Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 III 1



101 III 1

1. Entscheid vom 14. Januar 1975 i.S. Pro Artibus Establishment und Boos.
Regeste

    Betreibung einer unverteilten Erbschaft; Art. 65 Abs. 3 SchKG.

    1. Der Willensvollstrecker ist zur Entgegennahme der für die
unverteilte Erbschaft bestimmten Betreibungsurkunden legitimiert (Erw. 1).

    2. Die Aufsichtsbehörden haben im Beschwerde- und Rekursverfahren
zu prüfen, ob die Person, der Betreibungsurkunden für die unverteilte
Erbschaft zugestellt worden sind oder die eine andere Person zu deren
Entgegennahme bevollmächtigt hat, zu dem in Art. 65 Abs. 3 SchKG genannten
Kreis von Personen gehört (Erw. 3).

    3. Der Entscheid einer Aufsichtsbehörde, ein Verfahren zu sistieren,
bis ein ausländisches Gericht ein Urteil erlassen hat in einem Prozess
über eine unverteilte Erbschaft, in welchem der beschwerdeführende
Erbschaftsgläubiger nicht Partei ist, kann eine formelle Rechtsverweigerung
bedeuten (Erw. 2).

    4. Die Aufsichtsbehörden sind im Beschwerde- bzw. Rekursverfahren
befugt, vorfrageweise eine Rechtsfrage aus einem andern Rechtsgebiet zu
prüfen (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Die Erbschaftsgläubiger Pro Artibus Establishment und Robert
Boos liessen den unverteilten Nachlass der in den USA verstorbenen Frau
Elisabeth Molnar-Riportella, der sich in Verwahrung der Schweizerischen
Bankgesellschaft in Zürich befand, am 28. März 1973 mit Arrest
belegen. Zudem strengten sie gegen den Nachlass die Betreibungen
Nr. 1542 und 1543 an. Das zuständige Betreibungsamt Zürich 1 stellte die
Zahlungsbefehle den beiden Schwestern der Erblasserin, Tullah Hanley und
Amy E. Innes, beide wohnhaft in den USA, bzw. deren Vertreter Gabriel
von Réthy in Schlieren zu. Da kein Rechtsvorschlag erhoben wurde,
gab das Betreibungsamt den Fortsetzungsbegehren vom 30. Mai 1973 statt
und vollzog die Pfändung der bei der Schweizerischen Bankgesellschaft
gelegenen Vermögenswerte in der Höhe von Fr. 2'805'054.25. Diese Summe
wurde dem Betreibungsamt übergeben und ist nun bei der Zürcher Kantonalbank
hinterlegt. Die Verwertung hätte somit durchgeführt werden können, wenn
nicht inzwischen der Ehemann der verstorbenen Elisabeth Molnar-Riportella,
Vincent Riportella, am 13. August 1973 beim Einzelrichter im summarischen
Verfahren des Bezirksgerichtes Zürich ein Gesuch um Zulassung eines
verspäteten Rechtsvorschlages in den Betreibungen Nr. 1542 und 1543
gestellt hätte. Der Einzelrichter verfügte daraufhin am 14. August 1973
im Sinne einer provisorischen Massnahme die vorläufige Einstellung der
beiden Betreibungen.

    B.- Vincent Riportella erhob am 24. August 1973 Beschwerde beim
Bezirksgericht Zürich als unterer kantonaler Aufsichtsbehörde über
Schuldbetreibung und Konkurs und verlangte die Aufhebung der Betreibungen
Nr. 1542 und 1543 wegen Ungültigkeit der Zustellung der Zahlungsbefehle
an Tullah Hanley und Amy E. Innes. Er machte geltend, die Schwestern
der Erblasserin seien weder Erbinnen noch Willensvollstreckerinnen; die
Zahlungsbefehle hätten ihm als dem alleinigen Erbberechtigten zugestellt
werden müssen.

    Da der Beschwerdeführer dargetan hatte, dass er vor Gerichten
des Staates New York Prozesse anhängig gemacht habe, in denen
die Nichtigkeit der Ernennung von Tullah Hanley und Amy E. Innes zu
Testamentsvollstreckerinnen festgestellt werden solle, und in der Erwägung,
dass bei Obsiegen des Beschwerdeführers in diesen Prozessen auch die
Zustellung der streitigen Zahlungsbefehle nichtig wäre, beschloss die
untere Aufsichtsbehörde am 9. November 1973, das Geschäft einstweilen zu
sistieren. Dem Beschwerdeführer wurde aufgegeben, der Aufsichtsbehörde
innert zehn Tagen nach Hinfälligkeit des Sistierungsgrundes von dieser
Kenntnis zu geben.

