Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 II 218



101 II 218

38. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 14. Juli 1975
i.S. Weber gegen Weber-Leibundgut. Regeste

    Art. 603 ZGB.

    Für güterrechtliche Forderungen des überlebenden Ehegatten haften
die Erben des vorverstorbenen solidarisch.

Sachverhalt

                      Aus dem Tatbestand:

    A.- Der am 5. Juni 1961 in Zollikon verstorbene Heinrich
Weber-Leibundgut hinterliess als gesetzliche Erben seine Ehefrau Lina
Weber-Leibundgut sowie die beiden Söhne Heinz und Rudolf Hans Weber. In
einem Testament hatte der Verstorbene unter anderem bestimmt, seiner
Ehefrau sei als Vorschlagsanteil, eingeschlossen eingebrachtes Gut,
der Betrag von Fr. 100'000.-- auszubezahlen.

    B.- Am 21. März 1972 ging beim Bezirksgericht Meilen eine Klage
von Lina Weber-Leibundgut gegen den Sohn Rudolf Hans Weber ein, mit dem
Rechtsbegehren, dieser sei zu verpflichten, der Klägerin solidarisch mit
seinem Bruder Heinz den Betrag von Fr. 2'400'000.-- nebst 5% Zins seit
9. September 1968 zu bezahlen. Zur Begründung wurde geltend gemacht,
die Klägerin habe erst einige Jahre nach der Auszahlung der im Testament
vorgesehenen Summe von Fr. 100'000.-- erfahren, dass der Vorschlag in
Wirklichkeit 7,5 Millionen Franken betragen habe; sie habe daher Anspruch
auf einen Drittel dieses Betrages, wofür jeder der Erben solidarisch hafte.

    In seiner Klageantwort machte der Beklagte unter anderem geltend,
es fehle ihm die Passivlegitimation, da der eingeklagte Anspruch gegen
beide Söhne gemeinsam als notwendige Streitgenossenschaft hätte gerichtet
werden müssen. Sowohl das Bezirksgericht Meilen wie das Obergericht des
Kantons Zürich wiesen diese Einrede ab.

    C.- Gegen den obergerichtlichen Entscheid erhob der Beklagte
Berufung ans Bundesgericht. Er stellt den Antrag, die Klage sei mangels
Passivlegitimation abzuweisen; eventuell sei die Streitsache zu neuer
Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht weist die Berufung ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Art. 603 ZGB stellt in Absatz 1 den Grundsatz auf, dass die Erben
für die Schulden des Erblassers solidarisch haften. Der italienische
Gesetzestext spricht im Unterschied zur deutschen und französischen
Fassung sogar von solidarischer Haftung der Erben "per i debiti della
successione". Das Gesetz ist in der Frage der Schuldenhaftung mit
Rücksicht auf die Gläubiger vom sonst massgebenden Prinzip der gesamten
Hand abgewichen. Die Gläubiger sollen nach dem Tode des Erblassers nicht
eine Mehrheit von Schuldnern belangen müssen, sondern sich für die ganze
Forderung nach ihrer Wahl an einen einzelnen oder an mehrere Erben halten
können, wobei es dann Sache der belangten Erben ist, auf ihre Miterben
Rückgriff zu nehmen (ESCHER, N. 1 und TUOR/PICENONI, N. 3 ff. zu Art. 603
ZGB; A. BAUMGARTNER, La communauté héréditaire dans le procès civil,
Diss. Lausanne 1933, S. 136 f.; BGE 71 II 222). Das Bundesgericht hat den
Grundsatz der Solidarhaftung auf die Ausrichtung von Vermächtnissen und -
wenn auch noch nicht generell - auf bestimmte Erbgangsschulden ausgedehnt,
obwohl es sich dabei nicht um Schulden des Erblassers, sondern um solche
der Erben handelt (BGE 59 II 124; 93 II 13 f.).

    Hingegen hat das Bundesgericht in einer vor dreissig Jahren
ergangenen Entscheidung die Anwendung von Art. 603 Abs. 1 ZGB auf
Forderungen einzelner Erben gegen den Nachlass abgelehnt; im darauf
folgenden Jahr ist diese Rechtsprechung - wenn auch weniger kategorisch
- bestätigt worden (BGE 71 II 222; 72 II 159 f. E. 5). Das Gericht nahm
an, der Grundsatz der Solidarhaftung sei nur im Interesse von nicht zur
Erbengemeinschaft gehörenden Gläubigern aufgestellt worden, währenddem die
Forderungen einzelner Erben gegenüber dem Erblasser im Teilungsverfahren
zu liquidieren seien.

