Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IA 378



101 Ia 378

63. Auszug aus dem Urteil vom 3. Dezember 1975 i.S. Bischoff gegen
Gemeinde Muttenz, Regierungsrat und Verwaltungsgericht des Kantons
Basel-Landschaft Regeste

    Art. 85 lit. a OG; kommunales Referendum.

    Negativer Charakter des Referendums (E. 3 und 4, Bestätigung der
Rechtsprechung).

    Der Entscheid über eine Volksinitiative braucht nicht unbedingt in
einer Urnenabstimmung getroffen zu werden (E. 5b).

Sachverhalt

    A.- Nach dem neuen basellandschaftlichen Gemeindegesetz (GG) von
1970 können Einwohnergemeinden mit mehr als 2000 Stimmberechtigten die
sog. ausserordentliche Gemeindeorganisation einführen. 156 Bürger der
Gemeinde Muttenz, die über 2000 Stimmberechtigte zählt, beantragten die
Einführung der ausserordentlichen Gemeindeorganisation. Der Gemeinderat
legte den Antrag ohne eigene Stellungnahme der Gemeindeversammlung vor,
die es indessen mit 303 gegen 91 Stimmen ablehnte, die Initiative
als erheblich zu erklären. Hiegegen ergriffen 337 Stimmberechtigte
das Referendum, indem sie die Durchführung einer Urnenabstimmung über
den Gemeindeversammlungsbeschluss bzw. die Initiative verlangten. Der
Gemeinderat lehnte dies im August 1974 ab, da ablehnende Beschlüsse der
Gemeindeversammlung nicht dem fakultativen Referendum unterständen. Karl
Bischoff focht diesen Beschluss erfolglos beim Regierungsrat und
dann beim Verwaltungsgericht des Kantons Basel-Landschaft an. Seine
Stimmrechtsbeschwerde wird vom Bundesgericht ebenfalls abgewiesen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Das Gemeindegesetz unterscheidet zwischen Gemeinden mit
ordentlicher und ausserordentlicher Organisation (§§ 47 ff., §§ 112
ff.). Bei der ordentlichen Gemeindeorganisation ist der Gemeinderat die
Exekutive; oberstes Organ ist die Gemeindeversammlung, das heisst die
Versammlung der stimmberechtigten Bürger. Bei der ausserordentlichen
Gemeindeorganisation tritt an die Stelle der Gemeindeversammlung der
Einwohnerrat. Die Stimmberechtigten können hier ihren Willen mit der
Initiative und dem Referendum zur Geltung bringen.

    Das Bundesgericht hatte sich 1973 mit dem Fall aus einer
Gemeinde mit ausserordentlicher Organisation zu beschäftigen in
welchem der Einwohnerrat den Antrag des Gemeinderats zum Bau einer
Fussgängerunterführung abgelehnt hatte, gegen den ablehnenden Beschluss
das fakultative Referendum ergriffen worden war und nach dem Entscheid des
Verwaltungsgerichts keine Urnenabstimmung stattzufinden hatte (BGE 99 Ia
524 ff.). Der Staatsgerichtshof kam in seinem Urteil in Übereinstimmung
mit dem Verwaltungsgericht zum Schluss, das Referendum könne nach dem
Gemeindegesetz nur gegen positive, nicht auch gegen negative Beschlüsse
des Einwohnerrats ergriffen werden. Wenn die Stimmberechtigten einem
vom Gemeinderat gestellten, aber vom Einwohnerrat abgelehnten Antrag zum
Durchbruch verhelfen wollten, stehe ihnen dafür das Recht der Initiative
zur Verfügung.

    Es besteht kein Anlass, von diesen Erwägungen abzuweichen. Was
der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, schlägt nicht durch. Er macht
geltend, er habe den negativen Beschluss des Gemeinderats mit kantonalen
Rechtsmitteln und letztlich mit staatsrechtlicher Beschwerde anfechten
können; das Referendum sei nichts anderes als eine Pluralbeschwerde,
sodass nicht einzusehen sei, weshalb es nicht auch wie eine Beschwerde
gegen einen negativen Beschluss ergriffen werden könne. Ein Volksrecht
lässt sich aber klarerweise nicht mit einem prozessualen Rechtsmittel
vergleichen, das dem Bürger zur Verfügung steht, um den Entscheid einer
untern Instanz bei einer obern anzufechten. Mehr Beachtung verdient der
Einwand, den der Beschwerdeführer gegen die bundesgerichtliche Erwägung
vorbringt, das Referendum habe - wie sich auch GIACOMETTI ausdrückte -
"negativen Charakter" (BGE 99 Ia 529). Er macht geltend, wer das Referendum
gegen einen Beschluss ergreife, müsse nicht unbedingt dessen Ablehnung
anstreben, er könne auch bei positiver Einstellung die beschlossene
Sache für so wichtig halten, dass nach seiner Meinung darüber das Volk
entscheiden solle. Es mag in der Tat ausnahmsweise vorkommen, dass eine
Gruppe trotz Einverständnis mit einem Beschluss dagegen das Referendum
ergreift, weil sie der Meinung ist, um der Bedeutung der Sache willen solle
der Souverän darüber beschliessen. Das ändert aber nichts daran, dass nach
allgemeiner schweizerischer Auffassung den Stimmbürgern die Initiative zur
Verfügung steht, wenn sie positiv etwas Neues schaffen wollen, und dass
das historisch aus dem Volksveto herausgewachsene Referendum seinem Wesen
nach dazu dient, den positiven Beschluss eines Staatsorgans dem Risiko
der Ablehnung in der Volksabstimmung auszusetzen. Das Referendumsbegehren
hat zumindest insofern negativen Charakter, als es "den Eintritt der
unbedingten normativen Geltung von Vorlagen bis auf weiteres verhindern
und deren rechtliches Schicksal der Volksabstimmung anheimstellen will"
(GIACOMETTI, Das Staatsrecht der schweizerischen Kantone, S. 438).

