Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 V 161



101 V 161

33. Urteil vom 9. Juli 1975 i.S. Eidgenössische Militärversicherung gegen
Knoll und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Die Haftung der Militärversicherung für Gesundheitsschäden, die
der einrückende Wehrmann ordnungsgemäss meldet, ohne aber entlassen
zu werden (Art. 5 Abs. 3 MVG), setzt nicht voraus, dass seine
Entlassungsbedürftigkeit damals erkennbar gewesen sei.

Sachverhalt

    A.- Der 1944 geborene Jörg Knoll litt u.a. an einer Fussheberschwäche
links, welche im Sommer 1971 als psychogene Pseudoparese diagnostiziert
wurde. Als der Versicherte am 2. Oktober 1972 zu Beginn des
Wiederholungskurses die sanitarische Eintrittsmusterung zu bestehen hatte,
wies er ein Zeugnis des ihn behandelnden Chiropraktors Dr. S. vor, welches
auf Morbus Scheuermann der Brustwirbelsäule und oberen Lendenwirbelsäule
sowie auf ischiasähnliche Symptome lautete. Eine Entlassung aus dem
Militärdienst wurde zunächst nicht angeordnet. Am 5. Oktober 1972 wurde der
Versicherte jedoch vom Kompaniekommandanten (Spezialarzt der Neurologie)
zur Untersuchung ins Inselspital Bern eingewiesen und anschliessend aus
dem Dienst entlassen. Im Inselspital wurde ein grösseres parasagittales
Meningeom festgestellt, welches am 27. Oktober 1972 operativ entfernt
wurde.

    Mit Verfügung vom 10. April 1973 lehnte die Militärversicherung
jede Bundeshaftung ab. Trotz Krankmeldung bei der sanitarischen
Eintrittsmusterung bestehe keine Haftung nach Art. 5 Abs. 3 MVG,
weil die Gesundheitsschädigung, soweit sie erkennbar gewesen sei,
eine Dienstentlassung nicht habe angezeigt erscheinen lassen. Da
keine Anhaltspunkte dafür bestünden, dass die vordienstliche
Gesundheitsschädigung durch dienstliche Einwirkungen verschlimmert oder
beschleunigt worden sei, entfalle auch eine Haftung nach den übrigen
Bestimmungen.

    B.- Gegen diese Verfügung liess der Versicherte Beschwerde einreichen
mit dem Antrag, die Militärversicherung habe gestützt auf Art. 5 Abs. 3
MVG zumindest während 12 Monaten die vollen gesetzlichen Leistungen
zu erbringen. Die genannte Bestimmung sei anwendbar, wenn anlässlich
der sanitarischen Eintrittsmusterung das Bestehen einer vordienstlichen
Gesundheitsschädigung festgestellt, der Wehrmann aber dennoch im Dienst
behalten werde. Dabei genüge es, wenn lediglich Symptome gemeldet oder
festgestellt würden, von welchen nachträglich anzunehmen sei, dass sie
mit der bestehenden Gesundheitsschädigung im Zusammenhang stünden. Im
vorliegenden Fall bestehe kein Zweifel, dass es sich bei den anlässlich
der Eintrittsmusterung gemeldeten Beschwerden um Symptome des später
diagnostizierten Hirntumors gehandelt habe. Im übrigen sei nicht
ausgeschlossen, dass der Krankheitsablauf im Sinne von Art. 5 Abs. 1
lit. b MVG durch dienstliche Einwirkungen beschleunigt worden sei,
was allerdings noch zusätzlicher ärztlicher Abklärungen bedürfe.

