Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IA 309



101 Ia 309

51. Urteil vom 24. September 1975 i.S. Alters- und Pflegeheim Frohsinn
AG gegen Regierungsrat des Kantons Schwyz Regeste

    Art. 4 BV. Rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren.

    1. Wird in einem Bewilligungsverfahren das Gutachten einer
verwaltungsexternen Expertenkommission eingeholt, so ist dieses dem
betroffenen Gesuchsteller zur Stellungnahme zu unterbreiten (E. 1b).

    2. Der Äusserungsberechtigte hat Anspruch auf unmittelbare Einsicht
in das Gutachten; eine bloss indirekte Kenntnisnahme durch mündliche
Auskunft genügt nicht (E. 2a).

    3. Voraussetzungen, unter denen ein Verzicht auf Ausübung des
Gehörsanspruches angenommen werden darf (E. 2b und c).

Sachverhalt

    A.- Nachdem im Kanton Schwyz für den Betrieb von Pflegeheimen
die Bewilligungspflicht eingeführt worden war, stellte Frau Mai
als Inhaberin und Leiterin eines bereits bestehenden Alters- und
Pflegeheimes beim Regierungsrat ein entsprechendes Bewilligungsgesuch. Das
kantonale Departement des Innern beauftragte mit dessen Prüfung eine
dreiköpfige verwaltungsexterne Fachkommission unter der Leitung eines
Kantonsrates. Nach Vornahme eines Augenscheines erstattete diese Kommission
einen schriftlichen Bericht, gestützt auf den der Regierungsrat die
nachgesuchte Bewilligung erteilte, sie aber entsprechend den Anträgen der
Fachkommission mit einer Reihe von Auflagen und Einschränkungen verband.

    Die Gesuchstellerin führt hiegegen staatsrechtliche Beschwerde,
u.a. wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs. Das Bundesgericht heisst
die Beschwerde gut aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Beschwerdeführerin erblickt darin eine Verletzung des
rechtlichen Gehörs, dass ihr der schriftliche Bericht der Fachkommission
vor Erlass des regierungsrätlichen Entscheides nicht zur Stellungnahme
unterbreitet worden sei. Diese Rüge ist vorweg zu prüfen. Erweist sie
sich als begründet, so ist der angefochtene Entscheid in Gutheissung
der Beschwerde aufzuheben, ohne dass auf die übrigen, materiellen
Verfassungsrügen noch einzugehen wäre.

    a) Der Umfang des Anspruches auf rechtliches Gehör bestimmt sich in
erster Linie nach den kantonalen Verfahrensvorschriften. Wo sich jedoch der
kantonale Rechtsschutz als ungenügend erweist, greifen die unmittelbar aus
Art. 4 BV folgenden, bundesrechtlichen Verfahrensregeln zur Sicherung des
rechtlichen Gehörs Platz (BGE 99 Ia 45 f. E. 3b, 23 f.). Im vorliegenden
Fall wird von der Beschwerdeführerin nicht behauptet, dass das Vorgehen der
Behörde einer bestimmten kantonalen Verfahrensvorschrift widerspreche. Es
ist daher einzig zu prüfen, ob unmittelbar aus Art. 4 BV folgende Regeln
missachtet wurden.

    a) Es steht fest und ist unbestritten, dass der schriftliche
Expertenbericht der Kommission Schelbert vom September 1974 der
Beschwerdeführerin vor Erlass des angefochtenen Entscheides nicht
unterbreitet worden war, und dass diese insoweit auch keine Gelegenheit
gehabt hatte, sich zu diesem Bericht zu äussern. Der unmittelbar aus
Art. 4 BV folgende Gehörsanspruch gibt dem Betroffenen kein Recht,
zu den Berichten verwaltungsinterner Fachstellen, auf die sich die
verfügende Behörde stützt, vorgängig Stellung nehmen zu können (BGE 89 I
16; Urteil vom 2. Juli 1975 i.S. Gemeinde Ritzingen, nicht publ. Erw.
4). Im vorliegenden Fall handelt es sich indessen um den Bericht
einer verwaltungsexternen, ad hoc eingesetzten Expertenkommission,
welche in einem hängigen Bewilligungsverfahren den konkreten Sachverhalt
festzustellen und zu würdigen hatte. Ein derartiger Expertenbericht muss
den Betroffenen von Amtes wegen zur Stellungnahme unterbreitet werden
(KLAUS REINHARDT, Das rechtliche Gehör in Verwaltungssachen, Diss. Zürich
1968, S. 194-197; BGE 99 Ia 46).

