Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 V 100



101 V 100

19. Urteil vom 2. Mai 1975 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen
Stutz und Obergericht des Kantons Aargau Regeste

    Art. 12 Abs. 1 IVG: Coxarthrose.

    - Keine Gewährung der totalen Endoprothese eines Hüftgelenkes mangels
hinreichender Dauer des Eingliederungserfolges.

    - Auswirkungen von Nebenbefunden auf die Dauer des
Eingliederungserfolges.

Sachverhalt

    A.- Die 1918 geborene Hausfrau Stutz meldete sich am 15.  Dezember
1970 bei der Invalidenversicherung an und ersuchte um medizinische
Massnahmen. Dr. med. S. diagnostizierte Coxarthrose beidseits und
schwere Spondylarthrose der gesamten Lendenwirbelsäule. Seit mehreren
Jahren habe die adipöse Versicherte zunehmende Schmerzen in beiden
Hüftgegenden gehabt, weshalb wiederholte konservative Behandlungen
notwendig geworden seien. Eine konsiliarische Untersuchung im Dezember
1970 in der Orthopädischen Poliklinik der Universität X. habe die Diagnose
einer beidseitigen Coxarthrose bestätigt. Ein operativer Eingriff sei
aber wegen der gleichzeitig bestehenden, schweren Spondylarthrose der
gesamten Lendenwirbelsäule vorläufig abgelehnt worden; die Operation
werde möglichst lange aufgeschoben, um eventuell eine Totalprothese
vorzunehmen. Der Arzt empfahl jedoch die Abgabe eines Stützkorsettes,
um die Arbeitsfähigkeit der Versicherten als Hausfrau und als Hauswartin
eines 16-Familien-Hauses zu erhalten (Bericht vom 28. Januar 1971).

    Mit Verfügung vom 19. April 1971 wurden der Versicherten zwei
Stützmieder zugesprochen; das Begehren um medizinische Massnahmen wurde
dagegen abgelehnt, weil die durchgeführten konservativen Vorkehren
auf die Behandlung des Leidens an sich gerichtet gewesen seien. Sollte
später eine Hüftoperation notwendig werden, so könne ein neues Begehren
gestellt werden.

    Am 10. April 1972 ersuchte die Versicherte erneut um medizinische
Massnahmen. Gemäss dem Bericht des Dr. S. vom 5. April 1972 leidet sie
an hochgradiger Coxarthrose links und leichter Coxarthrose rechts. Die
Versicherte habe die Hauswartstelle wegen der zunehmenden Behinderungen
aufgeben müssen; als Hausfrau sei sie in der Lage, ihren Pflichten
vollumfänglich nachzukommen; wegen hochgradiger Osteochondrose und
Spondylose der Lendenwirbelsäule trage sie ein Stützmieder.

    Mit Verfügung vom 24. April 1972 eröffnete die Ausgleichskasse der
Versicherten den Beschluss der Invalidenversicherungs-Kommission, die
vom Arzt empfohlene Coxarthrose-Operation könne nicht übernommen werden,
weil noch eine schwere Spondylarthrose der Lendenwirbelsäule bestehe.

    B.- Die Versicherte erhob Beschwerde mit dem Antrag, die Verfügung
vom 24. April 1972 sei aufzuheben. Sie machte geltend, die Coxarthrose
sei so weit fortgeschritten, dass nur noch ein künstliches Gelenk in Frage
komme. Ferner verwies sie auf die Kassenverfügung vom April 1971; die
Invalidenversicherung habe sich damals bereit erklärt, die Hüftoperation
zu übernehmen.

    Das Obergericht des Kantons Aargau beschloss am 24. Oktober 1972,
von der Orthopädischen Poliklinik des Spitals X. einen gutachtlichen
Bericht darüber einzuholen, ob die gemäss den Angaben des Dr. S. von
dieser Klinik im Dezember 1970 als schwer bzw. ausgeprägt bezeichnete
Spondylarthrose der ganzen Lendenwirbelsäule den Eingliederungserfolg
der geplanten Coxarthrose-Operation in Frage stelle.

