Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 V 157



101 V 157

32. Auszug aus dem Urteil vom 30. Juni 1975 i.S. Romann gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des
Kantons Zürich Regeste

    Zusammenfallen einer Rente der obligatorischen Unfallversicherung mit
einer Rente der Invalidenversicherung (Art. 29 Abs. 1 und 45 Abs. 1 IVG,
Art. 39bis Abs. 3 lit. b IVV).

    - Anders als in der AHV (vgl. BGE 100 V 208) entsteht der
Rentenanspruch in der Invalidenversicherung nicht am nächsten Monatsbeginn
nach Eintritt des anspruchsbegründenden Sachverhaltes, sondern gleich am
Tage dieses Ereignisses.

    - Sowohl in der AHV als auch in der Invalidenversicherung entsteht
der Rentenanspruch von Gesetzes wegen. Die Kassenverfügung hat nicht
konstitutiven Charakter.

Sachverhalt

    A.- Marguerite Romann, Ehefrau des 1909 geborenen Robert
Romann, erreichte im August 1971 das 62. Altersjahr, weshalb ihr die
Ausgleichskasse des Kantons Zürich am 9. September 1971 verfügungsweise
mitteilte, sie erhalte vom 1. September 1971 hinweg eine einfache
Altersrente. Am 6. März 1972 eröffnete die Ausgleichskasse Robert
Romann, der damals schon seit mehreren Jahren eine Invalidenrente der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) bezog, mit einer neuen
Verfügung, dass ihm seit dem 1. Mai 1971 eine ganze Ehepaar-Invalidenrente
zustehe.

    Schliesslich eröffnete die SUVA dem heute am Recht stehenden
Versicherten mit Verfügung vom 18. Mai 1973 folgendes: Vergleiche man sein
aus der SUVA-Rente, der Rente der Invalidenversicherung von Fr. 1'200.--
und dem Eigenverdienst bestehendes Gesamteinkommen mit dem ohne Invalidität
mutmasslich erzielbaren Verdienst, so ergebe sich eine Überversicherung,
welche das Rentenguthaben gegenüber der SUVA übersteige. Die Zahlung der
SUVA-Rente werde daher ab 1. Juni 1973 eingestellt.

    B.- Gegen diese Verfügung liess Robert Romann am 17. Oktober 1973
beim Versicherungsgericht des Kantons Zürich "Klage" erheben mit dem
Antrag, die SUVA sei zu verpflichten, ihm auch nach dem 1. Juni 1973
die Rente auszurichten. Zur Begründung wurde unter anderem vorgebracht:
Die im Betrag von Fr. 1'200.-- enthaltene einfache Altersrente der
Ehefrau dürfe gemäss Art. 39bis Abs. 3 lit. b IVV nicht angerechnet
werden. Obschon mit Wirkung ab 1. Mai 1971 zugesprochen, sei der Anspruch
auf die ganze Ehepaar-IV-Rente erst entstanden, als die Ausgleichskasse
des Kantons Zürich am 6. März 1972 die entsprechende Verfügung erlassen
habe. Vorher habe der Beschwerdeführer keine "rechtliche Berechtigung" auf
die Ehepaar-IV-Rente gehabt. Somit sei die Altersrente der Ehefrau im Sinne
der zitierten Verordnungsbestimmung vor Entstehung der Ehepaar-IV-Rente
entstanden ...

    Das kantonale Versicherungsgericht wies die Beschwerde ab: Die
Ehepaar-IV-Rente sei zu dem Zeitpunkt entstanden, da der Anspruch
begonnen habe. Dies sei am 1. Mai 1971 der Fall gewesen. Somit dürfe
bei der Ermittlung der Überversicherung die ganze Ehepaar-IV-Rente von
Fr. 1'200.-- angerechnet werden.

    C.- Gegen diesen Entscheid richtet sich die vorliegende
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, mit welcher der Antrag erneuert wird,
es sei die einfache Altersrente der Ehefrau bei der Beurteilung,
ob Überversicherung bestehe, nicht anzurechnen. Der Beschwerdeführer
begründet dies wiederum damit, dass die erwähnte Altersrente vor der
Ehepaar-IV-Rente entstanden sei. Im Gegensatz zur Altersrente, die der Frau
von Gesetzes wegen "automatisch" mit zurückgelegtem 62. Altersjahr zukomme,
entstehe der Anspruch auf eine Ehepaar-IV-Rente erst dann, wenn diese
von der Ausgleichskasse zugesprochen werde. Dies ergebe sich auch aus dem
französischen Wortlaut von Art. 39bis Abs. 3 lit. b IVV, wo "Entstehen
der Ehepaar-Invalidenrente" mit "octroi de la rente d'invalidité pour
couple" übersetzt sei. "Octroi" bedeute Bewilligung bzw. Erteilung ...

