Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 II 360



101 II 360

60. Urteil der II. Zivilabteilung vom 24. Dezember 1975 i.S.
Erbengemeinschaft Rühle gegen Sumatra Bau AG. Regeste

    Berufung; Art. 48 Abs. 1 OG.

    Letztinstanzliche Erkenntnisse im zürcherischen Baueinspracheverfahren
sind keine Endentscheide.

Sachverhalt

    A.- Die Sumatra Bau AG beabsichtigt, auf ihren Grundstücken
Kat. Nrn. 370 und 1113 an der Schifflände 18 in Zürich ein Hotel zu
erstellen. Dieses soll nach dem von den Baupolizeibehörden bewilligten
Projekt ebenso wie das inzwischen abgebrochene alte Gebäude auf die
Grenze zum Nachbargrundstück Kat. Nr. 369 zu stehen kommen. Eigentümerin
dieses Grundstückes ist die durch Frida, Rolf und Heidi Rühle gebildete
Erbengemeinschaft.

    B.- Die Erben Rühle hatten gegen das ursprünglich ausgeschriebene
Hotel-Projekt keine Baueinsprache erhoben. Anfangs Oktober 1974 begann
die Sumatra Bau AG mit dem Abbruch des alten Gebäudes. In der Folge
wurde eine Abänderung des Bauprojektes (Verschiebung des Kamins)
ausgeschrieben. Hiegegen erhob die Erbengemeinschaft privatrechtliche
Baueinsprache beim Einzelrichter im summarischen Verfahren des Bezirkes
Zürich. Die Erben Rühle machten geltend, die ursprünglichen Baupläne seien,
abgesehen von der Verschiebung des Kamins, auch sonst wesentlich abgeändert
worden; es handle sich im Grunde genommen um ein neues Bauvorhaben. Unter
anderem beanstandeten sie, dass das projektierte Gebäude in Verletzung des
massgebenden Grenzabstandes unmittelbar auf die Grenze zu ihrem Grundstück
gebaut werden solle.

    Der Einzelrichter wies die Einsprache mit Entscheid vom 21. Mai
1975 ab. Zu der von den Klägern gerügten Verletzung des Grenzabstandes
führte er aus, das abgeänderte Projekt der Beklagten stelle gegenüber
dem ursprünglichen, das von den Klägern nicht angefochten worden sei,
keine Ausweitung, sondern im Gegenteil eine Reduktion dar; es sei deshalb
unerfindlich, inwiefern die Kläger durch die Projektänderung beschwert
sein sollten.

    C.- Das Obergericht des Kantons Zürich hat am 13. Oktober 1975 einen
von den Klägern gegen den Entscheid des Einzelrichters eingereichten
Rekurs abgewiesen. Was die Frage der Nichteinhaltung des Grenzabstandes
betrifft, gelangte es zum Schluss, die Kläger hätten gegen das Bauprojekt
der Beklagten nicht rechtzeitig im Sinne von Art. 674 Abs. 3 ZGB Einspruch
erhoben und daher ihr Recht verwirkt, die Beseitigung oder Unterlassung
der Baute zu fordern.

    D.- Gegen den obergerichtlichen Beschluss haben die Kläger beim
Bundesgericht Berufung erhoben mit dem Antrag, der Beklagten sei in
Aufhebung des angefochtenen Entscheides die Ausführung des beanstandeten
Projektes zu verbieten. Zur Begründung beschränken sie sich auf die Rüge,
der vorinstanzliche Entscheid verletze Art. 685 Abs. 2 in Verbindung mit
Art. 674 ZGB.

    Die Beklagte beantragt, es sei auf die Berufung nicht einzutreten;
allenfalls sei diese abzuweisen oder die Sache zu neuer Entscheidung an
das Obergericht zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- In erster Linie ist zu prüfen, ob es sich beim angefochtenen
Beschluss um einen Endentscheid im Sinne von Art. 48 OG handelt, gegen
welchen die Berufung an das Bundesgericht zulässig ist. Als Endentscheid
im Sinne dieser Bestimmung ist nach der neueren Rechtsprechung des
Bundesgerichts ein Erkenntnis zu betrachten, durch das entweder über den
materiellen Anspruch entschieden oder dessen Beurteilung aus einem Grunde
abgelehnt wird, der endgültig verbietet, dass der gleiche Anspruch zwischen
den gleichen Parteien nochmals geltend gemacht wird (BGE 100 II 287 Erw. 1;
98 II 154 ff. Erw. 1 mit Zitaten). Ein Endentscheid liegt unter anderem
dann nicht vor, wenn nur um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht wurde,
der streitige Anspruch mithin zum Gegenstand eines neuen Verfahrens
gemacht werden kann (BGE 97 II 187 Erw. 1).

