Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IA 82



101 Ia 82

16. Urteil vom 4. Juni 1975 i.S. Erben des A. gegen Gemeinde X. und
Verwaltungsgericht (Steuerrekursabteilung) des Kantons Nidwalden. Regeste

    Rückwirkungsverbot; Art. 4 BV, Art. 5 Nidwald. KV

    Anwendung eines Steuergesetzes, wonach Schenkungen, die fünf Jahre
vor dem Tod des Schenkers erfolgten, besteuert werden, auf Schenkungen,
die zur Zeit der alten Steuernorm, welche nur eine Zweijahresfrist vorsah,
vollzogen waren: unzulässige Rückwirkung, wenn der Schenker erst nach
der nach Ablauf der Zweijahresfrist erfolgten Inkraftsetzung der neuen
Steuerbestimmung stirbt; massgeblicher Beziehungspunkt ist die Schenkung,
nicht der Tod des Schenkers.

Sachverhalt

    A.- Der am 9. Juli 1971 verstorbene A., der im Kanton Nidwalden
wohnhaft gewesen war, hatte am 20. November 1967 seinen Nachkommen
und Geschwistern Wertschriften mit einem Kurswert von Fr. 5'391'750.--
geschenkt.

    Die Ziffern 1 und 2 des zur Zeit der Schenkung geltenden § 30 des
Armengesetzes lauteten:

    "1. Der Staat erhebt eine Erbschafts- und Vermächtnissteuer.

    2. Der Besteuerung unterliegt das Vermögen, das durch gesetzliche

    Erbfolge, letztwillige Verfügung oder Erbvertrag jemandem zu

    Eigentum anfällt. Schenkungen oder anderweitige Vermögenszuwendungen,
   die innerhalb von 2 Jahren, vom Todestag des Erblassers zurückgerechnet,
   erfolgt sind, werden den steuerpflichtigen

    Vermächtnissen gleichgestellt."

    Am 1. Januar 1971 trat im Kanton Nidwalden ein neues Steuergesetz in
Kraft, dessen Art. 45 bestimmt:

    "Der Besteuerung unterliegt das Vermögen, das durch gesetzliche

    Erbfolge, letztwillige Verfügung, Erbvertrag oder Schenkung auf den

    Todesfall jemandem zu Eigentum anfällt. Schenkungen oder anderweitige

    Vermögenszuwendungen, die innerhalb von fünf Jahren, vom

    Todestag des Erblassers zurückgerechnet, erfolgt sind, werden den
   steuerpflichtigen Vermächtnissen gleichgestellt."

    Gestützt auf diese Bestimmung hat das Steueramt die von
A. am 20. November 1967 gemachten Schenkungen der Erbschafts-
und Vermächtnissteuer unterstellt. Eine von den betroffenen Erben
erhobene Einsprache, mit welcher geltendgemacht wurde, die Besteuerung
widerspreche dem Rückwirkungsverbot von Art. 5 KV, wurde von der
Gemeindesteuerkommission X. abgewiesen. Auch ein Rekurs an das kantonale
Verwaltungsgericht hatte keinen Erfolg.

    Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Nidwalden
(Steuerrekursabteilung) vom 17. Oktober/26. November 1973 legten die
Erben staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV und
Art. 5 KV ein.