    C.- Die Gläubiger Pro Artibus Establishment und Robert Boos zogen
den Beschluss der untern Aufsichtsbehörde an das Obergericht des Kantons
Zürich als obere kantonale Aufsichtsbehörde weiter und beantragten die
Aufhebung der einstweiligen Sistierung. Das Obergericht wies den Rekurs
mit Entscheid vom 28. Juni 1974 ab. Es ergänzte den angefochtenen
Beschluss in dem Sinne, dass auch den Rekurrenten aufgegeben wurde,
der unteren Aufsichtsbehörde innert zehn Tagen nach Hinfälligkeit
des Sistierungsgrundes von dieser schriftlich Kenntnis zu geben. Das
Obergericht stellte auf einen von Vincent Riportella eingereichten
Beschluss des Surrogate's Court, New York, vom 19. Dezember 1973 ab, wonach
die Mandate der beiden vorläufigen Testamentsvollstreckerinnen mit Bezug
auf sämtliche Nachlassangelegenheiten in der Schweiz mit sofortiger Wirkung
widerrufen worden waren. Die Aufsichtsbehörde nahm an, dass der Ausgang
der in New York hängigen Prozesse für das vorliegende Beschwerdeverfahren
von präjudizieller Bedeutung sei, weshalb es sich nicht rechtfertige,
dieses Verfahren fortzusetzen, bevor ein rechtskräftiger Entscheid über
die Gültigkeit der Mandate ergangen sei.

    D.- Die Firma Pro Artibus Establishment und Robert Boos erheben
gegen den Entscheid des Obergerichts Rekurs an die Schuldbetreibungs-
und Konkurskammer des Bundesgerichts mit dem Begehren, die einstweilige
Sistierung des Geschäftes aufzuheben und das Geschäft ohne Rücksicht
auf die Erledigung der vor den Gerichten des Staates New York pendenten
Verfahren zu Ende zu führen.

    Die Rekurrenten machen u.a. geltend, die Sistierung des Verfahrens und
damit die Abwälzung des Entscheides auf die New Yorker Gerichte stelle
für sie als Erbschaftsgläubiger eine untragbare Härte dar. Sie müssten
nun eventuell jahrelang warten, bis ein ausländisches Gericht einen
Prozess zwischen den Erben definitiv entschieden habe. Auch in Amerika
dauerten Prozesse über mehrere Instanzen mindestens fünf Jahre. Zudem
habe der amerikanische Richter mit der Beurteilung der Forderungen der
Rekurrenten durch die schweizerischen Gerichte gerechnet und warte auf
ihren Entscheid. Die Zustellung der Zahlungsbefehle im vorliegenden Falle
entspreche der schweizerischen Rechtsauffassung. Die Verzögerung, die
infolge der Sistierung durch die kantonalen Instanzen verursacht werde,
komme einer Rechtsverweigerung gleich und verletze Bundesrecht.

    E.- Vincent Riportella wurde Gelegenheit gegeben, eine Rekursantwort
einzureichen. In dieser beantragt er die Abweisung des Rekurses.

Auszug aus den Erwägungen:

Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 65 Abs. 3 SchKG hat die Zustellung des Zahlungsbefehls,
wenn die Betreibung gegen eine unverteilte Erbschaft gerichtet ist,
an den für die Erbschaft bestellten Vertreter oder, falls ein solcher
nicht bekannt ist, an einen der Erben zu erfolgen. Der betreibende
Gläubiger hat dem Betreibungsamt anzugeben, ob er Zustellung an einen
Vertreter oder an einen der Erben verlange; der Betreibungsbeamte hat
nicht selbst das Bestehen einer Vertretung abzuklären (JAEGER, N. 19 zu
Art. 65 SchKG). Bevor der Gläubiger eine Betreibung gegen eine unverteilte
Erbschaft einleitet, hat er sich daher bei der zuständigen Behörde nach
dem Vorhandensein eines Willensvollstreckers, Erbschaftsverwalters oder
Erbenvertreters zu erkundigen; ist ein Willensvollstrecker bestellt, so
ist dieser zur Entgegennahme der für die unverteilte Erbschaft bestimmten
Betreibungsurkunden legitimiert (BGE 71 III 162/63).