    Die restriktive Auslegung von Art. 603 Abs. 1 ZGB in bezug
auf Forderungen einzelner Erben gegenüber dem Nachlass wird von
ESCHER kritisiert, der allerdings einräumt, dass die Ansicht des
Bundesgerichts praktische Vorteile biete (N. 1a zu Art. 603 und N. 7
zu Art. 610 ZGB). TUOR/PICENONI erheben keine Einwendungen gegen
die bundesgerichtliche Auffassung (N. 1 zu Art. 603). In BGE 86 II
337 ff. wurde der Anwendungsbereich der angeführten Rechtsprechung
eingeschränkt: Einer vom Erblasser enterbten Erbin wurde nicht zugemutet,
mit der Geltendmachung einer Forderung gegenüber dem Nachlass bis
zum Entscheid über ihre Erbenstellung in dem von ihr eingeleiteten
Testamentsanfechtungsprozess zuwarten zu müssen; Art. 603 ZGB wurde
unter den gegebenen Umständen vielmehr auch im Verhältnis unter den Erben
selber als massgebend erachtet. Dieser Entscheid lässt deutlich erkennen,
dass es nicht etwa Überlegungen grundsätzlicher Art, sondern praktische
Gesichtspunkte waren, die das Bundesgericht dazu bewogen haben, die Erben
für Forderungen eines Miterben gegen den Nachlass nicht solidarisch haften
zu lassen.

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob sich die Haftung
für Forderungen aus ehelichem Güterrecht, die vom überlebenden Ehegatten
gegenüber den Erben des vorverstorbenen geltend gemacht werden, nach
Art. 603 Abs. 1 ZGB richtet oder ob solche Forderungen entsprechend
der angeführten Rechtsprechung des Bundesgerichts der Solidarhaftung
der Erben nicht unterliegen. Dabei ist in erster Linie zu prüfen,
ob ausreichende Gründe dafür bestehen, diese Rechtsprechung auf einen
Fall wie den vorliegenden anzuwenden. Trifft dies nicht zu, kann offen
gelassen werden, ob an der erwähnten Rechtsprechung als solcher überhaupt
festgehalten werden kann.

    Wie das Bundesgericht bereits in seinem Entscheid vom 11. Oktober 1974,
der den gleichen Prozess betraf, ausgeführt hat, sind die güterrechtlichen
Ansprüche von jenen erbrechtlicher Natur klar zu unterscheiden. Die
güterrechtliche Auseinandersetzung hat der erbrechtlichen - zum mindesten
rechnerisch - vorauszugehen, denn erst nach ihrer Durchführung steht
fest, woraus die Erbschaft des verstorbenen Ehegatten besteht. Die
güterrechtlichen Ansprüche des überlebenden Ehegatten werden mit dem
Tode des andern fällig und können unabhängig von der erbrechtlichen
Auseinandersetzung zum Gegenstand eines Prozesses gemacht werden (LEMP,
N. 9, 53 f. und 59 zu Art. 212 und 213 ZGB sowie N. 11 zu Art. 214 ZGB;
CH. KNAPP, Le régime matrimonial de l'union des biens, S. 257 ff.). Das
muss auch für den Fall gelten, dass der überlebende Ehegatte selber
Erbe des vorverstorbenen ist. Auch in diesem Fall kann er mit der
Geltendmachung seiner güterrechtlichen Ansprüche nicht einfach auf die
Erbteilung verwiesen werden, da dies mit dem Vorrang der güterrechtlichen
Auseinandersetzung gegenüber der erbrechtlichen nicht vereinbar wäre. Die
bundesgerichtliche Rechtsprechung, nach welcher Art. 603 Abs. 1 ZGB für
Forderungen von Erben gegenüber dem Nachlass grundsätzlich nicht gilt,
kann deshalb auf Forderungen aus ehelichem Güterrecht keine Anwendung
finden. Der überlebende Ehegatte ist vielmehr wie ein aussenstehender
Gläubiger zu behandeln.