Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IV 149



101 IV 149

39. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 21. Mai 1975 i.S. Zahnd
gegen Generalprokurator des Kantons Bern und Gabriele Regeste

    Art. 117 StGB. Bei Unterlassungsdelikten ist der natürliche
Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten des Täters und dem Erfolg zu
bejahen, wenn ohne die Unterlassung der Erfolg mit Sicherheit oder an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre. Es genügt
nicht, dass die unterlassene Handlung den Erfolg bloss möglicher- oder
sehr wahrscheinlicherweise verhindert hätte.

Sachverhalt

    A.- Am 24. Juli 1972 richtete der dipl. Installateur Aebi in der Küche
der Carmen Gabriele an der Werkgasse 21a in Bern einen Gasdurchlauferhitzer
ein. (Gleichzeitig installierte er im Wohnzimmer einen Gasofen und
am 6. September 1972 in der Küche einen weitern solchen Apparat).
Den Gasdurchlauferhitzer hatte Aebi beim Städtischen Gaswerk Bern bezogen.

    Am 31. Januar 1973 meldete Aebi auf dem Formular G4 die am 24. Juli
und 6. September 1972 in der Wohnung der Carmen Gabriele vorgenommenen
Installationen dem Gaswerk Bern gemäss Art. 10 und 11 der städtischen
Verordnung vom 31. März 1971. Er tat dies, indem er die Meldung dem als
Werber beim Gaswerk angestellten Zahnd persönlich übergab. Dieser hatte
zwar mit den von den Installateuren zu erstattenden Meldungen und mit
der Kontrolle von Installationen grundsätzlich nichts zu tun. Da er auf
Grund seines Arbeitsverhältnisses jedoch mit den privaten Installateuren
einen guten Kontakt hatte, weigerte er sich auch nicht, Meldungen von
Installateuren über ausgeführte Installationen entgegenzunehmen und an die
zuständige Installationskontrolle des Gaswerkes weiterzuleiten. So kam es,
dass Zahnd die genannte Meldung von Aebi zur Registrierung zunächst an
das Erdgasbüro weitergab. Von dort gingen die Meldungen jeweils wieder an
Zahnd zurück, der sie dann an die Installations-Kontrolle weiterzuleiten
hatte. Im Falle der Carmen Gabriele verlegte jedoch Zahnd die an ihn
zurückgelangte Meldung in seinem Büro. Die Weiterleitung an das für
Kontrollen zuständige Installationsbüro unterblieb.

    Am 24. Juli 1973 fand die von der Arbeit heimkehrende Carmen
Gabriele den bei ihr zu Besuch weilenden Bruder Salvatore Gabriele im
Wohnschlafzimmer tot vor. Anlässlich der durchgeführten Legalinspektion
wurde im Blut der Leiche 70% CO-Hb vorgefunden. Todesursache war eine
akute Kohlenmonoxydvergiftung. Das giftige Gas stammte von dem in der
Küche eingerichteten Durchlauferhitzer. Das Kohlenmonoxyd hatte sich
wegen unvollständiger Verbrennung des an sich kohlenmonoxyd-freien
Erdgases gebildet.

    B.- Mit Urteil vom 5. September 1974 erklärte der Gerichtspräsident
VII von Bern Aebi schuldig der fahrlässigen Tötung i.S. von Art. 117
StGB und der fahrlässigen Gefährdung durch giftige Gase gemäss Art. 225
StGB und verurteilte ihn zu 20 Tagen Gefängnis, unter Zubilligung des
bedingten Strafvollzuges auf eine Probezeit von 2 Jahren.

    Mit gleichem Urteil wurde Zahnd der fahrlässigen Tötung schuldig
erklärt und mit Fr. 300.-- gebüsst.

    Das Obergericht des Kantons Bern bestätigte am 10. Dezember 1974 den
erstinstanzlichen Entscheid.

    C.- Zahnd führt Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt Freisprechung
von Schuld und Strafe.

