Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IV 28



101 IV 28

9. Urteil des Kassationshofes vom 21. März 1975 i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden. Regeste

    Art. 117 und 229 StGB.

    1. Ein Bauunternehmer oder -leiter, der eine Gefahr für Leib und
Leben anderer setzt, muss alle notwendigen Massnahmen zur Verhinderung
einer Schädigung vorkehren (Erw. 2 lit. a u. b).

    2. Frage der adäquaten Kausalität bei Unterlassungsdelikten (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Am 2. Mai 1972, ungefähr 17.10 Uhr ereignete sich in S.  im Bereich
eines von den Firmen X. und Y. ausgehobenen Wasserleitungsgrabens ein
Unfall. Die Grabenteile der beiden Firmen stiessen in einem Winkel
von 30 bis 40o aufeinander. Im Los 1 (Firma Y.) waren seit einem Tag
Arbeiter damit beschäftigt, einen 30 m langen und fast 3 m tiefen Graben
auszuheben. Am Nachmittag des 2. Mai wurde auch im Los 2 (Firma X.) mit der
Aushubarbeit begonnen. Als die Baggermaschine der Firma X. in unmittelbarer
Nähe der Grenze beider Lose eingesetzt war, hielten sich Arbeiter der Firma
Y. wenige Meter davon entfernt im Grabenteil von Los 1 auf. In Richtung
Grenze zu Los 2 war der Graben bereits beinahe bis zur Endtiefe ausgehoben.

    Als gegen Abend des 2. Mai D. im Grenzbereich von Los 1 zu Los 2
beschäftigt war, stürzte der Graben teilweise ein. Die Arbeitskollegen
wollten D. zu Hilfe kommen, bewirkten jedoch dabei einen weiteren
Einsturz. Von den insgesamt sechs verschütteten Arbeitern starben zwei
an den Folgen der erlittenen Verletzungen.

    X., der in seinem Los die Bauführung innehatte, befand
sich am Nachmittag des 2. Mai zweimal während kurzer Zeit auf der
Baustelle. Obschon er sah, dass der von der Firma Y. ausgehobene Graben
nicht verspriesst war und Arbeiter sich darin aufhielten, sah er sich nicht
veranlasst, dieselben dahin zu instruieren, dass während der Baggerarbeiten
niemand im Graben sein dürfe.

    B.- Mit Urteil vom 12. Juni 1974 sprach der Kreisgerichtsausschuss
Oberengadin X. der fahrlässigen Gefährdung durch Verletzung der Regeln
der Baukunde sowie der fahrlässigen Tötung schuldig und verurteilte ihn
zu einer Busse von Fr. 500.--.

    Eine gegen diesen Entscheid erhobene Berufung wies der
Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden am 20./21. November 1974 ab.

    C.- X. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das angefochtene
Urteil vollumfänglich aufzuheben und an die Vorinstanz zu neuer Beurteilung
zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 229 Abs. 2 StGB ist strafbar, wer bei der Leitung oder
Ausführung eines Bauwerkes die anerkannten Regeln der Baukunde fahrlässig
ausser acht lässt und dadurch Leib und Leben von Menschen gefährdet.

    Die Vorinstanz erblickt die Verletzung der Bauregeln durch den
Beschwerdeführer darin, dass er entgegen der Vorschrift der bundesrätlichen
Verordnung über die Unfallverhütung beim Graben- und Schachtbau sowie bei
ähnlichen Arbeiten vom 13. September 1963 es unterlassen habe, die Arbeiter
der Bauunternehmung Y. vor dem drohenden Einsturz zu warnen. Ferner wird
ihm ein Verstoss gegen Art. 16 der erwähnten Verordnung vorgeworfen, da
er das Aushubmaterial auf der Bergseite des Grabens habe deponieren lassen.

