Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IA 463



101 Ia 463

75. Auszug aus dem Urteil vom 17. Dezember 1975 i.S. Simeone gegen
Firma Hugo Abplanalp AG und Appellationshof (I. Zivilkammer) des Kantons
Bern Regeste

    Art. 4 BV; Gesamtarbeitsvertrag, Verweigerung einer Lohnerhöhung.

    Es ist willkürlich, allein aus dem Umstand, dass ein Gastarbeiter
im Dezember in seine Heimat zurückfährt und seine Arbeit beim gleichen
Arbeitgeber im Januar oder anfangs Februar wieder aufnimmt, zu schliessen,
es sei ein neues Arbeitsverhältnis begründet worden. Unhaltbare Auslegung
einer gesamtarbeitsvertraglichen Bestimmung.

Sachverhalt

    A.- Franco Simeone war bei der Firma Hugo Abplanalp AG seit einigen
Jahren als Maurer tätig und gehörte der Lohnklasse B des zwischen den
Parteien geltenden Gesamtarbeitsvertrages, des sog. Landesmantelvertrages
für das engere Baugewerbe (LMV), an. Mit Schreiben vom 27. Februar 1975
kündigte er seine Stelle auf den 31. März 1975. Am 22. Mai 1975 erhob er
beim Arbeitsgericht Interlaken Klage gegen die Firma Abplanalp AG u.a. mit
dem Begehren, diese habe ihm den Betrag von Fr. 142.75 zu bezahlen, da sie
ihm nicht die gesamtarbeitsvertraglich festgesetzte Lohnerhöhung von 70
Rappen pro Stunde, sondern nur eine Lohnerhöhung von 30 Rappen pro Stunde
entrichtet habe. Mit Urteil vom 18. Juni 1975 wies das Arbeitsgericht
Interlaken die Klage in vollem Umfange ab. Die Nachzahlung der nicht
in vollem Umfang gewährten Lohnerhöhung lehnte es mit der Begründung
ab, es stehe dem Arbeitgeber zu, eine Reallohnkürzung vorzunehmen,
solange der dem Arbeitnehmer ausbezahlte Lohn den Betriebsdurchschnitt
der betreffenden Lohnklasse erreiche. Zudem hätte der Kläger sofort bei
Auszahlung des seiner Meinung nach zu niedrigen Lohnes beim Arbeitgeber
reklamieren müssen, was er nicht in genügender Weise getan habe.

    Gegen den arbeitsgerichtlichen Entscheid erhob Simeone insoweit,
als damit seine Forderung im Betrag von Fr. 142.75 abgewiesen wurde,
Nichtigkeitsklage wegen Verletzung klaren Rechts. Zur Begründung machte er
geltend, durch die auf dem LMV beruhende Lohnvereinbarung 1975 sei eine
verbindliche Lohnerhöhung von 70 Rappen pro Stunde festgelegt worden,
von welcher einzig durch schriftliche Vereinbarung bei ungenügender
Arbeitsleistung abgewichen werden könne. Die I. Zivilkammer des
Appellationshofs des Kantons Bern wies die Nichtigkeitsklage mit
Urteil vom 1. September 1975 ab, wobei sie sich auf die Überlegungen
des Arbeitsgerichts stützte und zudem erwog, dass das bisherige
Arbeitsverhältnis Mitte Dezember 1974 aufgelöst und anfangs Februar 1975
neu eingegangen worden sei; bei Abschluss eines neuen Vertrages habe
auch der Lohn im Rahmen der geltenden Betriebsdurchschnittslöhne neu
festgesetzt werden können.

    Den Entscheid des Appellationshofs ficht Franco Simeone mit
staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV an.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Appellationshof hat den erstinstanzlichen Entscheid
vor allem in der Erwägung bestätigt, dass beim Abschluss eines neuen
Arbeitsvertrages auch der Lohn habe neu festgesetzt werden können. Dabei
ging er von der erstmals in den Gegenbemerkungen der Beschwerdegegnerin
zur Nichtigkeitsklage aufgestellten Behauptung aus, dass das bisherige
Arbeitsverhältnis Mitte Dezember 1974 aufgelöst und anfangs Februar 1975
neu eingegangen worden sei. Ob dieser Einwand als ein neues rechtliches
Vorbringen zu betrachten ist und daher vom Appellationshof berücksichtigt
werden durfte, oder ob es sich um ein neues tatsächliches und somit im
Nichtigkeitsklageverfahren unzulässiges Vorbringen handelt, ist fraglich,
doch kann das dahingestellt bleiben, da sich die Argumentation des
Appellationshofs - wie sich zeigen wird - jedenfalls in materieller
Hinsicht als unhaltbar erweist.

