Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IB 405



101 Ib 405

69. Auszug aus dem Urteil vom 3. Dezember 1975 i.S. Lehmann und Fuhrer
gegen Kanton Bern und Eidg. Schätzungskommission 6. Kreis Regeste

    Enteignung nachbarrechtlicher Unterlassungsansprüche;
Minderwertsentschädigung (Art. 19 lit. a EntG).

    Voraussetzungen der von Nationalstrassen ausgehenden übermässigen
Lärmeinwirkungen: Bedeutung der sog. Grenzrichtwerte für die Spezialität
des Schadens (E. a, aa); Begriff der ruhigen Wohnzone (E. a, cc); ein
Minderwert von 10% kann noch als schwerer Schaden gelten (E. b).

Sachverhalt

    A.- Die N6 führt bei Oberwichtrach in einem Abstand von 57,5 m
bzw. 77,5 m westlich der landwirtschaftlichen Liegenschaften des Fritz
Fuhrer und der Frau R. Lehmann vorbei, die ungefähr 1100 m vom Dorfkern
entfernt sind. Die betreffende Autobahnstrecke ist am 10. Mai 1972
dem Verkehr übergeben worden. Am 3. Juli 1972 stellten die beiden
Grundeigentümer bei der Eidg. Schätzungskommission des 6. Kreises
(kurz: ESchK) das Begehren, der Staat Bern sei zu verpflichten, auf
eine Länge von 500 m eine schallschluckende Mauer oder einen Damm zu
errichten, oder ihnen allenfalls Entschädigungen von Fr. 32'000.--
und Fr. 20'000.-- zu bezahlen, weil wegen des Verkehrslärms der N6 im
Bereich ihrer Liegenschaften ein Wohnen unerträglich geworden sei. Am
26. März 1974 wies die ESchK die Begehren ab.

    Mit einer gemeinsamen Verwaltungsgerichtsbeschwerde wiederholen die
Gesuchsteller ihre Begehren vor Bundesgericht. Dieses heisst die Beschwerde
nach zwei Augenscheinen mit den Experten Prof. W. Furrer und dipl. Arch. T.
Rimli teilweise gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Nach der Rechtsprechung ist eine Entschädigung für Nachteile
aus Immissionen nur geschuldet, wenn diese schwer und intensiv sind,
den Eigentümer in besonderer Weise treffen und nicht vorhergesehen werden
konnten (BGE 94 I 300, 95 I 493, 98 Ib 331).
   a) Voraussetzung der Spezialität des Schadens

    aa) Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn die Einwirkung ausserhalb
des Normalen liegt (nicht veröffentlichtes Urteil i.S. Knecht und Kons. vom
8. Mai 1974). Das trifft in der Regel zu, wenn der Lärm von solcher Stärke
ist, dass er die von der Eidg. Expertenkommission in ihrem Bericht an
den Bundesrat von 1963 unter dem Titel "Lärmbekämpfung in der Schweiz"
aufgestellten Grenzrichtwerte klar übersteigt. Auch wenn diese Werte
keine gesetzliche Geltung haben, so kommt ihnen doch als Arbeitsergebnis
von Fachleuten die Bedeutung von Richtlinien zu, von denen der Richter
nicht ohne wichtigen Grund abweicht.

    In bereits vergleichsweise erledigten Fällen von Lärmimmissionen an
der N6 (Dr. Sigrist und L'Eplattenier/Martig) wurde die Übermässigkeit der
Immission als erfüllt angesehen, wenn insbesondere die häufigen Spitzen
(L 1) nachts den Grenzrichtwert um 9 und mehr dB (A) überschritten. Da sich
nämlich der Strassenlärm in sog. stochastischen Geräuschen äussert, die vom
Unterbewusstsein nur sehr schwer oder überhaupt nicht programmiert werden
und an die sich daher der Mensch nicht gewöhnt, wirken sich vor allem
die Lärmspitzen während der Nacht äusserst störend aus, wenn sie über die
bei 45-50 dB (A) liegende Weckschwelle deutlich hinausgehen (vorgenanntes
Urteil i.S. Knecht; Bericht der vorgenannten Expertenkommission von 1963,
S. 59; GRANDJEAN/LAUBER, Lärmimmissionen von Autobahnen, NZZ Nr. 94 vom
26.2.1973, S. 39).