    Gestützt auf den Bericht des Oberarztes Dr. med. R. vom 2. Februar
1973, wonach durch die vorgesehene Totalprothese links die Beweglichkeit
und die Beschwerden sowohl von seiten des Hüftgelenks als auch von seiten
der Wirbelsäule erheblich gebessert werden könnten, hiess das Obergericht
die Beschwerde gut und verpflichtete die Invalidenversicherung,
die Operation zu übernehmen. Es dürfe erwartet werden, dass die
Arbeitsfähigkeit der 54jährigen Versicherten durch den Eingriff noch
für einen wesentlichen Zeitraum erhalten bleiben werde (Entscheid vom
9. April 1973).

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das
Bundesamt für Sozialversicherung, der kantonale Entscheid sei aufzuheben
und die Kassenverfügung vom 24. April 1972 wiederherzustellen. Die
bestehenden Nebenbefunde, das Übergewicht und die Tatsache, dass eine
beidseitige Coxarthrose vorliege, seien geeignet, den Eingliederungserfolg
der vorgesehenen Operation erheblich zu beeinträchtigen. Somit könne die
Frage, ob überhaupt ein zumindest relativ stabilisierter Defektzustand
vorliege, offengelassen werden,

    Die Versicherte stellt den Antrag auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Sie verweist auf Berichte von Dr. R. vom
2. Juli 1973 und Dr. S. vom 9. Juli 1973; danach ist die indizierte
Operation geeignet, die Arbeitsfähigkeit als Hausfrau zumindest während
einer gewissen Zeit zu erhalten.

    D.- Mit Verfügung vom 6. November 1973 ordnete das
Eidg. Versicherungsgericht eine medizinische Expertise an und stellte
Prof. Dr. med. T., Vorsteher der Orthopädischen Klinik des Kantonsspitals
Y., folgende Fragen:

    a) War zu erwarten, dass der Hüftgelenkersatz die für die Tätigkeit
als Hausfrau erforderliche Gelenkfunktion gewährleisten werde,
dies insbesondere auch im Hinblick auf die noch hohe statistische
Aktivitätsdauer der erst 54jährigen Versicherten von rund 19 Jahren
(Stauffer/Schaetzle, 3. Aufl., S. 193)?

    b) War zu erwarten, dass die von Oberarzt Dr. med. R. erwähnte
stabilisierende Wirkung der Operation auf die Spondylarthrose der
Lendenwirbelsäule nicht nur vorläufig, sondern ebenfalls im Hinblick auf
die erwähnte Aktivitätsdauer erhalten bleiben könne?

    c) Muss nicht damit gerechnet werden, dass früher oder später die
Spondylarthrose der Lendenwirbelsäule wegen der Coxarthrose rechts sich
verstärken wird?

    d) Wie ist der weitere Verlauf der Coxarthrose rechts zu beurteilen,
in welchem Masse wird sie sich im Zusammenhang mit den übrigen Befunden
auf die Arbeitsfähigkeit auswirken, ist mit medizinischen Massnahmen zu
rechnen, mit welchen und in welchem Zeitpunkt?

    e) Welche Bedeutung ist der Adipositas im Gesamtzusammenhang jetzt
und in Zukunft beizumessen?

    Prof. T. erstattete das Gutachten am 26. August 1974. Auf die
Schlussfolgerungen und deren Begründung wird in den Erwägungen
zurückzukommen sein.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung und die Versicherte enthalten
sich einer Stellungnahme zum Gutachten.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Siehe BGE 101 V 46 Erw. 1.)

