Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 II 125



101 II 125

25. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung 17. Juni 1975 i.S.
Mieterbaugenossenschaft "Vrenelisgärtli" gegen Heierli. Regeste

    Art. 846 Abs. 2 und 866 OR.

    Die Statuten sind einerseits Grundlage und andererseits Schranke
der Treuepflicht des Genossenschafters. Es ist keine Verletzung der
Treuepflicht gegeben, wenn ein Genossenschafter nicht von einer grösseren
in eine kleinere Wohnung wechselt und die Statuten keine ausdrückliche
Vorschrift enthalten, die das Recht der Genossenschafter zur Wohnungsmiete
auf das ausgewiesene Bedürfnis beschränkt sowie diesen zur Pflicht macht,
bei dessen Verminderung in eine den neuen Bedürfnissen genügende Wohnung
zu wechseln.

Sachverhalt

    A.- Louise Heierli ist Mitglied der Mieterbaugenossenschaft
"Vrenelisgärtli" in Zürich, die den Zweck verfolgt, ihren Mitgliedern
zeitgemässe Wohnungen zu günstigen Mietzinsen zu verschaffen. Sie bewohnt
seit über 40 Jahren eine Vierzimmerwohnung derselben an der Seminarstrasse
106, die sie wie die Mitgliedschaft nach dem Tode ihres Ehemannes auf
ihren Namen übernahm. Seit dem Wegzug ihres Sohnes am 1. April 1970 lebt
sie allein in der Wohnung.

    Die Mieterbaugenossenschaft "Vrenelisgärtli" ersuchte Frau Heierli
verschiedentlich, aus ihrer Vierzimmerwohnung in eine Dreizimmerwohnung
umzuziehen, was diese ablehnte. Sie kündigte ihr deshalb den Mietvertrag
auf den 30. September 1972. Die Kündigung wurde vom Obergericht des
Kantons Zürich am 10. Dezember 1973 ungültig erklärt. Noch während der
Rechtshängigkeit hatte die Mieterbaugenossenschaft "Vrenelisgärtli"
Frau Heierli am 24. Mai 1973 ausgeschlossen.

    B.- Am 31. Juli 1973 stellte Frau Heierli das Klagbegehren, es
sei festzustellen, dass der Beschluss der Mieterbaugenossenschaft
"Vrenelisgärtli" vom 24. Mai 1973 rechtsungültig und sie nach wie vor
Genossenschafterin sei.

    Mit Urteil vom 28. August 1974 hiess das Bezirksgericht Zürich die
Klage gut.

    Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte diesen Entscheid am
13. Januar 1975.

    C.- Auf dem Wege der Berufung beantragt die Beklagte, die Urteile
des Bezirksgerichtes sowie des Obergerichtes aufzuheben und die Klage
abzuweisen.

    Die Klägerin begehrt die Abweisung der Berufung.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 3

    3.- Die Beklagte macht geltend, das Urteil der Vorinstanz verletze
Art. 846 und 866 OR. Durch ihre Weigerung, in eine kleinere Wohnung zu
ziehen, verunmögliche die Klägerin ihr, ausgewiesene Bedürfnisse anderer
Genossenschafter zu befriedigen, hindere sie also an der Erfüllung
ihres statutarischen Zweckes. Bei der heutigen Wohnungsmarktlage
sei ihr Interesse an der Zuteilung einer grösseren Wohnung an einen
Genossenschafter mit erhöhtem Bedarf erheblicher als jenes der Klägerin,
trotz Unterbesetzung in der gleichen Wohnung zu bleiben, so dass die
Klägerin ihren Interessen eigene voranstelle, wenn sie nicht zu einem
Wohnungswechsel Hand biete. Bei einer auf der Grundlage gegenseitiger
Selbsthilfe errichteten Wohnungsbaugenossenschaft bestehe eine moralische,
soziale oder rechtspolitische Pflicht, eine zu gross gewordene Wohnung an
einen andern Genossenschafter abzugeben, der auf eine grössere Wohnung
angewiesen sei. Diese Verpflichtung ergebe sich ohne weiteres schon aus
dem Wesen der Genossenschaft im allgemeinen, zumal dann, wenn sie auf
einer während rund 25 Jahren geübten Usanz beruhe und die angebotene
kleinere Wohnung der bisherigen gleichwertig sei. Diese Pflicht habe die
Klägerin missachtet. Deren Ausschluss sei daher sowohl wegen mangelnder
Interessenwahrung wie auch aus wichtigen Gründen gerechtfertigt.

    a) Gemäss § 10 Abs. 1 der Statuten der Beklagten ist der Ausschluss
eines Mitgliedes zulässig, "wenn die gesetzlichen oder statutarischen
Pflichten als Genossenschafter verletzt Werden, namentlich, wenn ein
Genossenschafter den Interessen der Genossenschaft zuwiderhandelt".