    X. macht demgegenüber geltend, er habe davon ausgehen dürfen, dass
die Arbeiter der Firma Y. vom Verbot, sich während der Baggerarbeiten im
Graben aufzuhalten, Kenntnis hätten. Er sei auch gar nicht berechtigt
oder rechtlich verpflichtet gewesen, diesen Arbeitern Befehle zu
erteilen. Vielmehr wäre es nach seiner Meinung Aufgabe der Bauleitung
gewesen, die Einhaltung der Bauregeln zu überwachen und nötigenfalls
durchzusetzen. Ferner habe das Aushubmaterial ohne weiteres auf der
Bergseite deponiert werden dürfen.

Erwägung 2

    2.- a) Nach den für den Kassationshof verbindlichen Feststellungen hat
der Beschwerdeführer gesehen, dass sich bei Beginn des Baggereinsatzes
im unverspriessten Graben Leute der Firma Y. ungefähr 6-7 m von der
Losgrenze entfernt aufgehalten haben und dass bei seinem zweiten Besuch
diese Arbeiter in einer Distanz von nur 5-6 m zum Bagger standen. Als
Fachmann kannte X. die Gefahren einer solchen Situation genau. Er
wusste ausserdem - wie der Beschwerde zu entnehmen ist -, dass K. sich
nicht auf dem Bauplatz befand und bloss ein unqualifizierter Mann die
Stellung eines "Vorarbeiters" einnahm. Unter den gegebenen Umständen
bestand für den Beschwerdeführer in seiner Eigenschaft als Bauleiter
eine Verpflichtung, nicht nur seine eigenen Arbeiter, sondern auch
diejenigen der andern Baufirma dahin zu instruieren, dass sich während
der Baggerarbeiten niemand im Graben aufhalten dürfe. Die Unterlassung
einer diesbezüglichen Instruktion stellt eine Verletzung der von Art. 2
der genannten bundesrätlichen Verordnung geforderten Sorgfaltspflicht und
somit auch einen Verstoss gegen Art. 229 Abs. 2 StGB dar. Offenbar hat X.
nachträglich gemerkt, dass er zu einer Warnung verpflichtet gewesen wäre;
denn sonst hätte er nicht - entgegen dem aus den Akten sich ergebenden
Sachverhalt - behauptet, die Arbeiter im Graben gewarnt zu haben.

    Im übrigen wäre die Verpflichtung des Beschwerdeführers zur Warnung
selbst dann nicht entfallen, wenn K. oder ein erfahrener Vorarbeiter
sich auf dem Bauplatz aufgehalten hätten. Der Umstand, dass noch andere
Personen derselben Verpflichtung unterworfen waren, vermag X. nicht zu
entlasten. Man muss sich zudem fragen, ob er nicht seinem Baggerführer
die verbindliche Weisung hätte erteilen müssen, nicht näher als etwa 8
m an den Graben heranzufahren, solange sich noch Arbeiter darin befanden.

    b) Der Einwand des Beschwerdeführers, er habe keine Befehlsgewalt
über die Arbeiter der Firma Y. gehabt, hilft ihm nicht. Gewiss macht
sich grundsätzlich noch nicht strafbar, wer jemanden nicht warnt, der
sich in eine Gefahr begibt. Wer hingegen einen gefährlichen Zustand
selber schafft, ist nach ständiger Rechtsprechung verpflichtet, die
durch die Umstände gebotenen Vorsichtsmassnahmen zu treffen (BGE 90 IV
250 mit Verweisungen). Demnach muss ein Bauunternehmer oder -leiter,
der eine Gefahr für Leib und Leben anderer setzt, alle notwendigen
Massnahmen zur Verhinderung einer Schädigung vorkehren. Im vorliegenden
Fall haben X. und sein Baggerführer die Einsturzgefahr herbeigeführt
bzw. dieselbe erhöht. Deshalb hätte der Beschwerdeführer nicht nur seine
eigenen Arbeiter, sondern auch die übrigen von der Gefahr betroffenen
Warnen müssen. Ob die gefährdeten Personen in einem rechtlichen
Subordinationsverhältnis zu ihm standen, spielt dabei keine Rolle.
Der gleichen Verpflichtung hätte er nämlich auch gegenüber unbeteiligten
Dritten - etwa im Graben spielenden Kindern - nachkommen müssen.