    Mit Entscheid vom 29. März 1974 hiess das Versicherungsgericht
des Kantons Bern die Beschwerde insofern gut, als die angefochtene
Verfügung aufgehoben und die Militärversicherung verpflichtet wurde,
"die im Zusammenhang mit dem Hirntumor des Klägers stehenden gesetzlichen
Leistungen für die Dauer von 12 Monaten ab Diensteintritt am 2. Oktober
1972 voll zu übernehmen". Das Gericht stellte fest, das vordienstliche
Leiden sei mit der in Art. 5 Abs. 1 lit. a und b MVG verlangten
Sicherheit durch den Dienst weder verschlimmert noch beschleunigt worden,
doch seien die Voraussetzungen einer Haftung gemäss Art. 5 Abs. 3 MVG
erfüllt. Entgegen der Auffassung der Militärversicherung genüge die blosse
Tatsache des Bestehens einer vordienstlichen Gesundheitsschädigung
und der Nichtentlassung aus dem Dienst für eine Haftung auf Grund
dieser Bestimmung. Keine Voraussetzung bilde die Erkennbarkeit der
Entlassungsbedürftigkeit. Etwas anderes ergebe sich weder aus dem Wortlaut
des Gesetzes noch aus den Materialien; insbesondere sei auch anlässlich
der auf den 1. Januar 1964 in Kraft getretenen Gesetzesänderung auf eine
entsprechende Einschränkung verzichtet worden.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt
die Militärversicherung Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides,
soweit dieser eine Haftung auf Grund von Art. 5 Abs. 3 MVG statuiere, und
Bestätigung der Verfügung vom 10. April 1973. In der Begründung wird im
wesentlichen geltend gemacht, Art. 5 Abs. 3 MVG beinhalte eine Sanktion im
Falle offensichtlicher Fehlentscheide der Truppensanität und könne nicht
den Sinn haben, den Bund auch dann haftbar zu machen, wenn der Entscheid
des Truppenarztes über die Diensttauglichkeit nicht zu beanstanden sei. Das
vom Versicherten bei der sanitarischen Eintrittsmusterung vorgewiesene
Arztzeugnis habe auf ein vordienstliches Rückenleiden gedeutet und dem
Truppenarzt keinen Anlass gegeben, den Dienstpflichtigen zu entlassen. Es
fehle somit jede Grundlage für eine Haftung des Bundes auf Grund der
Sonderbestimmung von Art. 5 Abs. 3 MVG.

    Der Beschwerdegegner beantragt unter Hinweis auf den vorinstanzlichen
Entscheid Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 4 MVG erstreckt sich die Haftung der
Militärversicherung auf jede Gesundheitsschädigung, die während des
Dienstes in Erscheinung tritt und gemeldet oder sonstwie festgestellt
wird (Kontemporalitätsprinzip). Dieser Grundsatz wird im Sinne des
Kausalitätsprinzipes insofern eingeschränkt, als die Militärversicherung
nicht haftet, wenn sie den Beweis erbringt, dass die Gesundheitsschädigung
sicher vordienstlich ist oder sicher nicht durch Einwirkungen während
des Dienstes verursacht werden konnte (Art. 5 Abs. 1 lit. a MVG) und
dass die Gesundheitsschädigung sicher durch Einwirkungen während des
Dienstes weder verschlimmert noch in ihrem Ablauf beschleunigt worden
ist (Art. 5 Abs. 1 lit. b MVG). Erbringt die Militärversicherung den
unter lit. a, nicht dagegen den unter lit. b verlangten Beweis, so
haftet sie für die Verschlimmerung der Gesundheitsschädigung (Art. 5
Abs. 2 MVG). Wird spätestens anlässlich der Eintrittsmusterung das
Bestehen einer vordienstlichen Gesundheitsschädigung festgestellt und
wird der Wehrmann trotzdem im Dienst behalten, so hat er vom Beginn der
Leistungspflicht der Militärversicherung an Anspruch auf deren volle
gesetzliche Leistungen während 12 Monaten; für die Folgezeit gelten dann
wieder die Regeln des Entlastungsbeweises gemäss Art. 5 Abs. 1 und 2 MVG
(Art. 5 Abs. 3 MVG). Schliesslich haftet die Militärversicherung nach
Art. 6 MVG für eine erst nach Dienstende festgestellte und ihr gemeldete
Gesundheitsschädigung, wenn diese wahrscheinlich durch Einwirkungen während
des Dienstes verursacht worden ist oder - wenn sie vordienstlich ist -
wahrscheinlich durch Einwirkungen während des Dienstes eine Verschlimmerung
erfahren hat.

Erwägung 2

    2.- Es unterliegt keinem Zweifel, dass es sich beim fraglichen
Hirntumor um ein vordienstliches Leiden handelte. Gestützt auf die
im vorinstanzlichen Beschwerdeverfahren eingeholte Stellungnahme des
Inselspitals Bern ist ferner anzunehmen, dass der Krankheitsprozess
durch Einwirkungen während des Dienstes weder verschlimmert noch
beschleunigt worden ist, zumal der Versicherte lediglich während 5 Tagen
Dienst geleistet hat. Anderseits steht fest, dass die anlässlich der
Eintrittsmusterung gemeldeten Beschwerden Symptome des Hirntumors waren,
auch wenn sie als solche in jenem Zeitpunkt nicht erkannt worden sind und
der Versicherte zunächst weiterhin im Dienst behalten wurde. Es stellt
sich mithin die Frage, ob die Militärversicherung Leistungen gestützt
auf Art. 5 Abs. 3 MVG zu erbringen habe.