    Im vorliegenden Fall haben Tullah Hanley und Amy E. Innes in einem
nicht datierten Schreiben, das als "Erklärung und Vollmacht" bezeichnet
wird, bestätigt, dass sie von ihrer Schwester, Elisabeth Molnar-Riportella,
in deren Testament vom Juni 1969 zu Testamentsvollstreckerinnen
bestimmt worden seien. Sie anerkennen in diesem Schreiben auch die
Forderungen von Robert Boos und der Firma Pro Artibus Establishment
und erklären, sie entsprächen dem Wunsche der Gläubiger nach Ernennung
eines Zustellungsbevollmächtigten in der Schweiz, um dadurch die
Arrestnahme auf das in der Schweiz gelegene Vermögen des Nachlasses
und die Betreibung zu erleichtern. Als Bevollmächtigten der Erbschaft
ernennen sie Gabriel von Réthy in Schlieren und ermächtigen ihn, den
Arrestbefehl, die Vollzugsurkunde, den Zahlungsbefehl und sämtliche
Urkunden im Arrest- und Betreibungsverfahren sowie eine allfällige
Vorladung und Klageschrift entgegenzunehmen, Rechtsvorschlag zu erheben
oder die Forderung anzuerkennen. Dieses Schriftstück ist von den beiden
Damen Hanley und Innes unterzeichnet, und ihre Unterschriften sind
vom Schweizer Generalkonsulat in New York am 16. März 1973 beglaubigt
worden. Gabriel von Réthy hat dem Betreibungsbeamten am 8. Mai 1973 eine
Photokopie dieser "Erklärung und Vollmacht" im Büro des Amtes anlässlich
der Zustellung der Zahlungsbefehle übergeben.

    Tullah Hanley und Amy E. Innes sind vom Nachlassgericht des Kreises
New York am 19. Januar 1972 gestützt auf Art. 1412 des Surrogate's Court
Procedure Act zu vorläufigen Testamentsvollstreckerinnen bestellt worden,
nachdem sie eine Kaution von 100'000 $ geleistet hatten. Mit Verfügung vom
19. Dezember 1973 hat dasselbe Gericht die Vollmachten der provisorischen
Testamentsvollstreckerinnen mit Bezug auf Gelder, Forderungen und andere
Posten, die sich auf den Namen der Erblasserin in der Schweiz befinden,
widerrufen mit der Begründung, Vincent Riportella habe behauptet, die
Damen Hanley und Innes hätten es versäumt, die Interessen des Nachlasses
in gewissen durch Robert Boos und Pro Artibus Establishment in der Schweiz
anhängig gemachten Verfahren zu verteidigen. Gleichzeitig verfügte das
Nachlassgericht, dass Vincent Riportella die provisorische Vollmacht zur
Erbschaftsverwaltung bezüglich der in der Schweiz gelegenen Nachlasswerte
erteilt werde. In den beim Nachlassgericht in New York zwischen den Damen
Hanley und Innes einerseits und Vincent Riportella anderseits hängigen
Prozessen sind u.a. die Vollmachten der beiden Schwestern der Erblasserin,
die Gültigkeit ihrer Ernennung zu Testamentsvollstreckerinnen, das Bestehen
des von Riportella behaupteten Interessenkonflikts sowie die angebliche
Kollusion zwischen den Rekurrenten und den Willensvollstreckerinnen
umstritten.

Erwägung 2

    2.- Der Beschluss der unteren Aufsichtsbehörde, das Geschäft
einstweilen zu sistieren, bis die vor den Gerichten des Staates New
York anhängig gemachten Prozesse entschieden seien, ist nicht ein
materieller Entscheid, der eine Massnahme im Vollstreckungsverfahren
selbst zum Gegenstand hat, sondern es handelt sich um eine prozessleitende
Entscheidung. Als solche kann sie nicht mit einem Rekurs gemäss Art. 18
und 19 SchKG angefochten werden (BGE 100 III 12). Hingegen kann der
Entscheid einer Aufsichtsbehörde, eine Beschwerde erst zu behandeln,
wenn ein ausländisches Gericht ein Urteil erlassen hat in einem Prozess,
in welchem der beschwerdeführende Gläubiger nicht Partei ist, so dass
die Rechtskraft dieses Urteils ihm nicht entgegengehalten werden kann,
eine formelle Rechtsverweigerung im Sinne von Art. 18 Abs. 2 oder Art. 19
Abs. 2 SchKG oder zum mindesten eine Rechtsverzögerung bedeuten. Zwar
hat das Gesetz den Aufsichtsbehörden keine Fristen angesetzt, innert
denen sie ihre Entscheidungen fällen müssen. Nach einem allgemein
anerkannten, ungeschriebenen Grundsatz des Betreibungsrechtes sind jedoch
die Amtshandlungen, wenn das Gesetz keine Frist vorsieht, innerhalb
der durch die Umstände gebotenen Frist vorzunehmen (BLUMENSTEIN,
Handbuch des schweizerischen Schuldbetreibungsrechtes, S. 80, und
FAVRE, Droit des Poursuites, 3. Aufl., S. 65). Die ausdrückliche oder
stillschweigende Weigerung des Betreibungsamtes, eine ihm obliegende
Handlung vorzunehmen, bedeutet eine formelle Rechtsverweigerung (BGE 97
III 31 f.). Im Beschwerde- oder Rekursverfahren liegt eine solche vor,
wenn die Aufsichtsbehörde eine bei ihr eingereichte Beschwerde weder
materiell erledigt noch durch Nichteintreten entscheidet (BGE 83 III 97
Erw. 2 80 III 96 und der nicht veröffentlichte Entscheid des Bundesgerichts
vom 13. September 1968 i.S. Thomann, Erw. 1).