    c) Dem Umstand, dass das Aushubmaterial auf der Bergseite des
Grabens abgelagert wurde, kommt keine selbständige Bedeutung zu. Er
vergrösserte jedoch nach der Auffassung der Vorinstanz und nach allgemeiner
Lebenserfahrung sowohl das Risiko des Einsturzes wie auch das Ausmass
seiner Folgen. Die Einwände, welche der Beschwerdeführer dagegen vorbringt,
sind nicht zu hören, da sie sich gegen tatsächliche Feststellungen des
Kantonsgerichtsausschusses richten, die für den Kassationshof verbindlich
sind (Art. 277bis Abs. 1 BStP).

Erwägung 3

    3.- Da der Beschwerdeführer durch seine fahrlässige Verletzung der
Bauregeln den Tod von zwei Arbeitern bewirkt hat, sind neben Art. 229
StGB auch die Voraussetzungen der fahrlässigen Tötung nach Art. 117 StGB
erfüllt. X. bestreitet hingegen den adäquaten Kausalzusammenhang zwischen
einer allfälligen Pflichtverletzung und dem Tod der beiden Arbeiter.

    a) Adäquate Kausalität liegt allgemein vor, wenn eine Ursache nach
dem gewöhnlichen Lauf der Dinge geeignet war, einen solchen Erfolg
herbeizuführen oder zu begünstigen. Rechtserhebliche Kausalität ist
zu verneinen, wenn die natürliche Verursachung so weit ausserhalb der
normalen Lebenserfahrung liegt, dass die Folge nicht zu erwarten war (BGE
98 IV 173 mit Verweisungen). Da Gegenstand des vorliegenden Verfahrens
ein Unterlassungsdelikt (Unterlassung einer Warnung) bildet, geht es
hier nicht um die reale, sondern um eine hypothetische Kausalität. Es
muss nämlich geprüft werden, ob der verpönte Erfolg nach allgemeiner
Lebenserfahrung hätte abgewendet werden können, wenn der Täter die ihm
gebotene Pflicht zu handeln beachtet hätte (H. SCHULTZ, Einführung in
den Allgemeinen Teil des Strafrechts, 2. Auflage, Bd. I, S. 109).

    b) Sowohl für einen Laien als auch erst recht für den Beschwerdeführer
als Fachmann war es klar, dass der Einsatz des Baggers unter den gegebenen
Umständen die Gefahr des Einsturzes des unverspriessten Grabens wesentlich
erhöhte. Es entsprach dem normalen Lauf der Dinge, dass durch derartige
Baggerarbeiten ein Einsturz ausgelöst werden konnte - und zwar mit immer
grösserer Wahrscheinlichkeit, je näher der Bagger zum bereits ausgehobenen
Graben gelangte - und dass dadurch die darin beschäftigten Arbeiter den
Tod finden konnten. Daran ändert der Umstand nichts, dass die Arbeiter die
Gefahr hätten erkennen und den Graben verlassen sollen. Gewiss weiss auch
jemand ohne Bildung, dass ein schmaler und tiefer Graben einstürzen und
das herabfallende Erdreich Menschen erschlagen kann. Ebenso bekannt ist
aber, dass viele Leute derartige offensichtliche Gefahren nicht beachten,
was sich auch im vorliegenden Fall deutlich gezeigt hat.

    Es ist somit davon auszugehen, dass der Einsatz des Baggers eine
erhebliche Gefahr für Leib und Leben der Arbeiter der Firma Y. bedeutete
und den Tod zweier dieser Arbeiter herbeigeführt hat. Nach menschlichem
Ermessen hätte der Beschwerdeführer diese Todesfolge durch eine
entsprechende Warnung verhindern können. Daher lässt sich die adäquate
Kausalität zwischen der unterlassenen Warnung und dem Tod der beiden
Arbeiter nicht in Abrede stellen.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.