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall war nach dem Bericht des Dr. S. vom 5. April
1972, worin eine hochgradige Coxarthrose links diagnostiziert wurde,
und nach dem Gutachten des Dr. R. vom 2. Februar 1973 die Ersetzung des
linken Hüftgelenkes durch eine Totalprothese indiziert. Es darf daher
davon ausgegangen werden, dass das Gelenk mehr oder weniger zerstört war,
was nach der Praxis die Annahme relativ stabilisierter Verhältnisse
erlaubt (vgl. BGE 101 V 49 Erw. 3a). Der Umstand, dass die weniger
weit fortgeschrittene Coxarthrose im rechten Hüftgelenk noch labiles
Krankheitsgeschehen darstellt, schliesst die Annahme eines relativ
stabilisierten Zustandes im linken Hüftgelenk nicht zum vornherein aus,
weil jede der beiden Coxarthrosen grundsätzlich als eigener Leidensbereich
zu betrachten ist. Die beiden Leiden stehen somit im gleichen Verhältnis
zueinander wie die einen Defektzustand darstellende einseitige (oder im
gleichen Zeitraum operationsreife beidseitige) Coxarthrose zu weiteren
Nebenbefunden, namentlich zu anderen Gelenkdefekten oder Schäden an
der Wirbelsäule.

Erwägung 3

    3.- Es fragt sich somit, ob - prognostisch beurteilt - von der
Einsetzung einer Hüftgelenksprothese links, welche bei der im Zeitpunkt
der angefochtenen Verfügung 54jährigen Beschwerdegegnerin indiziert ist,
unter Berücksichtigung der bestehenden Nebenbefunde (Spondylarthrose der
Lendenwirbelsäule, leichte Coxarthrose rechts, Adipositas) ein dauernder
und wesentlicher Eingliederungserfolg zu erwarten war.

    a) Dauernd im Sinne von Art. 12 Abs. 1 IVG ist der von einer
medizinischen Eingliederungsmassnahme zu erwartende Eingliederungserfolg,
wenn die konkrete Aktivitätserwartung gegenüber dem statistischen
Durchschnitt nicht wesentlich herabgesetzt ist (BGE 98 V 212 lit. c;
vgl. auch Art. 8 Abs. 1 letzter Satz IVG). Diesbezüglich kann derzeit
auf die Angaben in der 3. Auflage der Barwerttafeln STAUFFER/SCHAETZLE
(Zürich 1970) abgestellt werden, welche auf den tatsächlichen Erfahrungen
der Invalidenversicherung beruhen.

    Dadurch, dass gemäss bisheriger Praxis die Aktivitätserwartung
im konkreten Fall "nicht wesentlich" vom statistischen Durchschnitt
abweichen darf, soll namentlich bei kurz vor dem AHV-Rentenalter
stehenden Versicherten verhindert werden, dass einer an sich
erfolgreichen medizinischen Massnahme bereits dann Dauerhaftigkeit im
invalidenversicherungsrechtlichen Sinne zuerkannt wird, wenn es sich im
Grunde genommen lediglich um eine stabilisierende Vorkehr für die kurze
Dauer bis zur Erreichung des AHV-Rentenalters handelt.

    Demgegenüber wäre es bei jüngeren Versicherten unbillig und
wirklichkeitsfremd, die erforderliche Dauerhaftigkeit des prognostischen
Eingliederungserfolges eng an die Aktivitätsperiode, mit welcher der
Versicherte nach der statistischen Wahrscheinlichkeit rechnen kann,
binden zu wollen, Denn es geht nicht an, einer medizinischen Massnahme
die vom Gesetz verlangte Dauerhaftigkeit des Eingliederungserfolges
nur deshalb abzusprechen, weil die statistische Aktivitätserwartung
des Versicherten weit über die Zeitspanne hinausgeht, für die sich aus
medizinischer Sicht selbst bei günstigen Voraussetzungen ein Dauererfolg
überhaupt progostizieren lässt. Daher ist bei jüngeren Versicherten im
Gegensatz zu kurz vor dem AHV-Rentenalter stehenden Versicherten der
Eingliederungserfolg voraussichtlich dauernd, wenn er wahrscheinlich
während eines bedeutenden Teils der Aktivitätserwartung erhalten bleiben
wird.

