Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 II 77



101 II 77

16. Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. Februar 1975 in Sachen Miewag
Autovermietung AG gegen Naphtaly. Regeste

    Verjährung.

    Art. 135 Ziff. 2 OR. Die Adhäsionsklage als Unterbrechungsgrund. Der
im Strafverfahren formgerecht erhobene Zivilanspruch unterbricht die
Verjährung, wenn er aus einem Ereignis hergeleitet wird, der Gegenstand
einer Strafuntersuchung war (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Roger Naphtaly, geboren 1952, lenkte am frühen Morgen des 14. April
1971, ohne einen Führerausweis zu besitzen, den Personenwagen Chrysler
160 GT, welcher der Miewag Autovermietung AG (Miewag) gehörte und für
die Zeit vom 7. bis 13. April 1971 vermietet war, auf der Autobahn N 3
von Zürich nach Richterswil. Er fuhr auf dem Gemeindegebiet Horgen gegen
die Mittelleitplanke, wobei der Wagen schwer beschädigt wurde.

    Die Miewag meldete ihre Schadenersatzforderung am 30. September 1971
bei der Bezirksanwaltschaft Zürich an, die wegen des Unfalles vom 14. April
1971 und andern Tatbeständen gegen Naphtaly eine Strafuntersuchung
führte. Am 6. Juli 1972 setzte sie die Schadenersatzforderung von
Fr. 9'103.55 in Betreibung. Naphtaly erhob Rechtsvorschlag.

    Mit Eingabe vom 26. Juli 1972 ersuchte die Miewag
das Friedensrichteramt der Stadt Zürich um Durchführung der
Sühneverhandlung. Naphtaly blieb dieser fern, worauf der Friedensrichter
am 20. September 1972 an das Bezirksgericht die Weisung ausstellte.

    B.- Am 1. November 1972 klagte die Miewag gegen Naphtaly beim
Bezirksgericht Zürich auf Bezahlung von Fr. 8'981.55 sowie Fr. 25.--
Zahlungsbefehlskosten.

    In der Klageantwort vom 22. Januar 1973 erhob der Beklagte gegen diese
Schadenersatzforderung die Verjährungseinrede. In ihrer Stellungnahme
vom 27. Februar 1973 anerkannte die Klägerin die Verjährung für Fr. 503.65
und setzte die Forderung auf Fr. 8'477.90 herab. Mit Beschluss vom 30. März
1973 nahm das Bezirksgericht von der Herabsetzung der Klage Kenntnis und
verwarf die Verjährungseinrede.

    Das Obergericht des Kantons Zürich, I. Zivilkammer, hob diesen
Entscheid am 14. Mai 1973 auf Rekurs des Beklagten auf und wies das
Bezirksgericht an, über die Verjährungseinrede neu durch Urteil oder
Vorurteil zu entscheiden.

    Das Bezirksgericht Zürich hiess die Klage am 12. Oktober 1973 für Fr.
8'477.90 gut.

    Auf Berufung des Beklagten wies das Obergericht des Kantons Zürich
am 5. Juni 1974 die Klage ab.

    C.- Die Klägerin beantragt mit der Berufung, das vorinstanzliche
Urteil aufzuheben und die Klage gutzuheissen, eventuell die Sache zu
neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückweisen.

    Der Beklagte beantragt, auf die Berufung nicht einzutreten, eventuell
sie abzuweisen.

    D.- Die Klägerin focht das Urteil des Obergerichtes auch mit kantonaler
Nichtigkeitsbeschwerde an. Das Kassationsgericht des Kantons Zürich trat
am 12. August 1974 auf sie nicht ein.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz ist mit den Parteien der Ansicht, die aus
Art. 41 f. OR hergeleitete Klageforderung unterliege der einjahrigen
Verjährungsfrist des Art. 60 Abs. 1 OR. Diese Frist fing am 14. April 1971
zu laufen an und war am 6. Juli 1972, als die Klägerin die Forderung in
Betreibung setzte, abgelaufen. Streitig ist, ob das am 30. September 1971
beim Untersuchungsrichter gestellte Schadenersatzbegehren als Klage im
Sinne des Art. 135 Ziff. 2 OR zu verstehen und die Verjährung unterbrochen
ist. Das Obergericht hat das - im Gegensatz zum Bezirksgericht - verneint.