    Der Entscheid der Vorinstanz, mit welchem diese den Rekurs der
Gläubiger gegen den Beschluss der untern Aufsichtsbehörde, das Verfahren zu
sistieren, bis das Urteil eines ausländischen Gerichts in dem zwischen den
Erben anhängigen Prozess vorliege, abweist, kann daher beim Bundesgericht
mit einem Rekurs gemäss Art. 19 Abs. 2 SchKG wegen Rechtsverweigerung
oder Rechtsverzögerung angefochten werden.

Erwägung 3

    3.- Die Aufsichtsbehörden sind befugt, im Beschwerde-
und Rekursverfahren die Frage zu prüfen, ob die Zustellung von
Betreibungsurkunden gültig vorgenommen worden ist, d.h. an eine
Person, die nach dem Gesetz legitimiert ist, die fragliche Urkunde
entgegenzunehmen (vgl. BGE 96 III 6, 91 III 14, 90 III 15/16 und 88 III
15). Dem vorliegenden Fall liegen Betreibungen gegen eine unverteilte
Erbschaft zugrunde; die Aufsichtsbehörde muss daher prüfen, ob die Person,
der die Zahlungsbefehle zugestellt worden sind oder die eine andere
Person zu deren Entgegennahme bevollmächtigt hat (vgl. JAEGER, N. 2 zu
Art. 64 SchKG; JAEGER/DAENIKER, N. 2 zu Art. 64 SchKG; BGE 43 III 22),
ein für die Erbschaft bestellter Vertreter oder, wenn ein solcher nicht
bekannt ist, ein Erbe ist, d.h. zu den Personen gehört, die gestützt auf
Art. 65 Abs. 3 SchKG berechtigt sind, für die Erbschaft Betreibungsurkunden
entgegenzunehmen. Die Aufsichtsbehörde wird, wenn nötig, vorfrageweise
auch prüfen müssen, ob der von den betreibenden Gläubigern genannte
Vertreter für den Nachlass ordnungsgemäss bevollmächtigt war, ob ein
Widerruf dieser Vollmacht durch die zuständige Behörde stattgefunden
hat und welche Auswirkungen ein allfälliger Widerruf auf die Zustellung
der Betreibungsurkunden gehabt hat. Diese Fragen gehören teilweise dem
Zivilrecht an, und sie sind im vorliegenden Fall auch mit Problemen des
internationalen Privatrechts und des ausländischen Rechts verknüpft. Die
Aufsichtsbehörde ist zur Behandlung dieser Probleme, wenn auch bloss
vorfrageweise, zuständig; denn nach schweizerischer Rechtsauffassung ist
die vorfrageweise Prüfung einer Rechtsfrage aus einem andern Rechtsgebiet
zulässig, sofern sie nicht durch eine gesetzliche Bestimmung ausgeschlossen
wird (BGE 98 Ia 120). Dieser Grundsatz gilt auch für die Aufsichtsbehörden
über Schuldbetreibung und Konkurs (vgl. BGE 99 III 51 und 94 III 6 mit
Hinweisen).

    Im vorliegenden Fall darf daher die kantonale Aufsichtsbehörde das
Verfahren nicht sistieren, um den Entscheid der New Yorker Gerichte über
die Klage des Vincent Riportella abzuwarten. Die Aufsichtsbehörde hat das
Beschwerdeverfahren durchzuführen, wobei sie die sich stellenden Vorfragen
aus dem Gebiete des Zivilrechts, des internationalen Privatrechts und des
amerikanischen Rechts zu prüfen hat. Die Sache ist deshalb zur Behandlung
der Beschwerde des Vincent Riportella vom 24. August 1973 an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

Entscheid:

    Demnach erkennt die Schuldbetr.- und Konkurskammer:

    Der Rekurs wird gutgeheissen, der angefochtene Entscheid aufgehoben
und die Sache an die obere kantonale Aufsichtsbehörde zurückgewiesen zur
Behandlung der von Vincent Riportella in den Betreibungen Nr. 1542 und
1543 des Betreibungsamtes Zürich 1 erhobenen Beschwerde.