    Das ist hier nach den Feststellungen des Experten Furrer bei beiden
Liegenschaften der Fall. Die Grenzrichtwerte 1963 liegen nämlich für ruhige
Wohnzonen und nachts für die häufigen Spitzen L 1 bei 55 dB (A). Sie
werden im Fall Fuhrer um 9-10 dB (A), im Fall Lehmann um 10 dB (A) im
Durchschnitt überschritten. Damit ist in beiden Fällen jene Intensität der
Lärmeinwirkung erreicht, die über den Rahmen des Normalen klar hinausgeht.
   bb) (Einwand betreffend der anzuwendenden Grenzrichtwerte)

    cc) Das weitere Vorbringen des Beschwerdegegners, dass jedenfalls
die für eine ruhige Wohnzone geltenden Grenzrichtwerte ausser Betracht
fallen müssten, weil die beiden Liegenschaften nicht in einer "Wohnzone",
sondern "im übrigen Gemeindegebiet" lägen, geht fehl. Es verkennt, dass
die in beiden Berichten erwähnten Zonen sog. Geräuschzonen sind, die sich
mit den baurechtlichen Zonen der Gemeinde keineswegs decken müssen. Ob im
gegebenen Fall eine ruhige Wohnzone im Sinne einer Geräuschzone vorliegt
und wieweit sich diese erstreckt, bestimmt sich nach den tatsächlichen
Gegebenheiten (Bericht von 1963, S. 64), d.h. den wirklich vorhandenen
Geräuschverhältnissen. Dass so betrachtet die Liegenschaften Fuhrer und
Lehmann vor dem Bau der N6 in einer ausgesprochen ruhigen Gegend lagen,
wird auch vom Staat Bern nicht in Abrede gestellt. Es rechtfertigte
sich daher, diese tatsächlichen Geräuschverhältnisse jenen einer ruhigen
Wohnzone gleichzustellen und die hiefür von der Fachkommission in ihrem
Bericht von 1963 angegebenen Grenzrichtwerte anzuwenden. Schliesslich
ist unerheblich, dass es sich bei den fraglichen Liegenschaften um
landwirtschaftliche Heimwesen und nicht um ausschliessliche Wohnbauten
handelt. Auch die Bewohner eines Bauernhauses in ruhiger Lage haben
Anspruch darauf, in ihrer Nachtruhe geschützt oder bei deren erheblicher
Beeinträchtigung durch den Betrieb eines öffentlichen Werkes dafür
entschädigt zu werden.
   b) Voraussetzung der Schwere des Schadens

    aa) Aufgrund eines Vergleichs der in den vorliegenden Fällen gemessenen
Überschreitung der Grenzrichtwerte mit den überschiessenden Lärmquoten
früher erledigter Fälle und den hiefür nach einem in Folgen von je 5%
aufsteigenden Rastersystem berechneten Minderwerte gelangten die beiden
Experten zum Schluss, dass im Fall Lehmann der Schaden 10% beträgt. Diese
auch vom Staat Bern als solche nicht bemängelte Wertung ist sachlich
begründet; sie ist weder offensichtlich falsch noch lückenhaft noch
widersprüchlich, weshalb für das Bundesgericht kein Anlass besteht,
von ihr abzuweichen (BGE 87 I 90, 94 I 291).

    Es bleibt indessen die Frage, ob ein Minderwert von 10% noch rechtlich
erheblich sei. Die Erwägungen in BGE 98 Ib 329 könnten auf den ersten
Blick zur Annahme verleiten, es sei darin die Grenze bei 15% gezogen
worden. Das entspricht jedoch nicht ihrem wahren Sinn; jener Entscheid
verweist ausdrücklich auf BGE 95 I 495, wo einzig erklärt wurde, ein
Einschlag von 15% auf den Verkehrswert müsse im Sinne von BGE 94 I 302
als erheblich gelten. Der letztgenannte Entscheid aber bezeichnete mit
keinem Wort einen Minderwert von 15% als unterste Grenze, sondern hielt
unmissverständlich fest, der unterste Grenzwert könne nicht allgemein
bestimmt werden; es sei nach den gesamten Umständen des Einzelfalles
"équitablement" zu wägen, ob die Beeinträchtigung eine erhebliche
sei. Ausgeschlossen wurde nur "un tort bénin", ein geringfügiger Schaden.
Dementsprechend hat sich das Bundesgericht in der neuesten Rechtsprechung
(genanntes Urteil i.S. Knecht) nicht auf eine bestimmte Wertgrenze
festgelegt. Im vergleichsweise erledigten Parallelfall des Dr. Sigrist
hatte die Instruktionskommission mit Zustimmung des Staates Bern einen
Minderwert von 10% noch als erheblich erachtet. Auch im vorliegenden Fall
rechtfertigt dies eine billige Würdigung aller Umstände, namentlich der
bescheidenen Verhältnisse, in denen die Beschwerdeführerin lebt und die
es ihr nicht gestatten, aus eigenen Mitteln das Nötige vorzukehren, um die
störenden Einwirkungen des Verkehrs auf der N6 in ihrem Hause zu dämpfen.

    Der Experte Rimli hat die Entschädigung für 10% Minderwert nach
sachlicher Prüfung aller Faktoren auf Fr. 5'000.-- berechnet. Keine Partei
macht etwas geltend, was zu einer anderen Wertung zwingen würde. Der
Beschwerdeführerin Nr. 1 ist daher dieser Betrag zuzusprechen.

    bb) (Verhältnisse im Fall Fuhrer.)