Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IA 102



101 Ia 102

19. Auszug aus dem Urteil vom 25. Juni 1975 i.S. Konkursmasse Naef
gegen Dorfkorporation Oberbüren und Kantons- und Kassationsgericht des
Kantons St. Gallen. Regeste

    Art. 4 BV Willkür, Rechtsverweigerung.

    Bundesrechtlicher Anspruch auf Beweisabnahme im Zivilprozess.

    Beweis muss im kantonalen Verfahren nach den massgeblichen
Prozessvorschriften formrichtig und rechtzeitig angeboten worden sein
(E. 3).

    Verletzung des rechtlichen Gehörs durch Nichtabnahme einer Expertise,
welche als taugliches Beweismittel erscheint (E. 4).

Sachverhalt

    A.- Mit Schreiben vom 22. Juli 1968 teilte die Dorfkorporation
Oberbüren Naef mit, es werde im Laufe des Sommers eine Wasserleitung
von Bürerwald zur neuen Siedlung Ledergerber erstellt und sie gedenke,
seine Liegenschaft ebenfalls an diese Leitung anzuschliessen. Wörtlich
fuhr sie fort: "Auf unsere Kosten wird Ihre Privatleitung an die neu zu
erstellende Hydrantenleitung angeschlossen. Auf Ihre Kosten gehen alle
Anpassungsarbeiten innerhalb der Gebäude."

    Die Liegenschaft Naefs wurde darauf an die neue Leitung angeschlossen,
wobei die Dorfkorporation die notwendigen Arbeiten dem Ingenieurbüro
Neukomm übertrug, das seinerseits Jakob Mitteldorf damit betraute. Da
die aus Plastikmaterial bestehende bisherige Hauszuleitung Naefs dem
erhöhten Druck der neuen Hauptleitung nicht standhielt, platzte sie. Die
Dorfkorporation lehnte es ab, Naef die daraus entstandenen Kosten von
Fr. 1191.90 zu vergüten. Daraufhin erhob Naef Klage gegen sie, welche
das Bezirksgericht Wil indes abwies.

    Nachdem über Naef der Konkurs eröffnet worden war, beschloss die
zweite Gläubigerversammlung, den Prozess durch die Masse weiterführen
zu lassen, und legte beim Kantonsgericht St. Gallen Berufung gegen das
bezirksgerichtliche Urteil ein. Diese wurde abgewiesen.

    Die dagegen erhobene Nichtigkeitsbeschwerde wurde vom Kassationsgericht
des Kantons St. Gallen abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden konnte.

    Gestützt auf Art. 4 BV beantragt die Konkursmasse Naefs in ihrer
staatsrechtlichen Beschwerde sinngemäss die Aufhebung des Urteils des
Kassationsgerichts und die Rückweisung der Streitsache zur Neubeurteilung
an das Kassationsgericht und das Kantonsgericht.

    Das Kantonsgericht beantragt Nichteintreten, die Dorfkorporation
Abweisung der Beschwerde.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Die Beschwerdeführerin beanstandet, dass es das Kantonsgericht
unterlassen hat, Fässler als Zeugen einzuvernehmen. Naef hat diesen
Zeugen in der Replik zum Beweis dafür angerufen, dass die Beklagte im
Gegensatz zu ihm genau gewusst habe, dass seine Leitung den erhöhten
Druck nicht aushalten würde. Das Bezirksgericht hat diesen Beweis ohne
Begründung nicht abgenommen. Die Beschwerdeführerin hat dies in ihrer
Berufung an das Kantonsgericht nicht beanstandet und den Beweisantrag nicht
erneuert. Fässler wurde dann vom Kantonsgericht nicht einvernommen. In der
Kassationsbeschwerde hat die Beschwerdeführerin die Nichtberücksichtigung
des Zeugen Fässler nicht ausdrücklich und substantiiert beanstandet,
sondern nur allgemein geltend gemacht, das Kantonsgericht habe relevante
Beweisanträge nicht abgenommen, weshalb das Kassationsgericht in diesem
Punkt auf die Beschwerde nicht eintrat.