    D.- Der Generalprokurator des Kantons Bern und die Zivilkläger Giovanni
und Irma Gabriele beantragen Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das Obergericht wirft dem Beschwerdeführer vor, in die
von Aebi durch die unsorgfältige Einstellung des installierten
Durchlauferhitzers geschaffene tödliche Gefahrsituation in
pflichtwidriger Weise nicht eingegriffen zu haben, indem er die
ihm von Aebi zugekommene Installationsmeldung vom 31. Januar 1973
nicht an die Installationskontrolle des Gaswerkes weiterleitete
und so eine diese Gefahr voraussichtlich behebende Kontrolle des
Durchlauferhitzers verunmöglichte. Damit wird dem Beschwerdeführer ein
unechtes Unterlassungsdelikt zur Last gelegt (dazu HAFTER: Lehrbuch,
allg. Teil, S. 77 Ziff. 2 und SCHWANDER: Schweiz. Strafgesetzbuch,
2. Aufl. Nr. 156). Wie die Begehungsdelikte, sind auch die
Unterlassungsdelikte nur strafbar, wenn die dem Beschuldigten zur Last
gelegte Unterlassung für den eingetretenen, vom Strafgesetz verpönten
Enderfolg kausal war. Schon HAFTER stellt fest (aaO S. 83 Ziff. IV),
dass mechanisch betrachtet das Nichthindern eines von einem Dritten
geschaffenen tödlichen Gefahrszustandes bei Verwirklichung der Gefahr
(z.B. Tötung) zwar an sich nicht Verursachung dieses Erfolgs sein kann;
beim Unterlassungsdelikt fehle also der mechanische Kausalzusammenhang
zwischen menschlichem Versagen und dem strafbaren Erfolg. Juristisch -
sagt HAFTER - sei jedoch natürliche Kausalität vorhanden, "wenn ohne
die pflichtwidrige Untätigkeit der schädigende Erfolg nicht eingetreten
wäre". Diese juristische Deutung des natürlichen Kausalitätsbegriffes
und seine Anwendung auf Unterlassungsdelikte sei gerechtfertigt,
da es den Anschauungen des täglichen Lebens und dem Sprachgebrauch
entspreche, wenn man erkläre, dass der Bahnwärter, Bergführer oder Soldat,
welcher pflichtwidrig untätig geblieben sei, den eingetretenen Schaden
"verursacht" habe. Ähnlich überlegt auch SCHWANDER, wenn er sagt (aaO):
"Dem Täter wird vorgeworfen, er habe an der Gefährdung oder Verletzung
insofern Anteil, als er es unterlassen habe, in einen gefährlichen
Kausalverlauf - für den der Täter selber nicht verantwortlich zu sein
braucht - einzugreifen und den Erfolg abzuwenden". Dem Täter werde also
vorgeworfen, einen verhängnisvollen Kausalverlauf nicht unterbrochen zu
haben. In solchen Fällen bestehe natürlicher Kausalzusammenhang, "wenn
die vom Täter erwartete Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne
dass der verbotene Erfolg entfiele". Denselben Standpunkt vertritt auch
SCHULTZ (Das Unterlassungsdelikt, S. 24). Nach diesen Autoren ist beim
Unterlassungsdelikt mithin erforderlich, dass der vom Gesetz verpönte
Erfolg ohne die pflichtwidrige Unterlassung nicht eingetreten wäre,
oder dass die vom Täter erwartete Handlung zum sonstigen Geschehen nicht
hinzugedacht werden kann, ohne dass der verbotene Erfolg entfiele.