Erwägung 2

    2.- Auch der Regierungsrat räumt in seiner Vernehmlassung ein, dass
die Beschwerdeführerin grundsätzlich Anspruch darauf hatte, sich zum
Expertenbericht äussern zu können. Zur Rechtfertigung seines Vorgehens
macht er geltend, die Beschwerdeführerin habe von diesem Bericht, auch
wenn er ihr nie unterbreitet worden sei, indirekt doch Kenntnis erhalten
und Gelegenheit gehabt, hiegegen Einwände vorbringen zu können. Ihre
Vertreter seien beim Augenschein der Fachkommission anwesend gewesen und
dabei über den von dieser "als massgeblich erachteten Sachverhalt" ins
Bild gesetzt worden. Sodann habe der zuständige Departementssekretär Frau
Mai anlässlich verschiedener Telefongespräche über "die wesentlichsten
Ergebnisse" des später erstatteten schriftlichen Berichtes der
Fachkommission informiert. Frau Mai habe einzelne Punkte beanstandet,
ohne jedoch Akteneinsicht zu verlangen. Überdies habe sie selber immer
wieder auf einen raschen Entscheid des Regierungsrates gedrängt und durch
ihr Verhalten das zuständige Departement in den Glauben versetzt, sie sei
mit dessen Vorgehen einverstanden und habe an einer eingehenden Einsicht
in die Akten wegen der damit verbundenen Verzögerung des Verfahrens kein
Interesse. Der nunmehr erhobene Einwand, es sei ihr das Gehör verweigert
worden, erscheine unter diesen Umständen als rechtsmissbräuchlich und
gegen Treu und Glauben verstossend.

    In einem ergänzenden Bericht des Departementssekretärs vom
12. März 1975, auf den der Regierungsrat verweist, wird ausgeführt,
dass der Departementssekretär anlässlich der (mündlichen) Gestattung
der provisorischen, beschränkten Betriebsaufnahme Frau Mai zu verstehen
gegeben habe, dass ausser den Auflagen in personeller Hinsicht aller
Voraussicht nach noch weitere Auflagen zu gewärtigen seien (Bestellung
einer Aufsichtskommission, Leistung einer Kaution in unbestimmter
Höhe). Frau Mai habe sich darauf mit diesen Auflagen grundsätzlich
einverstanden erklärt mit dem Bemerken, dass sie ihr zum Teil, namentlich
hinsichtlich des verlangten Personals, selbstverständlich seien. Frau Mai
habe nie Einsicht in den Bericht der Expertenkommission verlangt.

    a) Zunächst ist festzuhalten, dass die Orientierung über das
Ergebnis der Expertise und über die Vorschläge der Experten immer
nur mündlich bzw. telefonisch erfolgte. Irgendeine schriftliche
Mitteilung unterblieb. Der Bericht des Departementssekretärs über
die erteilten mündlichen Auskünfte lautet etwas unbestimmt ("Ich
liess durchblicken ..., gab zu verstehen ..."). Es lässt sich heute
nicht mehr einwandfrei abklären, ob die Beschwerdeführerin von allen
wesentlichen Feststellungen und Schlussfolgerungen des Expertenberichtes
wirklich Kenntnis erhalten hatte. Es bestehen immerhin erhebliche
Anhaltspunkte dafür, dass sie sich über die Tragweite dieses Berichtes
nicht im klaren war und nicht mit derartig schweren Auflagen rechnete,
wie sie im Bewilligungsentscheid des Regierungsrates enthalten sind.
Doch ist diese Frage nicht entscheidend. Der aus Art. 4 BV folgende
Gehörsanspruch konnte im vorliegenden Fall nur dadurch gewahrt werden, dass
der schriftliche Expertenbericht der Betroffenen vor dem Entscheid über das
Bewilligungsgesuch in seinem vollen Umfange vorgelegt wurde. Eine bloss
indirekte, die wichtigsten Punkte zusammenfassende mündliche Wiedergabe
des Gutachtens reichte nicht aus, um der Gesuchstellerin eine fundierte und
vollständige Stellungnahme zu ermöglichen; sie konnte einen unmittelbaren
Einblick in das Gutachten, wie er jeder Verfahrenspartei regelmässig
zusteht, nicht ersetzen. Das gilt umso mehr, als im fraglichen Bericht
eine Reihe konkreter Auflagen und Beschränkungen vorgeschlagen wurden,
die der Regierungsrat im angefochtenen Entscheid als unmittelbaren
Bestandteil der erteilten Bewilligung bezeichnete.

    b) Der Regierungsrat wendet ein, die Beschwerdeführerin habe selber
auf einen raschen Entscheid gedrängt, und aus ihrem Verhalten sei zu
schliessen gewesen, dass sie auf einen Einblick in das Gutachten verzichte.