    b) Die 54jährige Versicherte kann mit einer statistischen
Aktivitätserwartung von ca. 19 Jahren rechnen (STAUFFER/SCHAETZLE,
Barwerttafeln, S. 193). Voraussichtlich dauernd wäre daher nach dem
Gesagten der Eingliederungserfolg, wenn er wahrscheinlich während eines
bedeutenden Teils der Aktivitätserwartung der Versicherten erhalten bleiben
würde. Dies ist indessen nicht anzunehmen. Denn laut den Darlegungen von
Prof. T. kann bei Hüftgelenksprothesen nach den bisherigen Erfahrungen mit
einem medizinischen Erfolg für die Dauer von 5 bis 10 Jahren gerechnet
werden. Weil der invalidenversicherungsrechtliche Eingliederungserfolg
in der Regel von kürzerer Dauer sein wird als der rein medizinische
Erfolg, darf selbst bei sonst günstigen Voraussetzungen ein unter dem
Gesichtspunkt von Art. 12 IVG relevanter Eingliederungserfolg kaum auf
eine 5 Jahre wesentlich übersteigende Dauer prognostiziert werden (BGE
101 V 50 Erw. 3b).

    Dazu kommt, dass auch die bei der Beschwerdegegnerin vorhandenen
krankhaften Nebenbefunde die Dauerhaftigkeit des Eingliederungserfolges
in Frage zu stellen vermögen. Zwar schliessen laut den Ausführungen des
Experten das Bestehen der leichten Coxarthrose rechts sowie die Adipositas
einen dauernden Eingliederungserfolg der Hüftoperation links nicht von
vorneherein aus. Denn nach den vorliegenden statistischen Unterlagen
scheine eine beidseitige Coxarthrose das Resultat einer auf der einen
Seite vorgenommenen intertrochanteren Osteotomie nicht in massiver
Weise zu beeinflussen; dies treffe noch weniger auf die als günstiger
zu bezeichnenden Ergebnisse von Totalprothesen zu. Allerdings müsse
berücksichtigt werden, dass die von einer Arthrose befallene andere Hüfte
aller Voraussicht nach früher oder später auch operiert werden müsse. - In
bezug auf die Bedeutung der Adipositas erklärt Prof. T., dass statistische
Grundlagen fehlten, die brauchbare Schlüsse hinsichtlich der Beziehung
zwischen dem Gewicht des Patienten und den Resultaten der verschiedenen
Hüftoperationen erlauben würden. Es treffe zu, dass ein erhebliches
Übergewicht (über 100 kg) einen nicht zu vernachlässigenden Risikofaktor
im Hinblick sowohl auf postoperative Komplikationen als auch auf die
mechanische Beanspruchung der sanierten Hüfte darstelle. Eine gewöhnliche
Adipositas, die nicht beispielsweise von Herzinsuffizienz oder Diabetes
begleitet werde, sei bei der Beurteilung des jeweiligen Einzelfalles
jedoch nicht von wesentlicher Bedeutung. - Dagegen verbietet es die
vorhandene Spondylarthrose der Lendenwirbelsäule, mit der erforderlichen
Wahrscheinlichkeit einen dauerhaften Eingliederungserfolg anzunehmen. Laut
Prof. T. ist es zwar möglich, dass die Auswirkungen der Totalprothese
auf die Symptome des Wirbelsäulenschadens günstig sein können. Indessen
bestünden wenig Aussichten, dass diese Verbesserung dauerhaft sein
werde. Dies sei um so weniger der Fall, als mit einer Verschlechterung
der Spondylarthrose gerechnet werden müsse, wenn die Coxarthrose rechts
fortschreite.

    c) Fehlt es somit an der Dauerhaftigkeit des Eingliederungserfolges,
so ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Bundesamtes für
Sozialversicherung gutzuheissen, ohne dass geprüft werden muss, ob der
von der Hüftoperation zu erwartende Eingliederungserfolg im Sinne von
Art. 12 Abs. 1 IVG auch wesentlich wäre ...

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid
des Obergerichts des Kantons Aargau vom 9. April 1973 aufgehoben.