    Das Bundesgericht hat sich letztmals in BGE 100 II 287 ff. mit
der Frage befasst, ob letztinstanzliche Entscheidungen im zürcherischen
summarischen Verfahren als endgültig im Sinne von Art. 48 OG zu betrachten
sind. Die Frage stellte sich dort unter dem Gesichtspunkt der beschränkten
Rechtskraft der im summarischen Verfahren ergangenen Entscheide. Diese sind
nämlich für den ordentlichen Richter nicht verbindlich, so dass der gleiche
Rechtsstreit vor diesem jederzeit neu aufgerollt werden kann. Trotzdem hat
das Bundesgericht die Berufungsfähigkeit eines im summarischen Verfahren
gefällten Entscheides grundsätzlich bejaht, indem es davon ausging,
dass ein solcher in der Regel doch für längere Zeit Wirkungen entfalten
werde und sogar Gegenstand von Vollstreckungsmassnahmen bilden könne.
Es beschränkte die Zulässigkeit der Berufung allerdings auf jene Urteile,
die nicht zwangsläufig zu einem ordentlichen Verfahren Anlass gäben,
wie dies bei vorsorglichen Massnahmen der Fall sei (BGE 100 II 289 Erw. 1).

Erwägung 2

    2.- a) Das zürcherische Baueinspracheverfahren, das in den §§ 299
ff. der Zivilprozessordnung (ZPO) geregelt ist, bildet einen Teil des
summarischen Verfahrens. Es dient der Wahrung privater Rechte, die durch
ein Bauvorhaben verletzt werden könnten, und ist vom administrativen
Baubewilligungsverfahren streng zu unterscheiden. Den Charakter einer
vorsorglichen Massnahme hat die Baueinsprache insofern, als sie auf die
einstweilige Untersagung der Errichtung der projektierten Baute zielt. §
302 ZPO schreibt in Absatz 1 vor:

    "Durch das Bauverbot wird dem Bauherrn die Ausführung der

    Baute einstweilen untersagt. Dem Einsprecher wird aber angezeigt,
   dass er den Streit innerhalb acht Tagen von der Mitteilung an beim

    Friedensrichter einzuleiten und, sofern eine Ausgleichung nicht
zustande
   komme, die Weisung binnen drei Wochen von der Mitteilung des Verbotes
   an dem zuständigen Richter einzureichen habe, widrigenfalls in beiden
   Fällen die Einsprache erlösche."

    Im Vergleich zu gewöhnlichen vorsorglichen Massnahmen weist die
zürcherische Baueinsprache indessen die Besonderheit auf, dass jedermann,
der sich durch ein Bauvorhaben in seinen Rechten beeinträchtigt glaubt,
eine Einsprache (Gesuch um einstweiliges Bauverbot) innert einer Frist von
vierzehn Tagen von der öffentlichen Bekanntmachung des Bauprojektes an beim
Gericht zu erheben hat (§ 300 Abs. 1 ZPO). § 300 ZPO bestimmt in Absatz
2 weiter, dass derjenige, der nicht innerhalb dieser Frist ein Bauverbot
verlangt, jede Einsprachemöglichkeit gegen die Baute verwirkt, sofern es
sich nicht um Vorrichtungen handelt, welche aus dem Baugespann und den
Plänen nicht deutlich zu ersehen waren. (Vorbehalten bleiben nach Absatz
3 der erwähnten Bestimmung immerhin die Rechte des Eigentümers gegenüber
widerrechtlicher Überbauung seines Grund und Bodens). Die Abweisung
des Antrages auf Erlass eines vorläufigen Bauverbots wird in der Praxis
der Unterlassung der Baueinsprache gleichgestellt (ZR 69/1970, Nr. 32,
S. 89). Zu einer abweichenden Behandlung besteht denn auch kein Anlass.

    b) Die in § 300 Abs. 2 ZPO vorgesehene Verwirkungsfolge wurde aus dem
Gesetz betreffend die Zürcherische Rechtspflege von 1874/1880 übernommen
und stammt somit aus einer Zeit, da das Sachenrecht noch kantonal
geregelt war (ZR 73/1974, Nr. 28, S. 69). Damals war der kantonale
Gesetzgeber ohne weiteres befugt, im Prozessrecht die Verwirkung
materiellrechtlicher Ansprüche vorzusehen. Die Rechtslage änderte sich
jedoch mit dem Inkrafttreten des Zivilgesetzbuches und der Ablösung
des kantonalen Sachenrechts durch das eidgenössische. Das den Kantonen
verbliebene Prozessrecht darf die Verwirklichung des Bundesprivatrechts
weder verunmöglichen noch übermässig erschweren (BGE 96 II 437 Erw. 3;
GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht, 2. Aufl., S. 64). Es kann
daher auch nicht die Verwirkung bundesrechtlicher Ansprüche für den
Fall, dass diese nicht innert bestimmter Frist durch Klage geltend
gemacht werden, vorsehen (vgl. MEIER-HAYOZ, N. 143c zu Art. 685/686
ZGB). Eine solche Verwirkungsfolge ist materiellrechtlicher Natur und
kann deshalb nur vom Bundesrecht selbst festgelegt werden; ausgenommen
bleiben selbstverständlich Ansprüche aus den den Kantonen vorbehaltenen
Bereichen des Privatrechts. Diese Auffassung vertreten auch Kassations-
und Obergericht des Kantons Zürich (ZR 69/1970, Nr. 32, S. 89; 73/1974,
Nr. 28, S. 69).