    Eine Verletzung gesetzlicher Pflichten könnte einzig darin erblickt
werden, dass die Klägerin der ihr durch Art. 866 OR auferlegten
Treuepflicht nicht nachgelebt, d.h. die Interessen der Beklagten nicht
in guten Treuen gewahrt hätte. Die Treuepflicht beurteilt sich in erster
Linie nach dem von der Genossenschaft angestrebten Zweck und den dafür
in den Statuten vorgesehenen Mitteln (BGE 72 II 117; M. GUTZWILLER,
Zürcher Kommentar, N. 9 zu Art. 866 OR). Der weitere Statuteninhalt
ist für die Bestimmung der Treuepflicht beachtlich, wenn sich aus
diesem über die eigentliche Zweckbestimmung und die dafür vorgesehenen
Mittel hinaus besondere Pflichten der Genossenschafter ergeben (BGE 35
II 598). Die Statuten sind somit einerseits Grundlage und andererseits
Schranke der Treuepflicht des Genossenschafters. Aus ihnen müssen alle den
Genossenschaftern aus der Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen,
zu denen nicht nur jene auf Geldleistung gehören, ersichtlich sein
(BGE 46 II 319). Eine Beschränkung der Individualrechtssphäre der
Genossenschafter kann nur insoweit angenommen werden, als die Rechtssphäre
der Genossenschaft nach den Statuten erkennbar reicht (BGE 35 II 597).

    b) Die Beklagte bezweckt gemäss § 2 Abs. 1 der Statuten, "ihren
Mitgliedern zeitgemässe Wohnungen zu möglichst niedrigen Mietzinsen zu
verschaffen, sei es durch Erstellung, sei es durch Erwerb von Wohnhäusern".

    Nach welchen Grundsätzen die Wohnungen den Genossenschaftern zuzuweisen
und wie eine allfällige Nutzungsordnung zu verwirklichen sei, wird weder
im Rahmen dieser Zweckbestimmung noch sonst in den Statuten geregelt. § 8
derselben hält einzig fest, die Vermietung von Wohnungen der Genossenschaft
erfolge nur an Personen, welche die Mitgliedschaft erwerben oder bereits
besitzen; der Vorstand könne hievon jedoch Ausnahmen zulassen, wenn es
im Interesse der Wohnungsvermietung geboten erscheine. Eine ausdrückliche
Vorschrift, die das Recht der Genossenschafter zur Wohnungsmiete auf das
ausgewiesene Bedürfnis beschränkt und diesen zur Pflicht macht, bei dessen
Verminderung in eine den neuen Bedürfnissen genügende Wohnung zu wechseln,
fehlt. Die Statuten weisen in dieser Beziehung keine Lücke auf, was die
Beklagte selber indirekt dadurch anerkennt, dass sie vor den kantonalen
Instanzen das Bestehen eines diese Lücke füllenden Gewohnheitsrechtes
nicht behauptete. Ihr Hinweis in der Berufung auf eine während rund 25
Jahren geübte Usanz, nach welcher ein Genossenschafter bei Unterbesetzung
von einer grösseren in eine kleinere Wohnung zu ziehen verpflichtet
sei, ist als neue Tatsachenbehauptung gemäss Art. 55 Abs. 1 lit. c
OG nicht beachtlich. Eine derart spezifische Pflicht wie diejenige
zur Freigabe einer den effektiven Raumbedarf übersteigenden Wohnung
ergibt sich entgegen der Auffassung der Beklagten nicht ohne weiteres
aus dem Wesen der Genossenschaft, die in Art. 828 Abs. 1 OR lediglich
als organisierte Verbindung von Personen oder Handelsgesellschaften
zur Förderung oder Sicherung bestimmter wirtschaftlicher Interessen
in gemeinsamer Selbsthilfe gekennzeichnet wird. Sie könnte nur insoweit
bestehen, als die Statuten der Beklagten Art. 832 OR folgend im Rahmen der
Zweckumschreibung oder der Verpflichtung der Genossenschafter zu Geld-
und anderen Leistungen entsprechende Bestimmungen aufwiesen. Zu dem von
der Beklagten gemäss ihren Statuten gewählten Zweck gehört keineswegs
selbstverständlich auch die möglichst gute Ausnützung des vorhandenen
Wohnraumes, weil nicht einzusehen ist, inwiefern jener nur auf diesem
Wege erreicht werden könnte. Die sachliche Rechtfertigung des Anliegens
der Beklagten sowie die Wünschbarkeit seiner Durchsetzung machen dieses
noch nicht zum statutarischen Zweck. Öffentlichrechtliche Bestimmungen,
die das Recht der Genossenschafter auf Wohnraum beschränken, finden auf
die Beklagte nicht Anwendung. Wenn diese daher ihren Mitgliedern wegen
der veränderten Verhältnisse heute im Unterschied zu früher zeitgemässe
Wohnungen zu möglichst niedrigen Mietzinsen nur noch im Umfange eines
ausgewiesenen Bedürfnisses zur Verfügung stellen möchte, müsste sie ihre
Statuten entsprechend neu fassen.