    Es ist richtig, dass auf die Ausübung des Anspruches auf rechtliches
Gehör im Einzelfall verzichtet werden kann (REINHARDT, aaO S. 96 ff.;
TINNER, Das rechtliche Gehör, ZSR 83/1964 II S. 337). Dies gilt vorab für
das Recht auf Äusserung, doch kann auch auf den Anspruch auf Orientierung
und Akteneinsicht verzichtet werden (TINNER, aaO). Die Beschwerdeführerin
hat nie Einsicht in das Gutachten verlangt. Hieraus kann jedoch unter
den gegebenen Umständen nicht abgeleitet werden, sie habe auf ihren
verfassungsmässigen Anspruch auf unmittelbare und vollumfängliche
Orientierung über den Inhalt des Gutachtens verzichtet. Zunächst ist zu
beachten, dass die Beschwerdeführerin im kantonalen Bewilligungsverfahren
durch keinen Anwalt vertreten war und daher über den Umfang ihrer
Parteirechte kaum im Bilde gewesen sein dürfte. Dass sie hierüber von der
Behörde belehrt worden sei, wird nicht behauptet. Schon aus diesem Grunde
durfte nicht leichthin ein Verzicht auf die Ausübung des Gehörsanspruches
angenommen werden. Richtigerweise hätte die kantonale Behörde von Amtes
wegen das Gutachten der Betroffenen unterbreiten oder wenigstens diese
auf die Möglichkeit der Einsichtnahme hinweisen müssen. Es traf sodann
keineswegs zu, dass der Inhalt des Gutachtens der Beschwerdeführerin
gleichgültig war. Sie hat sich vielmehr wiederholt telefonisch beim
zuständigen Departementssekretär nach den Ergebnissen, zu denen die
Fachkommission gelangt war, erkundigt und hiebei zu einzelnen Punkten
mündlich Stellung genommen. Auch wenn die Beschwerdeführerin mehrfach auf
eine rasche Erledigung des Bewilligungsverfahrens gedrängt hatte, durfte
unter den geschilderten Umständen in ihrem Verhalten kein verbindlicher
stillschweigender Verzicht auf ordnungsgemässe Kenntnisnahme vom Gutachten
erblickt werden. Eine besondere Dringlichkeit, welche einen sofortigen
Entscheid ohne Anhörung der Betroffenen notwendig gemacht hätte (BGE 98 Ia
8), war nicht gegeben, und es lagen auch keine anderweitigen Gründe vor
(z.B. ein schützenswertes Geheimhaltungsinteresse), welche es erlaubt
hätten, von einer direkten Bekanntgabe des Gutachtens an die Betroffene
abzusehen.

    c) Durch die ungenügende Orientierung wurde die Beschwerdeführerin
in ihrem Äusserungsrecht verletzt. Solange sie vom Expertenbericht nicht
unmittelbar und vollständig Kenntnis erhalten hatte, konnte sie ihr
Äusserungsrecht nicht hinreichend ausüben. Die mündlichen Gespräche mit
dem Departementssekretär vermochten eine allfällige fundierte schriftliche
Stellungnahme zum Gutachten nicht zu ersetzen, und ein Verzicht auf dieses
umfassende Äusserungsrecht durfte nicht angenommen werden, solange die
Behörde ihrer Orientierungspflicht nicht nachgekommen war. Aus denselben
Gründen kann in der nachträglichen Geltendmachung des Gehörsanspruches
auch kein Rechtsmissbrauch oder ein Verstoss gegen Treu und Glauben
erblickt werden. Wieweit die formelle Natur des Gehörsanspruches einen
derartigen Einwand überhaupt zulassen würde, kann dahingestellt bleiben
(vgl. REINHARDT, aaO S. 151). Die Beschwerde ist wegen Verletzung des
rechtlichen Gehörs gutzuheissen.