Erwägung 4

    4.- Nach § 121 GG, der das fakultative Referendum bei Gemeinden
mit ausserordentlicher Organisation regelt, sind bestimmte dem
Einwohnerrat zustehende "Geschäfte" der Gesamtheit der Stimmberechtigten
zu unterbreiten, wenn eine bestimmte Zahl von Stimmbürgern ein
entsprechendes Begehren stellt. Nach § 49, der das Referendum bei
Gemeinden mit ordentlicher Organisation regelt, wird ein "Beschluss"
der Gemeindeversammlung der Urnenabstimmung unterstellt, wenn dies
eine bestimmte Zahl von Stimmberechtigten innert dreissig Tagen
unterschriftlich verlangt. Während man sich noch fragen kann, ob unter
Geschäften im Sinne des § 121 GG nicht auch negative Entschliessungen
verstanden werden könnten, ist nach dem Sinn des Gemeindegesetzes
im Zusammenhang mit dem Referendum unter einem "Beschluss" nur eine
positive Entschliessung zu verstehen (BGE 99 Ia 530 E. 5b). Nach § 120
GG unterstehen bestimmte Beschlüsse dem obligatorischen Referendum, und
es ist klar und unbestritten, dass damit nur positive Entschliessungen
gemeint sein können. Die Annahme erscheint nicht als sinnvoll, der
Gesetzgeber habe bei der ausserordentlichen Gemeindeorganisation das
fakultative Referendum nur gegen positive Entschliessungen zugelassen,
bei der ordentlichen Organisation dagegen auch gegen negative, ohne dass
der Gesetzestext für eine solche unterschiedliche Ordnung spräche. Diese
Überlegungen lassen es als richtig erscheinen, unter einem Beschluss eine
positive Entschliessung zu verstehen und das Referendum gegen negative
Stellungnahmen der Gemeindeversammlung nicht zuzulassen.

Erwägung 5

    5.- Das Bundesgericht hat in BGE 99 Ia 533 E. 6 das Referendum
gegen ablehnende Beschlüsse unter anderem mit Hinweis auf die Tatsache
ausgeschlossen, dass den Stimmberechtigten die Initiative zur Verfügung
stehe, um ihr Ziel zu erreichen. Es ist zu prüfen, wie es sich damit bei
der ordentlichen Gemeindeorganisation verhält und ob es sich allenfalls
unter diesem Gesichtspunkt aufdrängt, trotz der vorangehenden Erwägung
im zu beurteilenden Fall das Referendum gegen den ablehnenden Beschluss
der Gemeindeversammlung zuzulassen.

    a) Das Verwaltungsgericht führte aus, die Initiative sei auch in der
ordentlichen Gemeindeorganisation vorgesehen, während der Regierungsrat
der Ansicht des Beschwerdeführers beipflichtete, das Initiativrecht sei
bei der ordentlichen Gemeindeorganisation nicht gegeben. Rein formell
ist im Gesetz nur bei der ausserordentlichen Gemeindeorganisation neben
dem Referendum auch die Initiative (§§ 122 ff.) erwähnt, während bei der
ordentlichen Organisation allein das Referendum ausdrücklich genannt ist
(§ 49). § 68 GG sieht indes bei der Regelung der Gemeindeversammlung
vor, dass jeder Stimmberechtigte Anträge stellen kann, sofern diese
in die Befugnis der Gemeindeversammlung fallen. Für die Änderung der
Gemeindeordnung ist ein schriftlicher Antrag einer bestimmten Zahl
von Stimmberechtigten nötig, wobei in Gemeinden mit mehr als 3000
Stimmbürgern 150 Unterschriften genügen. Damit ist ein Rechtsinstitut
geschaffen, das der Sache nach als Initiative zu betrachten ist. Wenn,
wie hier, die Änderung der Gemeindeordnung in Frage ist, kann eine
bestimmte Anzahl von Stimmbürgern ein entsprechendes Begehren stellen,
über das hernach obligatorisch die Bürgerschaft abzustimmen hat. Der
Unterschied zwischen der Initiative bei der ordentlichen und der
ausserordentlichen Gemeindeorganisation besteht darin, dass im ersten
Fall die Stimmberechtigten in der Gemeindeversammlung, im zweiten Fall
an der Urne darüber zu befinden haben. Dieser Unterschied ergibt sich
aus der verschiedenen Struktur der Gemeinwesen.