    Ergibt sich also aus den Statuten der Beklagten keine Pflicht ihrer
Mitglieder, im Falle der Unterbesetzung eine grössere zugunsten einer
kleineren Wohnung freizugeben, so hat die Klägerin durch ihre Weigerung,
den Aufforderungen der Beklagten zum Wohnungswechsel nachzukommen, weder
die gesetzliche Treuepflicht noch eine statutarische Pflicht verletzt. Sie
hat aber auch keine wichtigen Gründe für den Ausschluss gesetzt. Als
solche könnten lediglich Umstände in Betracht fallen, unter denen die
Fortführung der Mitgliedschaft für die Genossenschaft vernünftigerweise
nicht mehr als zumutbar erscheint (P. FORSTMOSER, Berner Kommentar,
N. 16 zu Art. 846 OR; M. GERWIG, Schweizerisches Genossenschaftsrecht,
S. 258 f.). Auch das übrige Verhalten, namentlich dasjenige während des
vorliegenden Rechtsstreites, kann der Klägerin nicht zum Vorwurf gereichen,
nachdem ihr Rechtsstandpunkt von allen Instanzen geschützt worden war.

    c) Nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz wäre die
Klägerin zum Umzug bereit, sofern die ihr zugewiesene neue Wohnung
bezüglich Immissionen und Wohnkomfort im Vergleich zur bisherigen keine
Verschlechterung mit sich brächte. Die Beklagte ficht diese Feststellung
und auch jene, die Verständigungsbemühungen zwischen den Parteien seien
durch sie abgebrochen worden, zu Unrecht als offensichtlich auf Versehen
beruhend an. Nach ihren eigenen Anbringen hat die Vorinstanz weder eine
bestimmte Aktenstelle übersehen noch die von ihr angeführten Aktenstücke
unrichtig, d.h. nicht nach ihrer wahren Gestalt und insbesondere nicht mit
ihrem wirklichen Wortlaut wahrgenommen, wie es für eine von Amtes wegen
zu berichtigende, offensichtlich auf Versehen beruhende Feststellung
Voraussetzung wäre (BGE 96 I 196 mit Verweisungen). Die Beklagte
behauptet vielmehr einzig, die von ihr beanstandeten Feststellungen
ergäben sich nicht aus diesen Aktenstücken. Ihre Rüge erschöpft sich in
einer unzulässigen Kritik an der vorinstanzlichen Beweiswürdigung. Ist die
Klägerin aber nach der für das Bundesgericht verbindlichen Feststellung
des Obergerichtes zum Umzug bereit, sofern die ihr angebotene Ersatzwohnung
hinsichtlich Immissionen und Wohnkomfort der bisherigen entspricht, so wäre
selbst bei nachgewiesener statutarischer Verpflichtung zum Wohnungswechsel
eine Verletzung der Treuepflicht durch die Klägerin zu verneinen gewesen;
denn der von ihr als Voraussetzung für den Umzug angebrachte Vorbehalt
erscheint bei Abwägung der beidseitigen Interessen als gerechtfertigt.