    Das Verwaltungsgericht Nidwalden und die Gemeindesteuerkommission
beantragen Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Mit der staatsrechtlichen Beschwerde wird geltend gemacht,
der angefochtene Entscheid des Verwaltungsgerichts Nidwalden verletze
sowohl Art. 5 KV, wonach "rückwirkende Gesetze, die den Privaten neue
Belastungen auferlegen, unzulässig sind", wie Art. 4 BV (Verletzung
wohlerworbener Rechte). Es wird darin allerdings nicht dargetan, inwiefern
das in Art. 5 KV verankerte Prinzip über das bundesverfassungsmässige
Rückwirkungsverbot hinausgehe. Im angefochtenen Entscheid wurde Art. 5 KV
dahingehend ausgelegt, dass alle rückwirkenden Gesetze, die den Privaten
neue Belastungen auferlegen, unzulässig sind. Diese Auslegung deckt sich
mit dem Wortlaut der kantonalen Verfassungsbestimmung. Demgegenüber lässt
das Bundesgericht in seiner Rechtsprechung zu Art. 4 BV die Rückwirkung
regelmässig dann zu, wenn sie ausdrücklich angeordnet oder nach dem Sinn
des Erlasses klar gewollt ist, in zeitlicher Beziehung mässig ist, zu
keinen stossenden Rechtsungleichheiten führt, sich durch beachtenswerte
Gründe rechtfertigen lässt und nicht in wohlerworbene Rechte eingreift
(BGE 94 I 5 mit Verweisungen). Die kantonale Verfassungsnorm gewährt dem
Berechtigten insofern einen weitergehenden Schutz als das Bundesrecht,
als sie nach der Auslegung des Verwaltungsgerichts keine Ausnahme
vom Rückwirkungsverbot zuzulassen scheint. Ob ein Verstoss gegen das
bundesrechtliche Rückwirkungsverbot vorliegt, ist somit nicht zu prüfen,
sondern es ist vorerst einzig zu untersuchen, ob die Anwendung von Art. 45
des am 1. Januar 1971 in Kraft getretenen Steuergesetzes auf den zur Frage
stehenden Tatbestand eine Rückwirkung im Sinne des Art. 5 KV darstellt.

    a) Die Gemeindesteuerkommission hat sich darauf berufen, dass das an
der Landsgemeinde vom 26. April 1970 angenommene neue Steuergesetz nicht
rückwirkend, sondern auf den 1. Januar 1971 in Kraft gesetzt worden sei und
nur auf Nachlasssteuern Anwendung finde, die durch einen nach dem 1. Januar
1971 erfolgten Todesfall ausgelöst würden. Von einem rückwirkenden Gesetz
könne deshalb nicht gesprochen werden. Dieser Umstand reicht aber, wie
die Beschwerdeführer mit Recht geltend machen und das Verwaltungsgericht
stillschweigend anerkennt, nicht aus, um eine verfassungswidrige
Rückwirkung auszuschliessen. Nicht nur die rückwirkende Inkraftsetzung
ganzer Gesetze, sondern auch einzelne rückwirkende Gesetzesbestimmungen,
welche Privaten neue Belastungen bringen, sind unzulässig. Andernfalls
könnte das Rückwirkungsverbot durch einzelne, die Rückwirkung statuierende
Gesetzesvorschriften völlig seine Wirksamkeit verlieren.

    b) Das Verwaltungsgericht hat den angefochtenen Entscheid im
wesentlichen folgendermassen begründet: Ausgangspunkt für die Berechnung
der Frist, innert deren Schenkungen den steuerpflichtigen Vermächtnissen
gleichgestellt würden, sei der Todestag des Erblassers. Deshalb seien
die Bestimmungen des zu diesem Zeitpunkt geltenden neuen Steuergesetzes
uneingeschränkt anwendbar. Dass die Schenkungen, welche steuerfrei gewesen
wären, wenn der Erblasser vor dem 1. Januar 1971 verstorben wäre, nach
Inkrafttreten des neuen Steuergesetzes wieder von der Steuer erfasst
würden, erfülle den Tatbestand der Rückwirkung nicht. Die Rechtsordnung
des Rechtsstaates stelle eine dynamische, abänderbare Ordnung dar, und
die zeitliche Geltung der Rechtssätze sei beschränkt. Da der Erblasser
nach Inkrafttreten des neuen Steuergesetzes gestorben sei, bedeute die
Anwendung von Art. 45 nicht eine rückwirkende, sondern nur eine zusätzliche
Belastung der Rekurrenten. Diese hätten sich, solange der Erblasser noch
gelebt habe, nicht darauf verlassen können, dass sie ein für allemal
von der Erbschaftssteuerpflicht für Schenkungen befreit seien. Sie
hätten kein wohlerworbenes Recht auf deren Steuerfreiheit gehabt. Von
rückwirkender Kraft eines Steuergesetzes könne nur gesprochen werden,
wenn die Steuerpflicht an Tatbestände anknüpfe, die vor dem Inkrafttreten
des Gesetzes lägen. Die Steuerpflicht knüpfe jedoch hier an das Ableben
des Steuerpflichtigen an.