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 135 Ziff. 2 OR wird die Verjährung unter anderem
durch Klage vor einem Gericht unterbrochen. Nach der Rechtsprechung wird
der Begriff der Klage durch das Bundesrecht bestimmt und ist darunter jene
prozesseinleitende oder vorbereitende Handlung des Klägers zu verstehen,
mit der er zum ersten Mal in bestimmter Form den Schutz des Richters
anruft (BGE 59 II 406, 55 II 312 und dort erwähnte Entscheide). Auch die
Adhäsionsklage im Strafprozess unterbricht die Verjährung, wenn sie mit
der erforderlichen Bestimmtheit erhoben wird. Die Verjährung wird nicht
schon dadurch unterbrochen, dass der Geschädigte in der Strafuntersuchung
erklärt, er werde den Zivilanspruch vor Gericht geltend machen, oder in der
Verhandlung beantragt, die Forderung sei auf den Zivilweg zu verweisen;
er muss vielmehr gegenüber den Strafbehörden den Schadenersatzanspruch
beziffern oder die Feststellung der rechtlichen Grundlagen seines
Ersatzanspruches begehren. Der Schädiger hat ein schützenswertes Interesse,
die Art und Höhe der gegen ihn gestellten Forderungen zu kennen (BGE 100
II 343/44 Erw. 3, 91 II 437 Erw. 10, 60 II 202/203).

    b) Es ist anderseits eine Frage des kantonalen Prozessrechtes, ob und
unter welchen Voraussetzungen Zivilansprüche im Strafverfahren geltend
gemacht werden können (BGE 63 I 59 Erw. 3). Nach § 192 der zürcherischen
StPO kann die Klage auf Schadenersatz entweder neben der Strafklage
durch einen schriftlichen oder mündlichen Antrag beim Strafgericht oder
selbständig beim zuständigen Zivilgericht erhoben werden (Abs. 1). Die
Schadenersatzklage gilt auch dann als beim Strafgericht eingereicht, wenn
sie spätestens fünf Tage vor der Hauptverhandlung beim Untersuchungsbeamten
angemeldet worden ist (Abs. 2).

    Am 21. September 1971 stellte der damalige Anwalt der Klägerin bei der
Bezirksanwaltschaft Zürich das Gesuch, ihm das amtliche Formular "Erklärung
betreffend Schadenersatzansprüche und Vorladung zur Hauptverhandlung"
und zu gegebener Zeit eine Kopie der Anklageschrift zuzustellen. Er
erhielt am 22. September 1971 das erwähnte Formular, worauf er es am
30. September 1971 ausgefüllt und unterzeichnet der Bezirksanwaltschaft
einreichte. Aus der "Erklärung" ergibt sich, dass die Klägerin in der
gegen den Beklagten geführten Strafuntersuchung betreffend "SVG-Vergehen"
usw. eine Schadenersatzforderung von Fr. 8'477.90 stellte, als Geschädigte
eine Vorladung zur Hauptverhandlung vor Gericht verlangte und gemäss §
10 Abs. 2 der StPO vom Recht Kenntnis nahm, das Schadenersatzbegehren
nachträglich abzuändern. Diese Erklärung ist ein im Sinne des § 192 der
zürcherischen StPO beim Untersuchungsbeamten eingereichter Antrag an das
Strafgericht und damit eine den Formerfordernissen des kantonalen Rechts
entsprechende Schadenersatzklage. Jedenfalls nimmt auch das Obergericht
nicht an, die Klägerin habe kantonalrechtliche Formvorschriften verletzt.

    c) Die Vorinstanz ist jedoch der Meinung, als Klage im Sinne des
Art. 135 Ziff. 2 OR gelte die Anmeldung des Schadenersatzbegehrens -
entsprechend dem Wesen des Adhäsionsverfahrens - nur dann, wenn die
eingeklagten Tatbestände mit dem behaupteten Schaden unmittelbar
zusammenhängen, was hier nicht der Fall sei. Die Klägerin hält
dem entgegen, die verjährungsunterbrechende Wirkung der Anmeldung
des Schadenersatzanspruches dürfe nicht davon abhängen ob der
Untersuchungsrichter gegen den Schädiger Anklage erhebe oder nicht;
andernfalls entstehe eine unerträgliche Rechtsunsicherheit, was mit dem
Zweck der erwähnten Vorschrift nicht vereinbar sei.

    Diese Kritik ist begründet. Richtig ist, dass Schadenersatzansprüche
nur dann adhäsionsweise geltend gemacht werden können, wenn sie aus einem
Schadenereignis hergeleitet werden, das Gegenstand einer Strafuntersuchung
bildet. Ob der Untersuchungsrichter über bestimmte Tatbestände Anklage
erhebt und ob der Strafrichter den Angeklagten verurteilt oder freispricht,
ist für die Beurteilung der Zivilansprüche von Bedeutung (Sachurteil
oder Prozessurteil). Dagegen hat der Ausgang des Strafverfahrens keinen
Einfluss auf die Frage, ob der formgerecht erhobene Zivilanspruch als
Klage aufzufassen sei und daher verjährungsunterbrechende Wirkung habe. Die
Ansicht des Obergerichtes hätte die unbillige Folge, dass der Geschädigte
einen Anspruch wegen eines von seinem Willen unabhängigen Entscheides der
Strafbehörde nicht durchsetzen könnte, obwohl er ihn im Strafverfahren
formgerecht erhoben hat (vgl. Urteil des Kantonsgerichtes St. Gallen,
veröffentlicht in SJZ 28 S. 86). Es kann sich bei der Klage nicht anders
verhalten als bei der Betreibung. Auch bei dieser hängt die Unterbrechung
der Verjährung nicht vom weiteren Lauf des Verfahrens ab. Dabei genügt
sogar die Einreichung des Betreibungsbegehrens, auch wenn die Zustellung
des Zahlungsbefehls unterbleibt (vgl. von TUHR/ESCHER, OR 226; BECKER,
N. 22 zu Art. 135 OR).