    Der Appellationshof nahm an, es dürfe dann, wenn ein Gastarbeiter
im Dezember in seine Heimat zurückfahre, davon ausgegangen werden,
dass das bisherige Arbeitsverhältnis aufgelöst worden sei; wenn der
Arbeiter im Januar oder noch später zurückkehre und sich beim gleichen
Arbeitgeber melde, so werde ein neuer Arbeitsvertrag abgeschlossen. Die
Erwägung ist in dieser allgemeinen Form offensichtlich unhaltbar. Allein
aus dem Umstand, dass ein Gastarbeiter im Dezember in seine Heimat
zurückfährt und seine Arbeit beim gleichen Arbeitgeber im Januar oder
anfangs Februar wieder aufnimmt, kann klarerweise nicht gefolgert
werden, es sei ein neues Arbeitsverhältnis begründet worden. Ob in
einer länger dauernden Arbeitsunterbrechung eine förmliche Auflösung
des Arbeitsverhältnisses zu erblicken ist, hängt davon ab, wie die
Kontrahenten selber die Folgen der Abwesenheit von der Arbeit aufgefasst
haben: ob der Arbeitgeber die "Unterbrechung" wirklich als Beendigung
des Arbeitsverhältnisses betrachtete, was zur Folge hätte, dass der
Wiederantritt die Begründung eines neuen, vom bisherigen unabhängigen
Arbeitsverhältnisses bedeuten würde, und ob es ebenso der Wille
des Arbeitnehmers war, das Arbeitsverhältnis gänzlich aufzugeben und
anderswo eine Anstellung zu suchen (BGE 47 II 299). Im zu beurteilenden
Fall hat weder der Beschwerdeführer noch die Beschwerdegegnerin vor dem
Arbeitsgericht Interlaken behauptet, es habe die Meinung bestanden, das
Arbeitsverhältnis sei Mitte Dezember 1974 aufgelöst und im Februar 1975
neu begründet worden. Die Annahme des Appellationshofs, es sei anfangs
Februar 1975 ein neuer Arbeitsvertrag abgeschlossen worden, ist demnach
mit sachlichen Gründen nicht vertretbar. Selbst wenn man annehmen dürfte,
es sei ein neuer Vertrag begründet worden, so wäre zwischen den Parteien -
wie sich aus deren Aussagen vor erster Instanz ergibt - keine Vereinbarung
hinsichtlich des Lohnes zustande gekommen. Der Appellationshof scheint
offenbar anzunehmen, der Arbeitgeber könne eigenmächtig die Höhe des
Lohnes festlegen, welche Ansicht im Widerspruch zu Art. 322 Abs. 1 OR
steht, wonach der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer den Lohn zu entrichten
hat, der verabredet oder üblich oder durch Gesamtarbeitsvertrag bestimmt
ist. Lässt sich nach dem Gesagten die Argumentation des Appellationshofs
mit sachlichen Gründen nicht vertreten, so führt das im vorliegenden
Fall deshalb zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids, weil dieser
auch insoweit, als sich der Appellationshof in seiner Begründung auf die
Erwägungen des Arbeitsgerichts stützte, vor Art. 4 BV nicht standhält.

    Das Arbeitsgericht hielt dafür, dass der Arbeitgeber berechtigt sei,
eine Reallohnkürzung vorzunehmen, solange der dem Arbeitnehmer ausbezahlte
Lohn den Betriebsdurchschnitt der betreffenden Kategorie erreiche,
was im vorliegenden Fall zutreffe. Diese Auffassung widerspricht klar
Art. 357 Abs. 1 OR, wonach die Bestimmungen des Gesamtarbeitsvertrages
über den Inhalt der einzelnen Arbeitsverhältnisse während der Dauer
des Vertrages unmittelbar für die beteiligten Parteien gelten und nicht
wegbedungen werden können, sofern der Gesamtarbeitsvertrag nichts anderes
bestimmt. Abreden zwischen den beteiligten Arbeitgebern und Arbeitnehmern,
die gegen die unabdingbaren Bestimmungen verstossen, sind nichtig und
werden durch die Bestimmungen des Gesamtarbeitsvertrages ersetzt; jedoch
können abweichende Abreden zugunsten der Arbeitnehmer getroffen werden
(Art. 357 Abs. 2 OR). Art. 1 der auf dem LMV beruhenden Lohnvereinbarung
1975 hat normative Wirkung. Die Bestimmung sieht vor, dass der Arbeitgeber
seinen im Stundenlohn beschäftigten Arbeitern ab 1. Januar 1975 die Löhne
um 70 Rappen pro Stunde zu erhöhen hat und eine reduzierte Lohnerhöhung nur
auf Grund einer schriftlichen Vereinbarung mit dem Arbeitnehmer im Falle
ungenügender Arbeitsleistung vornehmen darf (Art. 1.1 und 1.3). Würde
man dem Arbeitgeber gestatten, den Grundlohn zu kürzen, bevor er die im
Gesamtarbeitsvertrag vorgesehene Lohnerhöhung gewährt, so würde man ihn
zu einem Vorgehen ermächtigen, das praktisch auf eine Gesetzesumgehung
hinausliefe. Die in Art. 1-6 der Lohnvereinbarung 1975 enthaltene Regelung
bezweckt, dem Arbeiter eine tatsächliche Lohnerhöhung zu verschaffen. Die
Erreichung dieses Zweckes würde verhindert, wenn der Grundlohn vorgängig
der Erhöhung herabgesetzt werden könnte, weshalb ein solches Verhalten
keinen Schutz verdient (BGE 79 II 83). Wortlaut und Sinn des Art. 1 der
Lohnvereinbarung sind klar; die Missachtung dieser Vorschrift stellt
demnach einen Verstoss gegen klares Recht und damit eine Verletzung von
Art. 4 BV dar (BGE 96 I 436). Ebenso verhält es sich mit dem Argument, dass
Simeone sofort bei Auszahlung des seiner Meinung nach zu niedrigen Lohnes
beim Arbeitgeber hätte reklamieren müssen, was er nicht in genügender Weise
getan habe. Diese Überlegung verstösst eindeutig gegen Art. 341 OR,
wonach der Arbeitnehmer während der Dauer des Arbeitsverhältnisses
und eines Monats nach dessen Beendigung auf Forderungen, die sich aus
unabdingbaren Bestimmungen des Gesamtarbeitsvertrages ergeben, nicht
verzichten kann. Die vorliegende Beschwerde ist daher, soweit auf sie
einzutreten ist, gutzuheissen und der Entscheid des Appellationshofs
wegen Verletzung von Art. 4 BV aufzuheben.