    Auf die Beanstandung der Verweigerung des Zeugen Fässler wäre nur dann
einzutreten, wenn die Beschwerdeführerin sie auch bei der Vorinstanz in
prozessual genügender Form vorgebracht hätte. Dies war aber offensichtlich
nicht der Fall, weshalb sich eine materielle Überprüfung der Rüge erübrigt.
Selbst wenn aber das Kantonsgericht auf den Zeugen Fässler auf Grund
einer antizipierten Beweiswürdigung verzichtet hätte - was allerdings
der Begründung seines Urteils nicht zu entnehmen ist - und damit das
kantonsgerichtliche Urteil in diesem Punkte selbst der Überprüfung durch
das Bundesgericht unterliegen würde, so müsste die Beschwerde abgewiesen
werden. Der bundesrechtliche Anspruch, im Zivilprozess mit den erheblichen
Beweisen zugelassen zu werden, steht unter dem Vorbehalt, dass der Beweis
im kantonalen Verfahren nach den massgeblichen prozessualen Vorschriften
formrichtig und rechtzeitig angeboten worden ist. Denn die Modalitäten des
Beweisverfahrens sind, wo keine Vorschriften des Bundesrechts eingreifen,
vom kantonalen Prozessrecht beherrscht.

    Die Beschwerdeführerin hat nicht behauptet, das Kantonsgericht sei
nach den Bestimmungen der st. gallischen ZPO im Berufungsverfahren gehalten
gewesen, den Zeugen Fässler ohne ausdrücklichen Berufungsantrag abzuhören
und sie macht auch keine dahingehende Gesetzesvorschrift namhaft. Dies
wäre aber erforderlich gewesen, um eine Verletzung ihres Anspruchs auf
rechtliches Gehör darzutun. Auch wenn auf die Beschwerde gegen das Urteil
des Kantonsgerichts bezüglich der Zeugeneinvernahme Fässlers eingetreten
werden könnte, müsste sie deshalb abgewiesen werden.

Erwägung 4

    4.- Die Beschwerdeführerin bzw. Naef hat vor allen kantonalen
Instanzen die Anordnung einer Expertise beantragt und deren Verweigerung
beanstandet. Da die Expertise auf Grund einer antizipierten Beweiswürdigung
abgelehnt worden ist, welche das Kassationsgericht nur auf Willkür
überprüft hat, ist abzuklären, ob die Verweigerung dieses Beweises durch
das Kantonsgericht vor Art. 4 BV standhält.

    Die Beschwerdeführerin wollte mit der beantragten Expertise beweisen,
dass sich die Installation eines Druckreduzierventils beim Anschluss
an die Plastikleitung für jeden Fachmann aufgedrängt hätte, weil durch
diese wenig kostspielige Vorkehr der eingetretene Schaden hätte vermieden
werden können, und dass deren Unterlassung angesichts der offensichtlich
ungenügenden Druckfestigkeit der Leitung Naefs eine grobe Fahrlässigkeit
dargestellt habe. Das Kantonsgericht hat diesen Beweisantrag abgelehnt
mit der Begründung, angesichts der Tatsache, dass Naef selbst erklärt habe,
bei seiner Plastikleitung handle es sich um einen Hochdruckschlauch, seien
weder die Beklagte noch die beigezogenen Dritten verpflichtet gewesen,
die Plastikleitung näher auf ihre Druckfestigkeit zu untersuchen,
weshalb dahingestellt bleiben könne, ob sich die Installation eines
Druckreduzierventils beim Anschlusschieber aufgedrängt habe. Damit
hat das Kantonsgericht der von der Beschwerdeführerin beantragten
Expertise von vorneherein jede Erheblichkeit abgesprochen. Es hat aus den
Zeugenaussagen Iten und Mitteldorf abgeleitet, Naef sei auf das Risiko
des erhöhten Wasserdrucks für seine Plastikleitung aufmerksam gemacht
worden, habe aber die Bedenken der Beklagten und der Unternehmer mit
dem Hinweis zerstreut, es handle sich um einen Hochdruckschlauch. Damit
habe er das Risiko selbst übernommen und die Beklagte und die für sie
tätigen Unternehmer und Handwerker hätten keine Verpflichtung mehr gehabt,
die Leitung Naefs auf ihre Druckfestigkeit zu überprüfen und allfällige
Vorkehrungen zu ergreifen.