    b) Nach der Meinung des Beschwerdeführers gehört es zum Wesen der
Pluralinitiative, dass der Entscheid der Stimmberechtigten in einer
Urnenabstimmung als letzter Instanz getroffen wird. Es kann aber in
einem Gemeinwesen, das im wesentlichen nach dem Prinzip der direkten
Demokratie organisiert ist, das Initiativrecht sehr wohl so ausgestaltet
sein, dass über das begehren in der Versammlung der Stimmberechtigten und
nicht an der Urne entschieden wird, wie das zum Beispiel auch in einem
Landsgemeindekanton der Fall sein kann. Wenn es nach dem Gesetz Sache
der Gemeindeversammlung ist, über eine Initiative zu befinden, so kann
diese Ordnung des Initiativrechts nicht durch eine Kombination mit dem
Referendum so umgestaltet werden, dass über den von der Gemeindeversammlung
abgelehnten Antrag an der Urne abgestimmt werden müsste. Ein Beschluss
über ein Initiativbegehren untersteht schon seiner Rechtsnatur nach
nicht dem fakultativen Referendum (GIACOMETTI aaO, S. 432); Initiative
und Referendum sind zwei getrennte Rechtsinstitute.

    c) Der Regierungsrat erklärt in seiner Beschwerdeantwort, § 48 GG
schliesse es bei der ordentlichen Gemeindeorganisation schlechthin
aus, die Hürde des zustimmenden Gemeindeversammlungsbeschlusses zu
umgehen. In der Tat spricht § 48 deutlich für die Auslegung, welche
die kantonalen Instanzen dem § 49 geben. Nach § 48 unterliegen
die Gemeindeordnung und deren Änderungen nach Genehmigung durch die
Gemeindeversammlung noch der Urnenabstimmung. Die Initianten können
demnach nur dann eine Urnenabstimmung über ein Begehren um Erlass
einer neuen Gemeindeordnung oder um Änderung der bestehenden erwirken,
wenn vorher die Gemeindeversammlung zugestimmt, also die Initiative
erheblich erklärt hat. Es wäre mit dieser Ordnung nicht im Einklang,
wenn Initianten nach Ablehnung ihres Begehrens auf Einführung der
ausserordentlichen Gemeindeorganisation durch die Gemeindeversammlung
eine Urnenabstimmung erzwingen könnten. Selbst wenn man - zu Unrecht
- annähme, die Initianten könnten die Grundsatzfrage der Einführung
der ausserordentlichen Gemeindeorganisation nach Ablehnung durch die
Gemeindeversammlung an der Urne entscheiden lassen, käme das Unternehmen
nach § 48 GG nicht zum Ziel, wenn die Gemeindeversammlung die neue
Gemeindeordnung nicht genehmigte. Nach dem klaren Wortlaut des § 48 sind
nur die von der Gemeindeversammlung genehmigten Vorlagen über die Revision
der Gemeindeordnung der Urnenabstimmung unterstellt. Es entspricht demnach
dem Sinn des Gesetzes, dass die kantonalen Behörden die Durchführung der
verlangten Volksabstimmung ablehnten; die Beschwerde ist somit abzuweisen.

Erwägung 6

    6.- Es ist einzuräumen, dass die gesetzliche Ordnung des
Initiativrechts bei der ordentlichen Gemeindeorganisation in dem
Fall nicht befriedigt, da, wie hier, Initianten die Einführung der
ausserordentlichen Gemeindeorganisation (§ 122 GG) verlangen. Wenn der
Gesetzgeber bei der ordentlichen Gemeindeorganisation über Initiativen die
Gemeindeversammlung abstimmen lässt, so geht er davon aus, der Entscheid
sei damit dem Stimmvolk übertragen. Diese Annahme wird auch heute noch
in kleinern Gemeinwesen zutreffen. In grossen Gemeinden besucht aber
erfahrungsgemäss oft nur ein kleiner Prozentsatz der Stimmberechtigten
die Gemeindeversammlung, und gerade diese Erscheinung kann Anlass für
den Übergang zur ausserordentlichen Gemeindeorganisation sein. Da die
Gemeindeversammlung in solchen Fällen nicht mehr den Willen der gesamten
Stimmbürgerschaft zum Ausdruck bringt, ist es unbefriedigend, wenn sie
durch Ablehnung einer Initiative eine Abstimmung über die Einführung der
ausserordentlichen Gemeindeorganisation verhindern kann. Diesem Mangel
müsste aber allenfalls durch Änderung des Gesetzes begegnet werden. Auf
dem Boden des geltenden Rechts, insbesondere § 48 GG, lässt er sich nicht
beheben. Die vom Beschwerdeführer vorgeschlagene Anwendung des Gesetzes
würde letztlich auf dessen Abänderung oder Umgehung hinauslaufen.