Erwägung 3

    3.- Die Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 3 MVG setzt dem Wortlaut der
Bestimmung nach voraus, dass "spätestens anlässlich der Eintrittsmusterung
das Bestehen einer vordienstlichen Gesundheitsschädigung festgestellt" und
"der Wehrmann trotzdem im Dienst behalten" wurde. Es ist unbestritten,
dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind. Die
Militärversicherung macht indessen geltend, eine Haftung im Sinne von
Art. 5 Abs. 3 MVG sei nur gegeben, wenn die wahre Natur der gemeldeten
Gesundheitsschädigung anlässlich der Eintrittsmusterung erkennbar
sei und der Wehrmann trotz Erkennbarkeit der deshalb angezeigten
Entlassungsbedürftigkeit nicht entlassen worden sei. Art. 5 Abs. 3
MVG beinhalte lediglich die gesetzliche Sanktion für eine fehlerhafte
Beurteilung durch die Sanitätsorgane.

    a) Mit ihrer Auffassung möchte die Militärversicherung die Haftung
nach Art. 5 Abs. 3 MVG von einem kausalen Faktor, wenn nicht gar von
einem Verschulden abhängig machen. Eine derart einschränkende Auslegung
der Bestimmung findet jedoch keine Stütze im Gesetz. Dem Wortlaut und
der systematischen Stellung nach will Art. 5 Abs. 3 MVG lediglich den im
Gegensatz zum generellen Haftungsgrundsatz der Kontemporalität stehenden
Entlastungsbeweis nach Art. 5 Abs. 1 und 2 MVG wieder aufheben und die
Haftung auf das Kontemporalitätsprinzip zurückführen. Eine Auslegung
im Sinne der Militärversicherung liesse sich deshalb nur rechtfertigen,
Wenn hiefür zwingende Gründe vorhanden wären; solche sind indessen nicht
ersichtlich.

    b) Aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung ergibt sich klar, dass
die Haftung nach Art. 5 Abs. 3 MVG als eine reine Kontemporalitätshaftung
mit zeitlich beschränkter Wirkung konzipiert wurde.

    Im Jahre 1946 hatte die Expertenkommission zur Neufassung des MVG eine
Haftung im Sinne der heutigen Bestimmung in Abweichung von der bisherigen
Regelung (Art. 9 Abs. 1 MVG 1914) abgelehnt. Die nationalrätliche
Kommission beschloss dann aber folgende Fassung des damaligen Art. 6
Abs. 4 MVG:

    "Wenn spätestens anlässlich der Eintrittsmusterung das Bestehen einer
   vordienstlichen Gesundheitsschädigung festgestellt wird und der
   Wehrmann trotzdem Dienst leisten muss, hat dieser Anspruch auf die
   vollen gesetzlichen Leistungen der MV während 6 Monaten. Nachher regelt
   sich die Haftung der MV gemäss den Absätzen 1-3."
Diese Bestimmung wurde in der Folge praktisch unverändert als Art. 5
Abs. 3 MVG in das Bundesgesetz vom 20. September 1949 aufgenommen.

    Anlässlich der Gesetzesrevision von 1963 gelangte die
Expertenkommission nach eingehender Diskussion zum Schluss,
es sei an der durch die Revision von 1949 eingeführten Regelung
festzuhalten. Dabei wurde u.a. ein Ergänzungsantrag als überflüssig
abgelehnt, mit welchem festgehalten werden sollte, dass die Haftung der
Militärversicherung uneingeschränkt bestehe "... lorsque le militaire
n'aurait manifestement pas dû être retenu au service ..." (Protokoll der
Sitzung der Expertenkommission vom 7.-9. September 1959, S. 33/34). Daraus
geht hervor, dass keinesfalls die Meinung herrschte, die Erkennbarkeit
der Entlassungsbedürftigkeit bilde Voraussetzung der Haftung gemäss
Art. 5 Abs. 3 MVG. Etwas anderes lässt sich auch den Verhandlungen
der Eidgenössischen Räte nicht entnehmen. In der nationalrätlichen
Kommission zur Beratung der Gesetzesvorlage stellte der Vertreter der
Militärversicherung fest:

    "Or, si l'application de l'art. 5, al. 3 LAM a bien pour condition,
   suivant la lettre de cette disposition, la constatation de l'affection à
   la visite sanitaire d'entrée, cette exigence est interprétée largement
   par l'assurance militaire, qui la considère comme réalisée dès que
   l'assuré s'est annoncé pour des symptômes - alors même seulement
   subjectifs

    - causés par l'affection reconnue plus tard. On ne peut en effet lui
   faire supporter les conséquences du fait que le médecin militaire n'est
   pas parvenu à constater l'existence de l'affection à la visite sanitaire
   d'entrée" (Protokoll der Sitzung vom 13./14. August 1963, S. 30/31).
Diese Auffassung blieb unbestritten; auch wurde im Laufe der
parlamentarischen Beratung kein Antrag auf Einschränkung der Bundeshaftung
gestellt. Die einzige Änderung gegenüber der bisherigen Bestimmung betraf
die Dauer der vollen Haftung, welche von 6 auf 12 Monate erhöht wurde.

    c) Die von der Militärversicherung erwähnte Praxis des Eidg.
Versicherungsgerichts zum altrechtlichen Art. 9 Abs. 1 MVG (vgl. Urteile
vom 8. Februar 1944 in Sachen Bachmann und vom 26. März 1949 in Sachen
Petralli) vermag zu keinem andern Ergebnis zu führen. Wie die Vorinstanz
mit Recht ausführt, wäre zu erwarten gewesen, dass der Gesetzgeber
die fragliche Praxis anlässlich der Neufassung des MVG im Jahre 1949
klar verankert hätte, wenn er als zusätzliche Haftungsvoraussetzung die
Erkennbarkeit der Entlassungsbedürftigkeit hätte festsetzen wollen. Nachdem
der Gesetzeswortlaut keine entsprechende Präzisierung erfahren hat und sich
auch aus den Gesetzesmaterialien keine gegenteiligen Anhaltspunkte ergeben,
ist anzunehmen, dass mit dem Inkrafttreten von Art. 5 Abs. 3 MVG auf das
Erfordernis der Erkennbarkeit der Entlassungsbedürftigkeit verzichtet
worden ist (vgl. auch SCHATZ, Kommentar zur Militärversicherung,
S. 69). Auf diesen Boden stellte sich in der Folge auch die
Rechtsprechung. So führte das Eidg. Versicherungsgericht im Entscheid vom
20. Oktober 1954 i.S. Crameri aus, es lasse sich zweifellos in manchen
Fällen verantworten, trotz Feststellung einer Gesundheitsschädigung
einen Wehrmann im Dienst zu behalten, dann nämlich, wenn entweder die
Gesundheitsschädigung von einer Art sei, dass sie durch die Dienstleistung
voraussichtlich nicht ungünstig beeinflusst werde, oder wenn der Wehrmann
durch entsprechende Diensterleichterungen geschont werde. Das ändere aber
nichts daran, dass bei Auftreten von Beschwerden, und zwar gleichviel,
ob sie auf dienstliche Verschlimmerung zurückzuführen seien oder nicht,
der Anspruch nach Art. 5 Abs. 3 MVG entstehe.

Erwägung 4

    4.- Zusammenfassend ergibt sich somit, dass die Haftung der
Militärversicherung gemäss Art. 5 Abs. 3 MVG nicht die Erkennbarkeit der
Entlassungsbedürftigkeit voraussetzt. Die Haftung erstreckt sich vielmehr
auch auf Gesundheitsschädigungen, die eine Entlassung aus dem Dienst
auf Grund der anlässlich der Eintrittsmusterung gemeldeten Beschwerden
nicht als gerechtfertigt erscheinen liessen, falls sich nachträglich
herausstellt, dass ein behandlungsbedürftiges Leiden vorhanden ist,
welches eine Dienstentlassung begründet hätte.

    Nachdem feststeht, dass die im vorliegenden Fall bei der
Eintrittsmusterung gemeldeten Beschwerden Symptome des während des Dienstes
festgestellten Hirntumors waren, hat der Beschwerdegegner mithin Anspruch
auf die vollen gesetzlichen Leistungen für die Dauer von 12 Monaten ab
Beginn der Leistungspflicht der Militärversicherung.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.