    d) Die Klägerin leitet den Schadenersatzanspruch aus dem Unfall vom
14. April 1971 ab, der Gegenstand einer Strafuntersuchung war. Aus den
Akten geht hervor, dass die Kantonspolizei Zürich am 18. April 1971
der Bezirksanwaltschaft Horgen über das Schadensereignis schriftlich
Bericht erstattete; dass die Bezirksanwaltschaft Horgen den Beklagten
noch am gleichen Tage zur Sache verhörte und in der Folge die Akten
der Bezirksanwaltschaft Zürich überwies, bei der gegen den Beklagten
bereits eine Strafuntersuchung wegen anderer Tatbestände hängig war. Die
Bezirksanwaltschaft Zürich hätte der Klägerin das Formular betreffend
"Schadenersatz und Vorladung zur Hauptverhandlung" nicht zugestellt, wenn
sie der Meinung gewesen wäre, das Schadensereignis vom 14. April 1971
sei nicht Gegenstand einer bei ihr hängigen Strafuntersuchung. Sie hat
allerdings die Straftatbestände der Entwendung eines Motorfahrzeuges zum
Gebrauch (Art. 94 SVG) und der Verletzung von Verkehrsregeln (Art. 31
Abs. 1 und 32 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 90 SVG), die als Grundlage
für den Schadenersatzanspruch in Frage kamen, aus Überlegungen, die aus
den Akten nicht ersichtlich sind, anscheinend nicht näher untersucht
und jedenfalls nicht in die Anklage aufgenommen. Das Bezirksgericht
Zürich hat den Beklagten - entsprechend der Anklage - wegen anderer
Delikte, d.h. des Fahrens ohne Führerausweis (Art. 95 Ziff. 1 Abs. 1
SVG) und pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall (Art. 92 Abs. 1 SVG),
verurteilt. Der Ausgang des Strafverfahrens ist jedoch, wie dargelegt,
für die hier interessierende Frage unerheblich. Entscheidend ist, dass
die Klägerin den formgerecht angemeldeten Schadenersatzanspruch aus einem
Ereignis ableitet, das Gegenstand einer Strafuntersuchung war.

    Ist demnach der Antrag der Klägerin an die Bezirksanwaltschaft
Zürich vom 30. September 1971 als Klage im Sinne des Art. 135 Ziff. 2
OR zu verstehen, so ist die Verjährung unterbrochen worden. Unter diesen
Umständen kommt nichts darauf an, dass die Vorinstanz nicht geprüft hat,
ob auf den Schadenersatzanspruch der Klägerin die längere Verjährungsfrist
des Art. 60 Abs. 2 OR anzuwenden sei.

Erwägung 3

    3.- Auf das Anbringen des Beklagten, der Untersuchungsrichter sei
unzuständig gewesen, das Schadenersatzbegehren entgegenzunehmen, und
deshalb sei die Klägerin in der Strafuntersuchung und vor dem Strafgericht
Horgen nicht als Geschädigte aufgeführt worden, kommt nichts an. Wenn der
Gläubiger, dessen Klage wegen Unzuständigkeit des angesprochenen Richters
zurückgewiesen worden ist, seinen Anspruch nicht binnen 60 Tagen nach
der Zurückweisung geltend macht und die Verjährungsfrist binnen dieser
Nachfrist abläuft, gilt die Forderung allerdings als verjährt (Art. 139
OR). Der Beklagte behauptet jedoch nicht, die Strafbehörden hätten das
Schadenersatzbegehren wegen Unzuständigkeit förmlich zurückgewiesen und
der Klägerin den Beschluss eröffnet, worauf sie bis zur Einreichung der
Klage beim Zivilrichter mehr als 60 Tage habe verstreichen lassen. Er
hat auch im kantonalen Verfahren keine entsprechenden Behauptungen
aufgestellt. Art. 139 OR kommt ihm daher nicht zugute.

Erwägung 4

    4.- Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache an das
Obergericht zurückzuweisen, damit es die Schadenersatzforderung der
Klägerin beurteile. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der
Beklagte zugegebenermassen das schädigende Ereignis durch Nichtbeherrschen
des Fahrzeuges (Art. 31 Abs. 1 SVG) schuldhaft herbeigeführt hat.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird, soweit darauf einzutreten ist, gutgeheissen, das
Urteil des Obergerichts (I. Zivilkammer) des Kantons Zürich vom 5. Juni
1974 aufgehoben und die Sache zu neuer Beurteilung im Sinne der Erwägungen
an die Vorinstanz zurückgewiesen.