    Iten hat als Zeuge ausgesagt, Naef habe ihm erklärt, die Leitung
halte den neuen Druck aus, es handle sich um einen Hochdruckschlauch,
er habe Garantie dafür. Anderseits hat Mitteldorf bezeugt, er
erinnere sich nicht mehr genau, wie Naef auf seinen Hinweis, die
alte Plastikleitung werde den neuen Druck nicht aushalten, reagiert
habe. Er glaube aber, Naef habe auf einen gewissen Rossi hingewiesen,
"der ihm gesagt haben soll, diese Plastikleitung halte einen gewissen
Druck schon aus". Berücksichtigt man, dass Iten als Vizepräsident der
Beklagten in dieser Funktion mit Naef verhandelt hat, so kann seinen
Aussagen kein entscheidendes Gewicht beigemessen werden. Aus den Aussagen
Mitteldorfs allein kann aber angesichts ihrer Unbestimmtheit kaum der
Schluss gezogen werden, Naef habe bewusst die Gefahr des erhöhten Drucks
für seine Plastikleitung in Kauf genommen. Es ist deshalb fraglich,
ob sich die Feststellung des Kantonsgerichts über den Willen Naefs im
Rahmen einer willkürfreien Beweiswürdigung hält. Selbst wenn aber die
von Iten bezeugte Äusserung Naefs der Beurteilung zugrunde gelegt wird,
so kann daraus doch nur geschlossen werden, Naef habe irrtümlicherweise
geglaubt, seine Plastikleitung werde dem erhöhten Druck standhalten,
nicht aber, es sei ihm gleichgültig gewesen, ob dies der Fall sein
werde oder nicht. Jedenfalls durften die Beklagte und die von ihr
beauftragten Handwerker der Äusserung Naefs nach Treu und Glauben keine
weitergehende Bedeutung beimessen. Gerade wenn sie der Meinung waren,
die Privatleitung Naefs sei seine Angelegenheit, so durften sie nicht
voraussetzen, Naef wolle sich der Gefahr eines zu seinen Lasten gehenden
Schadens aussetzen. Da es sich bei Naef, wie ihnen bekannt war, um keinen
Fachmann auf dem Gebiet der Rohrleitungen handelte, durften sie sich
auf seine Erklärungen jedenfalls insoweit nicht verlassen, als sie als
Fachleute deren Unrichtigkeit erkennen konnten.

    Die kantonalen Gerichte haben es unterlassen, abzuklären, ob für
einen Fachmann ohne weiteres erkennbar war, dass die Plastikleitung
Naefs dem erhöhten Druck nicht standhalten konnte, weil sie diese
Frage rechtsirrtümlicherweise als für den Prozessausgang unerheblich
hielten. Ihre Auffassung lässt sich mit sachlichen Gründen nicht halten:
Wenn ein Fachmann einen Leitungsanschluss vornimmt, von dem er mit
Sicherheit weiss, dass er zur Zerstörung der angeschlossenen Leitung führen
wird, auch wenn ihm bekannt ist, dass dieser Schaden mit geringen Kosten
(z.B. durch Einbau eines Druckreduzierventils) vermieden werden kann,
so handelt er schuldhaft, und dies selbst dann, wenn ihm der Eigentümer
der Leitung versichert hat, die Leitung werde standhalten: Der Fachmann
wird durch die für ihn erkennbar falsche Erklärung eines Laien nicht
seiner Verantwortung enthoben.

    Die von der Beklagten beauftragten Unternehmer und Handwerker
(Ingenieurbüro Neukomm und Schmiedemeister Mitteldorf) haben den
Leitungsanschluss in Ausführung des Vertrags zwischen Naef und der
Beklagten als deren Hilfspersonen ausgeführt. Die Beklagte haftet
deshalb gemäss Art. 101 OR für deren allfälliges Verschulden ohne
Entlastungsmöglichkeit.

    Die Beschwerdeführerin hat den Beweis dafür, dass für einen Fachmann
das Ungenügen der Plastikleitung Naefs ohne weiteres erkennbar war,
mit einer Expertise führen wollen. Dieses Beweismittel erscheint als
tauglich und die Beschwerdeführerin hat Anspruch auf dessen Abnahme
durch die kantonalen Gerichte. Seine Verweigerung durch die angefochtenen
Entscheide wegen einer sachlich nicht haltbaren Rechtsauffassung stellt
eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar. Dies muss zur Aufhebung sowohl
des Urteils des Kantonsgerichts wie auch desjenigen des Kassationsgerichts
führen (BGE 100 Ia 130).