Erwägung 3

    3.- a) Bei dem von den Klägern geltend gemachten Unterlassungsanspruch
handelt es sich um einen solchen bundesrechtlicher Natur. Nach Art. 686
Abs. 1 ZGB ist es zwar Sache der Kantone, die Abstände festzusetzen, die
bei Grabungen und Bauten zu beobachten sind. Ob durch die streitige Baute
der gegenüber dem klägerischen Grundstück einzuhaltende Grenzabstand
verletzt würde, wie die Kläger behaupten, beurteilt sich somit nach
kantonalem Recht und ist daher der Prüfungsbefugnis des Bundesgerichts
entzogen. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet indessen nicht
der Grenzabstand als solcher. Streitig ist vielmehr, ob die Kläger heute
noch einen Unterlassungsanspruch geltend machen können oder ob sie ihn
verwirkt haben.

    b) Nach Art. 685 Abs. 2 ZGB finden auf Bauten, die die vom kantonalen
Recht festgesetzten Abstände nicht einhalten oder gegen andere Vorschriften
des Nachbarrechts verstossen, die Bestimmungen betreffend überragende
Bauten Anwendung. Diese finden sich in Art. 674 ZGB, dessen Absatz
3 lautet:

    "Ist ein Überbau unberechtigt, und erhebt der Verletzte, trotzdem
   dies für ihn erkennbar geworden ist, nicht rechtzeitig Einspruch, so
   kann, wenn es die Umstände rechtfertigen, dem Überbauenden, der sich in
   gutem Glauben befindet, gegen angemessene Entschädigung das dingliche
   Recht auf den Überbau oder das Eigentum am Boden zugewiesen werden."

    Die Folgen einer Verletzung kantonaler Abstandsvorschriften bestimmen
sich mithin ausschliesslich nach Bundesrecht (BGE 82 II 399 Erw. 3).

    Für den Entscheid der Frage, ob den Klägern der aus ihrem
Eigentumsrecht fliessende, auf Unterlassung der Errichtung oder auf
Beseitigung einer dem Nachbarrecht widersprechenden Baute gerichtete
Abwehranspruch (Art. 641 Abs. 2 und 679 ZGB) noch zusteht oder ob sie
diesen verwirkt und demzufolge die Nichteinhaltung des Grenzabstandes
gemäss Art. 674 Abs. 3 ZGB zu dulden haben, ist nach dem Gesagten die im
zürcherischen Prozessrecht enthaltene Regelung der Anspruchsverwirkung
unbeachtlich. Das bedeutet, dass die Kläger durch die Abweisung ihrer
Baueinsprache nicht davon ausgeschlossen sein können, beim ordentlichen
Richter Klage auf Unterlassung der Errichtung oder allenfalls auf
Beseitigung der streitigen Baute zu erheben. Diese Möglichkeit muss ihnen
von Bundesrechts wegen offen bleiben. Schliesst aber der angefochtene
Entscheid die Kläger von der Geltendmachung ihrer Rechte im ordentlichen
Verfahren nicht aus, handelt es sich dabei nicht um einen Endentscheid
im Sinne von Art. 48 OG.

Erwägung 4

    4.- Zur Vermeidung von Unklarheiten ist darauf hinzuweisen, dass
Art. 674 Abs. 3 ZGB unter rechtzeitigem Einspruch nicht etwa nur die
gerichtliche Geltendmachung des Unterlassungsanspruches versteht. Wer sich
durch ein Bauvorhaben in seinem Eigentum oder in seinen Nachbarrechten
verletzt fühlt, braucht dies dem baulustigen Nachbarn lediglich rechtzeitig
mitzuteilen und ihm kundzutun, dass er sich für den Fall der Ausführung des
Projektes alle Rechte vorbehalte (vgl. BGE 53 II 221 ff., insbes. 224 und
225; 95 II 11 unten. Ebenso die Kommentare MEIER-HAYOZ, N. 45, WIELAND,
N. 8b, LEEMANN, N. 38 und HAAB, N. 15 zu Art. 674 ZGB). Es handelt sich
hier um eine sogenannte Rechtsverwahrung, mit der bezweckt wird, den
Abwehranspruch aufrechtzuerhalten (MEIER-HAYOZ, N. 46, WIELAND, N. 8b,
LEEMANN, N. 39 und HAAB, N. 15 zu Art. 674 ZGB). Sache des Baulustigen
ist es dann zu entscheiden, ob er das Risiko einer späteren Beseitigung
der Baute auf sich nehmen oder durch Anhebung einer Feststellungsklage
die Rechtslage vorher einer Klärung zuführen will.

    Sollten sich die Parteien über die Frage der Einhaltung des
Grenzabstandes nicht noch verständigen können, wird es Sache des
ordentlichen Richters sein, auf Klage der einen oder andern Partei hin
zu entscheiden, ob der von den Klägern gegen das Bauprojekt der Beklagten
erhobene Einspruch noch als rechtzeitig im Sinne von Art. 674 Abs. 3 ZGB
betrachtet und ob der Beklagten der gute Glaube zugebilligt werden kann.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Auf die Berufung wird nicht eingetreten.