Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 V 111



101 V 111

21. Auszug aus dem Urteil vom 28. Februar 1975 i.S. Hadorn gegen
Ausgleichskasse des Kartons St. Gallen und Versicherungsgericht des
Kantons St. Gallen Regeste

    Geltendmachung von Ansprüchen gegenüber der Invalidenversicherung
(Art. 46 IVG).

    - Die hinreichend substantiierte Anmeldung bleibt während der
fünfjährigen Verwirkungsfrist wirksam (Bestätigung der Praxis).

    - Zeitlich massgebender Sachverhalt (Präzisierung der Praxis).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

    Es stellt sich die Frage, von welchem Zeitpunkt hinweg der
Beschwerdeführerin eine Hilflosenentschädigung zusteht.

    a) Nach der Rechtsprechung zu Art. 46 IVG wahrt der Versicherte mit
der Anmeldung bei der Invalidenversicherungs-Kommission grundsätzlich
alle seine zu diesem Zeitpunkt gegenüber der Versicherung bestehenden
Leistungsansprüche, auch wenn er diese im Anmeldeformular nicht im
einzelnen angibt (EVGE 1962 S. 342 und 1964 S. 189). Dieser Grundsatz
findet indessen keine Anwendung auf Leistungen, die in keinem Zusammenhang
mit den sich aus den Angaben des Versicherten ausdrücklich oder sinngemäss
ergebenden Begehren stehen und für die auch keinerlei aktenmässige
Anhaltspunkte die Annahme erlauben, sie könnten ebenfalls in Betracht
fallen. Denn die Abklärungspflicht der Invalidenversicherungs-Kommission
(vgl. Art. 60 Abs. 1 IVG) erstreckt sich trotz des erwähnten Grundsatzes
nicht auf alle überhaupt möglichen Leistungsansprüche, sondern nur auf
die vernünftigerweise mit dem vorgetragenen Sachverhalt und allfälligen
bisherigen oder neuen Akten im Zusammenhang stehenden Leistungen. Macht
der Versicherte später geltend, er habe auf eine weitere Leistung
Anspruch als bloss auf die ihm verfügungsmässig zugesprochene (oder
verweigerte) und er habe sich hiefür bereits gemeldet, so ist nach den
gesamten Umständen des Einzelfalles im Lichte des Grundsatzes von Treu
und Glauben zu prüfen, ob bereits jene frühere - ungenaue - Anmeldung
den später substantiierten Anspruch umfasst. Ist dies zu verneinen, so
können auf Grund der neuen Anmeldung die Leistungen nur im Rahmen des
Art. 48 Abs. 2 IVG rückwirkend zugesprochen werden. Erscheint dagegen die
frühere Anmeldung als hinreichend substantiiert, so ist die fünfjährige
Verwirkungsfrist seit dieser Anmeldung massgebend. In jedem Fall bleibt
Satz 2 von Art. 48 Abs. 2 IVG vorbehalten(BGE 99 V 46 und 100 V 118 E. 1c).

    b) Die Vorinstanz hat zu Recht angenommen, dass unter den gegebenen
Umständen die erste Anmeldung vom 13. April 1965 an sich auch für
die Hilflosenentschädigung galt, weil sich im Zusammenhang mit dem
Rentenbegehren aus den Akten genügend Anhaltspunkte ergaben, welche
die Invalidenversicherungs-Kommission hätten veranlassen müssen,
auch den allfälligen Anspruch auf Hilflosenentschädigung in ihre
Abklärungen einzubeziehen: So hatte Dr. F. schon in seinem Bericht an die
Invalidenversicherungs-Kommission vom 22. April 1965 darauf hingewiesen,
dass die Versicherte beim An- und Auskleiden sowie beim Essen und bei der
Toilette wegen der Parese des linken Armes auf fremde Hilfe angewiesen
sei. Und die spätern Arztberichte vom Oktober und Dezember 1965 liessen
auf keine Verbesserung des Gesundheitszustandes schliessen. Trotz dieser
Gegebenheiten kann heute auf die Anmeldung vom April 1965 nicht mehr
abgestellt werden, weil bereits im Frühjahr 1970 die Verwirkung eingetreten
ist. Massgebend ist daher die zweite Anmeldung vom Dezember 1972. Unter
Berücksichtigung von Art. 48 Abs. 2 IVG kann die Hilflosenentschädigung
lediglich für die zwölf dieser Anmeldung vorangegangenen Monate
rückwirkend, d.h. vom Dezember 1971 hinweg, ausbezahlt werden. Der
angefochtene Entscheid erweist sich somit im Ergebnis als richtig.

    c) Die Vorinstanz meint zwar, die Anmeldung vom April 1965
sei deshalb nicht massgebend, weil auf Grund ihres rechtskräftigen
Entscheides vom 20. Dezember 1966 der Anspruch auf Rente und damit auch
derjenige auf Hilflosenentschädigung erst im Oktober 1965 entstanden
sei und somit im Zeitpunkt der Anmeldung vom April 1965 noch kein
Anspruch auf Hilflosenentschädigung bestanden habe. Die Vorinstanz hält
sich damit streng an den Wortlaut des von ihr zitierten BGE 99 V 46,
wonach der Versicherte mit der Anmeldung alle seine zu diesem Zeitpunkt
gegenüber der Versicherung bestehenden Leistungsansprüche wahrt. Diese
rein grammatikalische Auslegung ist jedoch zu eng. Zwar ist es durchaus
möglich, dass eine Invalidenversicherungs-Kommission ein zu früh gestelltes
Leistungsbegehren ablehnt mit dem Hinweis darauf, dass es später, wenn
die leistungsbegründenden Voraussetzungen erfüllt sind, erneut gestellt
werden kann. Es ist aber auch möglich, dass auf Grund einer an und für sich
verfrühten Anmeldung gleichwohl die entsprechende Leistung zugesprochen
wird, wenn zwar erst nach der Anmeldung, aber noch vor Erlass der Verfügung
alle erforderlichen Voraussetzungen eintreten. Bezüglich der Rente traf
dies im vorliegenden Fall insofern zu, als laut Kassenverfügung vom 12.
Februar 1966 der Rentenanspruch am 1. November 1965 (bzw. am 1. Oktober
1965 laut vorinstanzlichem Entscheid) entstanden ist. Dann muss aber auch
bezüglich aller weitern in Frage kommenden Ansprüche - hier bezüglich
Hilflosenentschädigung - auf den bei Erlass der Kassenverfügung und nicht
auf den bei der Anmeldung gegebenen Sachverhalt abgestellt werden. In
diesem Sinn ist BGE 99 V 46 zu präzisieren.