    Die SUVA trägt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Streitig ist heute allein, ob die Altersrente der Marguerite
Romann, die diese vom September 1971 hinweg bezogen hat, für die Frage
nach der Kürzung der SUVA-Rente im Sinne von Art. 45 Abs. 1 IVG angerechnet
werden muss.

    Nach Art. 45 Abs. 1 IVG werden die Renten der SUVA und der
Militärversicherung gekürzt, soweit diese zusammen mit der Rente der
Invalidenversicherung den entgangenen mutmasslichen Jahresverdienst
übersteigen. Bei der Ermittlung, ob dies der Fall ist, darf gemäss
Art. 39bis Abs. 3 lit. b nicht angerechnet werden der Betrag, den die
Ehefrau des Versicherten "vor Entstehen der Ehepaar-Invalidenrente" als
Invaliden- oder Altersrente unter Einschluss allfälliger Zusatzrenten
bezogen hat. Es fragt sich, was unter dem Begriff "Entstehen der
Ehepaar-Invalidenrente" zu verstehen ist.

    Grundvoraussetzung für den Bezug von Versicherungsleistungen
ist das Rechtsverhältnis des Versicherungsfalles. Vom Eintritt
des Versicherungsfalles zu unterscheiden ist die Erfüllung des
leistungsbegründenden Sachverhalts. Dieser umfasst alle jene
Elemente, die in tatbeständlicher Hinsicht gegeben sein müssen,
damit der Versicherungsfall überhaupt eintreten kann. Der Zeitpunkt
des Eintritts des Versicherungsfalles und jener der Erfüllung des
anspruchsbegründenden Sachverhalts sind nicht ohne weiteres identisch. Mit
andern Worten beinhaltet der leistungsbegründende Sachverhalt noch kein
Rechtsverhältnis. Den Zeitpunkt, da dieses beginnt, umschreibt das Gesetz
regelmässig in der Weise, dass es erklärt, wann der Leistungsanspruch
"entsteht". Wenn in der Invalidenversicherung die Entstehung des Anspruchs
auf eine Invalidenrente unabhängig von einem bestimmten Monatstag auf jenen
Zeitpunkt festgelegt wird, da die erwerbliche Beeinträchtigung eine gewisse
Intensität erreicht hat (vgl. Art. 29 Abs. 1 IVG), so stimmen hier der
Zeitpunkt des anspruchsbegründenden Sachverhalts und jener der Entstehung
des Rechtsverhältnisses von Gesetzes wegen überein. Anders verhält es sich
in der AHV, wo der Anspruch auf Alters- und Hinterlassenen-Rente nach
dem gesetzlichen Wortlaut am ersten Tag des Monats "entsteht", der auf
jenen Monat folgt, in welchem sich der anspruchsbegründende Sachverhalt
(Erreichen des Rentenalters bzw. Tod des Ehemannes, des Vaters oder der
Mutter) verwirklicht hat (vgl. Art. 21 Abs. 2, 22 Abs. 3, 23 Abs. 3,
25 Abs. 2 und 26 Abs. 2 AHVG; BGE 100 V 208).

    Der Anspruch auf eine Rente der AHV oder der Invalidenversicherung
entsteht demnach von Gesetzes wegen, sobald nach Erfüllung des
leistungsbegründenden Sachverhalts der Versicherungsfall eingetreten
ist. Er besteht unabhängig von der Kassenverfügung und wird nicht
erst durch diese begründet. Die Verfügung hat keinen konstitutiven
Charakter. Mit ihr gewährt die Kasse nicht einen Rentenanspruch, sondern
sie stellt lediglich fest, ob und allenfalls wann der Versicherungsfall
sich verwirklicht hat.

Erwägung 2

    2.- Der Anspruch der Marguerite Romann auf die einfache Altersrente
ist am 1. September 1971 entstanden, was unbestritten ist. Hinsichtlich
der Ehepaar-IV-Rente hat die Ausgleichskasse wohl erst am 6. März 1972
verfügt. Dieser Verwaltungsakt hatte aber die rückwirkende Feststellung
zum Gegenstand, dass der Rentenanspruch am 1. Mai 1971 entstanden sei. War
somit der Anspruch auf die einfache Altersrente der Ehefrau nach der
Ehepaar-IV-Rente entstanden, so besteht kein Raum für die Anwendung von
Art. 39bis Abs. 3 lit. b IVV.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.