Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IB 129



101 Ib 129

23. Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. März 1975 in Sachen
C.H. Boehringer gegen Eidgenössisches Amt für geistiges Eigentum Regeste

    Patentrecht.

    Art. 2 Ziff. 2 PatG. Begriff des Arzneimittels (Erw. 1). Eine
Erfindung, die den Träger einer formgebundenen, aber nach Zusammensetzung
und Wirkung nicht bezeichneten Substanz betrifft, fällt nicht unter das
Patentierungsverbot (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Die Firma C. H. Boehringer Sohn liess am 20. Dezember 1971 beim
Eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum das auf zwei Ansprüche lautende
Patentgesuch Nr. 18593 betreffend "Depotdragees mit exponentieller
Wirkstofffreisetzung" einreichen. Das Amt teilte der Gesuchstellerin
in einer ersten Beanstandung mit, beide Patentansprüche beträfen ein
Arzneimittel im Sinne von Art. 2 Ziff. 2 PatG, also einen Gegenstand,
der nicht geschützt werden könne, weshalb die Zurückziehung des Gesuches
erwartet werde.

    Die Gesuchstellerin widersprach und legte neu gefasste, materiell
aber unveränderte Ansprüche vor, nämlich einen Patentanspruch und einen
Unteranspruch, wobei jener lautet...

    "Depotdragee mit exponentiell verlaufender Wirkstofffreigabe, dadurch
   gekennzeichnet, dass der Wirkstoffkern Kugelform besitzt oder aus
   mehreren Kugeln zusammengesetzt ist und dass er von einer unlöslichen
   und unverdaulichen Hülle überzogen ist, die an mindestens einer

    Stelle eine Aussparung aufweist, welche sich von aussen bis mindestens
   an die äussere Begrenzung des Wirkstoffkerns heran erstreckt".

    Daraufhin wies das Amt gestützt auf Art. 59 Abs. 1 PatG in Verbindung
mit Art. 2 Ziff. 2 PatG und Art. 13 Abs. 1 PatV I das Patentgesuch am
24. Oktober 1974 zurück.

    B.- Die Gesuchstellerin ficht diese Verfügung mit
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an. Sie beantragt, das Amt anzuweisen,
die Prüfung des Patentgesuches gemäss Art. 59 Abs. 2 bis 4 PatG und
Art. 13 Abs. 2 und 3 PatV I, eventuell mit materieller Berücksichtigung
der Ausführungen der Gesuchstellerin nach Art. 59 Abs. 1 bis 4 PatG und
Art. 13 Abs. 1 und 3 PatV I, fortzusetzen.

    Das Amt schliesst auf Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Art. 2 Ziff. 2 PatG schliesst unter anderem "Erfindungen von
Arzneimitteln" von der Patentierung aus. Diese Regelung ist sozial-ethisch
begründet. Sie will die Verteuerung unentbehrlicher Arzneien durch
Monopole verhindern (BGE 99 Ib 252 Erw. 1, 91 I 220/21 Erw. 2 und dort
erwähnte Gesetzesmaterialien).

    Das Gesetz umschreibt den Begriff des Arzneimittels nicht. Auch
die Rechtsprechung hat ihn noch nicht abschliessend festgelegt,
weder in BGE 82 I 205, wo eine Zahnpasta wegen der angegebenen
"Schutzwirkung" des Fluorgehaltes als Arzneimittel betrachtet wird,
noch in dem von der Beschwerdeführerin angerufenen BGE 99 Ib 250, der
ein Verfahren zur Herstellung eines Arzneimittels wegen der Einbeziehung
einer nichtchemischen Stufe als schutzunfähig erklärt. Die Botschaft
zum Gesetzesentwurf macht klar, dass es um Stoffe und Gemische von
solchen geht (BBl 1950 I 1004), und auch das Schrifttum, das anhand der
Gesetzesmaterialien, der Pharmacopea Helvetica und der ausländischen,
besonders der deutschen Literatur den Begriff des Arzneimittels zu
umschreiben versucht, versteht darunter Substanzen und Substanzgemische
(BLUM/PEDRAZZINI, Das schweizerische Patentrecht I S. 207 ff., Anm. 9 zu
Art. 2; TROLLER, Immaterialgüterrecht, 2. Auflage, I 244 f.). Verdeutlicht
wird, dass unter Arzneimitteln selbstverständlich auch "die verschiedenen
Arzneiformen, wie Pillen, Injektionslösungen, Suppositorien usw. verstanden
sind" (Botschaft aaO; TROLLER, aaO 245 Anm. 220).

    Der deutsche Bundespatentgerichtshof legte die alte, seit 1. Januar
1968 aufgehobene Fassung des § 1 Abs. 2 Ziff. 2 PatG, wonach Erfindungen
von Arzneimitteln nicht patentiert werden konnten, dahin aus, dieses Verbot
gelte nur für die stoffliche Zusammensetzung, nicht auch für die äussere
Gestaltung des Arzneimittels und erfasse daher die abstrakte Offenbarung
einer neuen Pillen- Tabletten- oder Zäpfchenform nicht (BPatGE 77 ff.).

Erwägung 2

    2.- Das Amt für geistiges Eigentum muss die objektive Tragweite des
Patentanspruches erforschen und das Patentgesuch zurückweisen, wenn es auf
eine Umgehung des Art. 2 PatG hinausläuft (BGE 97 I 568). Im vorliegenden
Falle hat es das Gesuch zurückgewiesen, weil das erfindungsgemässe
Depotdragee zu den von der Botschaft als nicht patentierbar erachteten
Formen der Arzneimittel gehöre.

    Wohl trifft zu, dass das umschriebene Dragee als Ganzes arzneilichen
Zwecken dient. Das genügt jedoch nicht, es als Ganzes schutzunfähig zu
machen. Der Patentanspruch hat nicht eine Substanz oder ein Substanzgemisch
zum Gegenstand. Er enthält den Vorschlag, einen kugelförmigen oder aus
mehreren Kugeln zusammengesetzten Wirkstoffkern mit einer unlöslichen
und unverdaulichen Hülle zu überziehen und diese mit mindestens einer
Aussparung zu versehen, die von aussen bis wenigstens an die äussere
Begrenzung des Wirkstoffkerns heranreicht. Der behauptete erfinderische
Gedanke liegt in der Verwendung einer Hülle zur exponentiell verlaufenden
Freigabe einer formgebundenen, aber nach Zusammensetzung und Wirkung
nicht bezeichneten Substanz. Er betrifft also den Träger des (beliebigen)
Arzneistoffes. Dass gemäss Patentanspruch der Wirkstoff eine bestimmte
Form aufzuweisen hat, die auch die Gestalt der Hülle beeinflussen mag,
ist mit Art. 2 Ziff. 2 PatG nicht unvereinbar. Nicht patentierbar sind nur
die Wirkstoffe in deren verschiedenen Anwendungsformen (Pillen, Tabletten,
Zäpfchen usw.), nicht auch Gegenstände, die zu ihnen hinzutreten (Kapseln,
Oblaten und dgl.) (BLUM/PEDRAZZINI, aaO Art. 2 Anm. 10 Ziff. 11). Das
verlangte Patent berührt den Begriffsinhalt und Zweck des Art. 2 Ziff. 2
PatG daher nicht. Es läuft entgegen der Ansicht des Amtes nicht auf eine
Lockerung des Stoffschutzverbotes hinaus.

Entscheid:

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen, die angefochtene Verfügung aufgehoben
und das Eidg. Amt für geistiges Eigentum angewiesen, das Patentgesuch
18593/71 weiter zu behandeln.