    c) Dem gegenüber machen die Beschwerdeführer geltend, sowohl der
Schenker als auch die Beschenkten hätten sich darauf verlassen dürfen,
dass eine Besteuerung nach Ablauf der Zweijahresfrist des damaligen
Gesetzes nicht mehr in Frage komme. Erst nach Ablauf dieser Frist,
nämlich am 26. November 1969, sei es zu weiteren Schenkungen des Erblassers
gekommen, im Vertrauen darauf, dass im Zeitpunkt der zweiten Schenkung jede
Erbschaftssteuerforderung für die erste ausgeschlossen gewesen sei. Die
Beschwerdeführer würden zwar anerkennen, dass es kein wohlerworbenes Recht
auf den Fortbestand einer günstigen gesetzlichen Regelung gebe. Sie wehrten
sich aber dagegen, dass trotz des ausdrücklichen Verbots der Rückwirkung
neuer Gesetze die neue fünfjährige Frist auf die Schenkungen vom Jahr
1967 ausgedehnt werde, nachdem die damals geltende Zweijahresfrist
bereits verstrichen gewesen sei. Der Erfolg sei für sie der gleiche,
ob man von einer rückwirkenden oder zusätzlichen Belastung spreche.
Zusätzliche Belastungen seien gleichbedeutend mit "neuen Belastungen",
welche durch Art. 5 KV ausgeschlossen seien.

Erwägung 2

    2.- Hinsichtlich des Begriffs der Rückwirkung wird im angefochtenen
Entscheid auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 4 BV
verwiesen. Danach liegt grundsätzlich nur dann eine Rückwirkung vor, wenn
bei der Anwendung eines Verwaltungsgesetzes an ein in der Vergangenheit
liegendes vor Erlass des den Bürger belastenden Gesetzes abgeschlossenes
Ereignis, nicht jedoch, wo an Verhältnisse geknüpft wird, die zwar noch
unter der Herrschaft des alten Rechts entstanden sind, beim Inkrafttreten
des neuen Rechts jedoch noch fortdauern (BGE 96 I 676). Im Steuerrecht
ist insbesondere dann von rückwirkender Kraft eines Gesetzes zu sprechen,
wenn die Rechtsfolge der Steuerpflicht an Tatbestände anknüpft, die vor dem
Inkrafttreten des Gesetzes liegen, nicht aber auch dann, wenn lediglich
der Umfang der Steuerpflicht nach Tatsachen bestimmt wird, die vor dem
Inkrafttreten des Gesetzes eingetreten sind (BGE 74 I 104 mit Verweisungen;
IMBODEN, Verwaltungsrechtsprechung, 4. Aufl. Bd. I S. 160 ff., A. GRISEL,
ZBl 1974 S. 242 f.).

    a) Auch wenn die geschenkten Güter möglicherweise weiterhin im
Eigentum der beschenkten Beschwerdeführer sind, so sind die Schenkungen,
die 1967 vollzogen worden sind, doch als abgeschlossene Vorgänge zu
betrachten. Dies wird vom Verwaltungsgericht denn auch zu Recht in
keiner Weise bestritten. Es fragt sich somit einzig, ob die Schenkung
steuerbegründender Faktor ist, oder ob sie nur für den Umfang der
Erbsteuerpflicht bzw. nicht einmal dafür von Bedeutung ist.

    b) Gemäss dem zur Zeit der Schenkung geltenden § 30 des Armengesetzes
erhob der Kanton Nidwalden als Mittel zur Armenunterstützung
eine Erbschafts- und Vermächtnissteuer (Ziff. 1). Eine allgemeine
Schenkungssteuer war darin nicht vorgesehen. Dagegen wurden die
Schenkungen unter Lebenden in Ziff. 2 Satz 2 unter einer Voraussetzung den
Vermächtnissen gleichgestellt. Das bedeutet indessen nicht, dass dadurch
solche Schenkungen zu Vermächtnissen wurden. Die Schenkung blieb nach wie
vor - im Gegensatz zum Vermächtnis - ein zweiseitiges Rechtsgeschäft unter
Lebenden, dessen Erfüllungszeitpunkt bzw. Vollzug entweder im schriftlichen
Schenkungsversprechen festgesetzt wird oder - bei der Handschenkung - mit
der Übergabe der geschenkten Sachen an den Beschenkten zusammenfällt. Die
Schenkung war nur dann wie ein Vermächtnis zu besteuern, wenn der
Schenker innerhalb von zwei der Schenkung folgenden Jahren verstarb.
Offenbar sollte durch diese Vorschrift die Umgehung der Erbschaftssteuer
durch Schenkungen unter Lebenden auf dem Totenbett verhindert werden.