Erwägung 2

    2.- a) Das Obergericht betrachtet - im Gegensatz zum Beschwerdeführer
- diese Voraussetzungen im vorliegenden Falle als erfüllt. Die
gegensätzlichen Ansichten sind darauf zurückzuführen, dass die
Vorinstanz die Auffassung vertritt, zur Bejahung des natürlichen
Kausalzusammenhanges bei Unterlassungsdelikten genüge es, wenn bei
pflichtgemässem Tätigwerden des Täters der Eintritt des schädigenden
Erfolgs "sehr wahrscheinlich" verhindert worden wäre, währenddem der
Beschwerdeführer die Meinung verficht, zur Bejahung des natürlichen
Kausalzusammenhanges bei Unterlassungsdelikten sei unerlässlich, dass
feststehe, dass der schädigende Erfolg durch die Vornahme der vom Täter
geforderten Handlung "mit Sicherheit oder wenigstens mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit" verhindert worden wäre.

    b) Es ist zunächst abzuklären, ob der Kassationshof diese Streitfrage
prüfen darf, da nach der Rechtsprechung der Entscheid, ob in einem
konkreten Straffall zwischen dem Verhalten des Täters und dem strafbaren
Enderfolg ein natürlicher Kausalzusammenhang bestehe, in den Bereich des
Tatsächlichen gehört, welcher der Überprüfung durch den Kassationshof
nicht untersteht (Art. 277 bis Abs. 1 BStP; BGE 97 IV 245 E. 4; 98 IV
173 E. 2). Wenn der Kassationshof an die Feststellung des Sachrichters,
ob zwischen dem Verhalten des Täters und dem strafbaren Enderfolg ein
natürlicher Kausalzusammenhang bestehe oder nicht, an sich auch gebunden
ist, so darf er bei seiner Rechtskontrolle doch stets dann eingreifen, wenn
in einer an ihn gerichteten Nichtigkeitsbeschwerde geltend gemacht wird,
der Sachrichter sei bei seiner Entscheidung von einem bundesrechtswidrigen
Begriff des natürlichen Kausalzusammenhanges ausgegangen. Denn die Frage,
ob dem so sei oder nicht, ist eine Rechtsfrage.

    c) In Übereinstimmung mit der oben zitierten Lehre ist davon
auszugehen, dass der Begriff des natürlichen Kausalzusammenhanges
zwischen dem Verhalten des Täters und dem strafbaren Enderfolg wie
bei den Begehungsdelikten so auch bei den (echten und unechten)
Unterlassungsdelikten seinem Wesen und Begriffe nach stets
voraussetzt, dass das Verhalten des Täters nicht bloss möglicher- oder
wahrscheinlicherweise, sondern mit einem hohen Grade der Wahrscheinlichkeit
oder mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Ursache des
strafbaren Enderfolgs sei (BGE 86 IV 220 E. 2; SCHULTZ, aaO S. 40; ferner
die bei KARL ENGISCH: Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen
Tatbestände, S. 30 und Anm. 2 zustimmend zitierte Reichsgerichtspraxis;
ebenso Kommentar SCHÖNKE/SCHRÖDER, 16. Auflage, S. 49 Note 141). Trifft
dies nämlich bloss möglicher- oder nur wahrscheinlicherweise zu, so
bedeutet das nichts anderes, als dass das Verhalten des Täters ebensowohl
auch nicht die Ursache des strafbaren Erfolgs sein könnte. Der verpönte
Erfolg kann in einem solchen Falle also - unbekümmert um das Verhalten
des Täters - möglicherweise auch durch ganz andere Ursachen bewirkt
worden sein.

    Im vorliegenden Fall stellt die Vorinstanz fest, dass das Gaswerk die
Installation bei Eingang der Meldung "zwar nicht mit Sicherheit", aber
"sehr wahrscheinlich" kontrolliert hätte. Eine amtliche Kontrolle hätte
m.a.W. auch aus anderen, betriebsinternen Gründen unterbleiben können. In
der Tat ergibt sich aus den weiteren, noch zu erörternden Feststellungen
des angefochtenen Urteils, dass im Jahre 1973 ein einziger aus einer
grösseren Zahl neu installierter Durchlauferhitzer kontrolliert wurde,
und dass sogar der Installationschef des Gaswerks diesen Kontrollen keine
grosse Bedeutung zumass. Bei dieser Sachlage kann nicht gesagt werden,
die pflichtgemässe Weiterleitung der Installationsmeldung vom 31. Januar
1973 durch den Beschwerdeführer hätte den Tod Salvatore Gabrieles mit
Sicherheit oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert.