Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IB 30



101 Ib 30

6. Urteil des Kassationshofes vom 28. April 1975 i.S. S. gegen Obergericht
des Kantons Thurgau Regeste

    Art. 45 Ziff. 1 Abs. 3 StGB. Die Anhörung des Verwahrten oder seines
Vertreters vor dem Entscheid über die bedingte Entlassung ist zwingend
vorgeschrieben; Voraussetzung ist aber, dass die absolute Mindestdauer
der Verwahrung abgelaufen ist.

Sachverhalt

    A.- S. wurde 1969 vom Bezirksgericht Steckborn zu 6 Monaten Gefängnis
verurteilt und an Stelle des Strafvollzugs für unbestimmte Zeit nach
Art. 42 StGB verwahrt. Auf den 15. Oktober 1971 bedingt entlassen,
wurde er am 19. Mai 1972 in die Verwahrung zurückversetzt, weil ihn das
Bezirksgericht Zofingen am 2. März 1972 zu 5 Monaten Gefängnis verurteilt
hatte. Die erneute Verwahrung fing am 18. Februar 1972 zu laufen an.

    B.- Am 2. Januar 1975 stellte S. ein Gesuch um bedingte Entlassung
auf den 17. Februar 1975.

    Das Obergericht des Kantons Thurgau wies das Gesuch am 18. Februar 1975
ab. Es fällte seinen Entscheid, ohne den Gesuchsteller mündlich anzuhören,
weil es genügenden Einblick in seine Verhältnisse besitze und weil es um
eine bedingte Entlassung vor Ablauf der Mindestdauer der Verwahrung gehe.

    C.- S. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, ihn aus der
Verwahrung bedingt zu entlassen, eventuell die Sache zu neuer Beurteilung
an das Obergericht zurückzuweisen.

    Das Obergericht beantragt Abweisung der Beschwerde, das Eidg. Justiz-
und Polizeidepartement Gutheissung und Rückweisung der Sache an das
Obergericht zu neuem Entscheid.

Auszug aus den Erwägungen:

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Art. 42 Ziff. 4 Abs. 3 StGB schreibt für die Verwahrung
von Gewohnheitsverbrechern vor, dass im Falle der Rückversetzung die
Mindestdauer der neuen Verwahrung in der Regel fünf Jahre beträgt. Über
die bedingte Entlassung aus der Verwahrung nach Art. 42 StGB bestimmt
Art. 45 Ziff. 1, dass die zuständige Behörde von Amtes wegen prüft,
ob und wann die bedingte Entlassung anzuordnen ist (Abs. 1), dass sie
mindestens einmal jährlich Beschluss zu fassen hat, erstmals auf das Ende
der gesetzlichen Mindestdauer (Abs. 2), und dass sie den zu Entlassenden
oder seinen Vertreter vor dem Entscheid anzuhören hat (Abs. 3).

    Der Beschwerdeführer rügt, dass das Obergericht ihn entgegen Art. 45
Ziff. 1 Abs. 3 StGB vor dem Entscheid nicht anhörte.

Erwägung 2

    2.- a) Zur bedingten Entlassung der zu Zuchthaus oder Gefängnis
Verurteilten hat das Bundesgericht entschieden, dass die in Art. 38 Ziff. 1
Abs. 3 StGB aufgestellte Pflicht zur Anhörung des Gefangenen zwingend
ist. Die zuständige Behörde, der es obliegt, die Umstände abzuklären, auf
die sich ihr Entscheid stützen wird, kann nicht mit der erforderlichen
Sachkenntnis entscheiden, ohne sich in die Verhältnisse des Gefangenen
dadurch Einblick zu verschaffen, dass sie ihn ansieht und anhört, wobei
dieser zudem wird Angaben machen können, an die er bei seinem schriftlichen
Gesuch nicht gedacht hatte (BGE 99 Ib 350).

    Es besteht kein Grund, die Pflicht zur Anhörung des Verwahrten gemäss
Art. 45 Ziff. 1 Abs. 3 StGB enger zu fassen. Auch hier gilt, was in BGE 99
Ib 350 ausgeführt wurde: Unter dem Gesichtspunkt der Spezialprävention ist
die vorzeitige Entlassung gleich wichtig wie die Ahndung der strafbaren
Handlungen. Die Besserung des Verurteilten hängt zu einem guten Teil
davon ab. Es geht daher nicht an, einen negativen Entscheid hierüber ohne
Anhörung des Verwahrten oder seines Vertreters zu treffen.

    b) Die Pflicht zur Anhörung gemäss Art. 38 und 45 StGB besteht nur,
wenn die Mindestdauer der Strafe oder Massnahme verbüsst, die bedingte
Entlassung also nicht mehr zwingend ausgeschlossen ist.

    Wenn Art. 42 Ziff. 4 Abs. 3 StGB vorschreibt, dass im Falle der
Rückversetzung die Mindestdauer der neuen Verwahrung "in der Regel"
fünf Jahre beträgt, schliesst er eine bedingte Entlassung vor Ablauf der
fünf Jahre nicht aus. Der Verwahrte kann deshalb schon nach Ablauf der
absoluten Mindestdauer der Verwahrung von drei Jahren (bzw. zwei Dritteln
der Strafdauer, Art. 42 Ziff. 4 Abs. 1 StGB) bedingt entlassen werden.

    Der Umstand, dass ein Gesuch um bedingte Entlassung aus der
Rückversetzung in die Verwahrung schon auf den Zeitpunkt des Ablaufs der
absoluten Mindestdauer der Verwahrung gestellt wird, ändert somit an der
Pflicht zur Anhörung nichts.

    c) Indem das Obergericht weder den Beschwerdeführer noch seinen
Vertreter anhörte, hat es Art. 45 Ziff. 1 Abs. 3 StGB verletzt.

    Die Beschwerde ist in diesem Punkt gutzuheissen, der angefochtene
Entscheid aufzuheben und die Sache an das Obergericht zurückzuweisen zu
neuer Beurteilung des Gesuchs nach Anhörung des Beschwerdeführers oder
seines Vertreters.

Erwägung 3

    3.- Soweit der Beschwerdeführer den Entscheid des Obergerichts auch
materiell anficht, ist bei diesem Ausgang des Verfahrens auf die Beschwerde
nicht einzutreten.

Entscheid:

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen, der angefochtene
Beschluss aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz
zurückgewiesen.