    § 30 Ziff. 2 des Armengesetzes schuf somit zwei steuerrechtliche
Kategorien von Schenkungen, nämlich steuerfreie und steuerpflichtige
Schenkungen. Die letztgenannten erklärte das Gesetz nach den gleichen
Grundsätzen steuerbar wie die Vermächtnisse, d.h. der Umfang der
Steuerpflicht richtete sich nach den für Vermächtnisse massgebenden
Bestimmungen. Die Vorschrift hätte ebensogut lauten können:

    "Steuerpflichtig sind solche Schenkungen, bei welchen der Schenker
   innerhalb von zwei Jahren nach Vollzug der Schenkung stirbt; ist der

    Schenker zwei Jahre nach der Schenkung noch am Leben, so ist die

    Schenkung steuerfrei. Steuerpflichtige Schenkungen werden nach den
   für die Vermächtnisse geltenden Regeln besteuert."

    Die Tatsache, dass gemäss § 30 Ziff. 2 vom Todestag des Schenkers
zurückzurechnen ist, ändert nichts daran, dass der massgebliche
Beziehungspunkt die Schenkung und nicht der Tod ist.

    Wurde eine Schenkung gemacht, so bestand bezüglich der Steuerpflicht
zuerst ein Schwebezustand, der höchstens zwei Jahre betrug. Dieser
Schwebezustand endete entweder mit dem Ableben des Schenkers innerhalb
der zweijährigen Frist, oder beim Weiterleben des Schenkers mit dem
Ablauf derselben zweijährigen Frist. Starb der Schenker innerhalb von
zwei Jahren, wurde die Schenkung steuerpflichtig; lebte er nach zwei
Jahren noch - sei es auch nur einen Tag - wurde die Schenkung endgültig
steuerfrei. Der nachherige Tod des Schenkers liess die einmal erlangte
Steuerfreiheit nicht wieder dahinfallen.

    c) Im zu beurteilenden Fall erfolgte die Schenkung am 20. November
1967. Am 20. November 1969, zwei Jahre später, lebte der Schenker noch. Der
vom damals geltenden Gesetz erfasste Tatbestand (Schenkung, Weiterleben
des Schenkers nach zweijähriger Frist) war vollständig verwirklicht, der
Schwebezustand beendet, die gesetzliche Voraussetzung der Steuerfreiheit
erfüllt. Die Schenkung wurde steuerfrei. Indem das am 1. Januar 1971
in Kraft getretene neue Steuergesetz einen vor seinem Inkrafttreten
vollständig abgeschlossenen Vorgang der Besteuerung unterwirft, ist
es rückwirkend im eigentlichen Sinne. Es verstösst damit gegen Art. 5
KV, weshalb die Beschwerde gutzuheissen ist. Anders wäre es höchstens
dann gewesen, wenn das neue Steuergesetz, das die früher vorgesehene
zweijährige Frist auf fünf Jahre verlängert, während des vom alten Recht
beherrschten Schwebezustandes in Kraft getreten wäre; wenn z.B. die
Schenkung am 30. Juni 1969 erfolgt, das neue Gesetz am 1. Januar 1971 in
Kraft getreten und der Schenker am 30. September 1971, d.h. mehr als zwei
Jahre, aber weniger als fünf Jahre nach der Schenkung, gestorben wäre. In
einem solchen Fall liesse sich allenfalls die Auffassung vertreten, der
rechtserhebliche Tatbestand sei im Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen
Rechts noch nicht vollständig verwirklicht gewesen.

    d) Ist der angefochtene Entscheid schon aufgrund des Verstosses gegen
das kantonale Rückwirkungsverbot aufzuheben, so erübrigt sich, weiter zu
prüfen, ob Art. 4 BV in irgendeiner Weise verletzt sein könnte.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des
Verwaltungsgerichts Nidwalden vom 17. Oktober/26. November 1973 aufgehoben.