf der Jahrzehnte vielerorts in Gesamtarbeitsverträgen dadurch
"abgegolten", dass der Arbeitgeber einen Teil der Beiträge an eine
Krankengeldversicherung des Arbeitnehmers entrichtete und die Krankenkasse
bei Krankheit dem Arbeitnehmer ein Krankengeld zahlte (SCHWEINGRUBER,
Kommentar zum Arbeitsvertrag des schweizerischen Obligationenrechts,
5. Aufl., S. 114 f.).

    Dieser arbeitsrechtlichen Praxis trägt der seit dem 1. Januar
1972 geltende neue Art. 324a OR in folgender Weise Rechnung: Hat ein
Arbeitsverhältnis mehr als drei Monate gedauert, so muss der Arbeitgeber
bei (unverschuldeter) Krankheit des Arbeitnehmers für eine beschränkte Zeit
(im ersten Dienstjahr für drei Wochen und nachher entsprechend länger) den
Lohn fortzahlen. Dabei bleibt eine abweichende, jedoch für den Arbeitnehmer
mindestens gleichwertige schriftliche Abrede oder kollektivvertragliche
Regelung vorbehalten.

    Die durch ein Krankengeld abgelöste Fortzahlung rechtlich geschuldeten
Lohnes mit entsprechender Fortdauer der auf Art. 1 Abs. 1 lit. b AHVG
gestützten Versicherteneigenschaft besteht somit in der Regel so lange,
als die im alten OR vorausgesetzte "verhältnismässig kurze Zeit" bzw. im
neuen OR vorausgesetzte "beschränkte Zeit" dauert.

    b) Der Beschwerdeführer hat zwar ab 11. November 1965 für rund zwei
Jahre von der Krankenkasse des Münstertals Krankengeld bezogen. Doch wäre
ihm der allfällige Anspruch auf eine schweizerische Invalidenrente erst
am 1. Februar 1967 erwachsen, wie die Vorinstanz mit dem Hinweis auf die
Variante IIIa des Art. 29 Abs. 1 IVG zutreffend darlegt. Am 1. Februar
1967 war aber die verhältnismässig kurze Zeit (alt Art. 335 OR) in jedem
Falle längst verstrichen und Tragust daher nicht mehr gemäss den Art. 1
und 6 Abs. 1 IVG versichert. Es bestehen keine besonderen Gründe, die
es rechtfertigen würden, von der Regel abweichend anzunehmen, dass die
Versicherteneigenschaft länger dauerte als die "verhältnismässig kurze
Zeit" der Fortdauer der Lohnzahlungspflicht.

    Auch nach Art. 8 lit. b des schweizerisch-italienischen Abkommens war
der Beschwerdeführer am 1. Februar 1967 nicht mehr bei der schweizerischen
Invalidenversicherung versichert. Denn er hat zu jenem Zeitpunkt nicht der
italienischen Sozialversicherung angehört, wie aus einer Bescheinigung
des INPS vom 6. Juli 1972 und dem ihr beiliegenden Estratto dei periodi
contributivi in Italia hervorgeht.

Erwägung 3

    3.- Was der Anwalt des Beschwerdeführers ausserdem gegen den
vorinstanzlichen Entscheid einwendet, trifft aus folgenden Gründen
nicht zu:

    a) Auf das Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts vom 14. Februar
1973 in Sachen Santilli (ZAK 1974 S. 136 ff.) beruft sich der Vertreter
des Beschwerdeführers zu Unrecht. Der italienische Saisonarbeiter
Santilli, der seit Mai 1968 von der hiesigen Invalidenversicherung
eine halbe Rente bezog, war - nach Ablauf der Arbeitsbewilligung
für 1967 - im Jahre 1968, für welches er keine Arbeitsbewilligung
mehr erhalten hatte, mit fremdenpolizeilicher Erlaubnis zu ärztlicher
Behandlung in der Schweiz verblieben und erst im Jahre 1969 nach Italien
zurückgekehrt. Das Bundesamt für Sozialversicherung äusserte damals,
wenn ein hier erwerbstätig gewesener Italiener erkrankt sei, gelte
er für eine Krankheitszeit von längstens 360 Tagen weiterhin als nach
Art. 6 Abs. 1 IVG versichert, welche langjährige Verwaltungspraxis dem
Willen beider Vertragsstaaten entspreche. Das Eidg. Versicherungsgericht
hat mit der Begründung zugestimmt, diese Verwaltungspraxis beziehe
sich auf einen klar abgegrenzten Sonderfall und sei neuerdings in die
Sozialversicherungsabkommen mit Spanien, der Türkei und den Niederlanden
aufgenommen worden.

    Mit jenem Sonderfall lässt sich der heute zu beurteilende Sachverhalt
nicht vergleichen. Der Beschwerdeführer ist nach der Arbeitseinstellung
am 11. November 1965 nicht in der Schweiz verblieben, sondern sogleich
nach Schluderns (Südtirol) heimgekehrt.

    b) Auch der Hinweis auf Art. 3 Abs. 3 der schweizerisch-italienischen
Zusatzvereinbarung vom 4. Juli 1969 geht fehl. Diese staatsvertragliche
Zusatzbestimmung steht erst seit dem 1. Juli 1973 in Kraft (wie aus ihrem
Art. 6 Abs. 2 erhellt) und ist daher im vorliegenden Falle nicht anwendbar.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.