Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IA 10



101 Ia 10

3. Auszug aus dem Urteil von 5. Februar 1975 i.S. Dr. X. gegen Obergericht
des Kantons Zürich Regeste

    Art. 4 BV; Arztgeheimnis.

    Beschlagnahmung von Korrespondenzen im Strafprozess. Umfang und Schutz
des Arztgeheimnisses.

Sachverhalt

    A.- Ein Verein und eines seiner Mitglieder reichten gegen den Arzt
Dr. X. beim Bezirksgericht Zürich wegen Ehrverletzung Strafklage ein. Der
Untersuchungsrichter liess gewisse Korrespondenzen, die Dr. X. mit
einem Dritten gewechselt hatte und die sich im Besitze des Anwaltes
des Angeklagten befanden, beschlagnahmen und versiegeln. Nach Einholung
eines Gutachtens beim Bezirksarzt ordnete das Bezirksgericht an, dass
die beschlagnahmten Korrespondenzen zu entsiegeln und zu den Akten zu
nehmen seien. Dr. X. führt gegen den Rekursentscheid des Obergerichtes
staatsrechtliche Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 5

    5.- a) Der Beschwerdeführer macht hauptsächlich geltend, durch
die Entsiegelung seiner Korrespondenz mit B. werde sein ärztliches
Berufsgeheimnis verletzt. Es ist zunächst zu prüfen, ob das Arztgeheimnis
einer Beschlagnahme von Akten im Strafverfahren entgegensteht. Die
Zürcher StPO enthält hierüber keine ausdrückliche Bestimmung. Damit,
dass ihr § 102 Abs. 1 eine möglichste Schonung des Privatgeheimnisses
vorschreibt, sagt sie nicht, dass das Privat- und im Speziellen das
Arztgeheimnis dem Interesse an der Wahrheitsfindung im Strafverfahren
unter allen Umständen vorgeht. Die Bestimmung schreibt vielmehr eine
Abwägung der sich entgegenstehenden Interessen öffentlicher und privater
Natur vor. Nach der herrschenden Lehre geht dort, wo der Arzt selbst
Angeschuldigter ist, das Interesse an der Strafverfolgung vor: Der
Arzt kann sich nicht unter Berufung auf seine Geheimhaltungspflicht
der Beschlagnahme von in seinem Besitz befindlichen Akten widersetzen
(ERWIN FREY, Die Papiere des abtreibungsverdächtigen Arztes, ZStR 72/1957
S. 24 f.; HEINZ MÜLLER-DIETZ, Die Beschlagnahme von Krankenblättern im
Strafverfahren, S. 49; D. VON RECHENBERG, Beschlagnahme, Siegelung und
Hausdurchsuchung gemäss Zürcherischer Strafprozessordnung, S. 21; gleiche
Auffassung Zürcher Obergericht und Kassationsgericht in ZR 33/1934 Nr. 65).

    b) Nun sind allerdings Zweifel daran berechtigt, ob dieser Grundsatz
uneingeschränkte Geltung verdient. Er ist im Falle des der Abtreibung
beschuldigten Arztes entwickelt worden, wo dem öffentlichen Interesse
an der Strafverfolgung ein grösseres Gewicht zukommt als bei einem
Verfahren wegen Ehrbeleidigung. Die kantonalen Instanzen waren denn auch
im vorliegenden Verfahren bereit, dem Arztgeheimnis, wenn ein solches in
Frage kam, Rechnung zu tragen. Andernfalls hätte das Bezirksgericht nicht
ein Gutachten des Bezirksarztes über diese Frage eingeholt und würde das
Obergericht seinen Entscheid nicht ausschliesslich mit der Verneinung
des Arztgeheimnisses begründen. Die Frage, ob die Entsiegelung auch dann
hätte angeordnet werden dürfen, wenn die Papiere ein ärztliches Geheimnis
enthalten hätten, kann offen gelassen werden, wenn ein ärztliches Geheimnis
tatsächlich nicht tangiert ist, was im Folgenden geprüft werden soll.

    c) Nach dem Wortlaut von Art. 321 StGB sind Geheimnisse geschützt,
welche einem Arzt infolge seines Berufes anvertraut worden sind oder
die er in dessen Ausübung wahrgenommen hat. Geheimnis im Sinne dieser
Bestimmung ist alles, was der Patient dem Arzt zwecks Ausführung des
Auftrages anvertraut oder was der Arzt in Ausübung seines Berufes
wahrnimmt (BGE 75 IV 73 f.). Was hingegen dem Arzt als Privatmann
mitgeteilt wird, fällt nicht unter das Berufsgeheimnis, es sei denn,
es werde ihm erkennbar deshalb offenbart, weil er Arzt ist (HANS
LANGMACK, Die strafrechtliche Schweigepflicht des Arztes, ZStR 88/1972,
S. 70; vgl. auch ROBERT HAUSER, Der Zeugenbeweis im Strafprozess,
S. 219/20). Der Inhalt der geheimzuhaltenden Tatsachen ist nicht streng
auf das Medizinische beschränkt. Dem Arzt werden oft eheliche, berufliche
oder andere persönliche Schwierigkeiten offenbart. Sie gehören ebenfalls
zu den geheimzuhaltenden Gegenständen.

    Der Beschwerdeführer macht geltend, B. habe ihn in seiner
Eigenschaft als Arzt um Rat gebeten. Dies werde im angefochtenen
Entscheid nicht in Abrede gestellt und das Obergericht habe auch die
hiefür angebotenen Beweise nicht abgenommen. Ob und in welchen Umfange
im Entsiegelungsverfahren Beweise abgenommen werden müssen, ist eine
Frage des kantonalen Verfahrensrechts. Der Beschwerdeführer unterlässt
es, die Nichtabnahme der Beweise als Rechtsverweigerung zu rügen. Aus
der Unterlassung kann aber nicht einfach, wie der Beschwerdeführer
es tut, geschlossen werden, es stehe fest, dass sich B. nie an den
Beschwerdeführer gewandt hätte, wenn dieser nicht Arzt gewesen wäre.
Das Obergericht stellt vielmehr fest, B. habe sich an den ihm persönlich
nicht bekannten Beschwerdeführer gewandt, weil dieser ihm indirekt
als Herausgeber von Büchern des geistigen Oberhauptes des fraglichen
Vereines ein Begriff gewesen sei. Tatsächlich ist weder dargetan noch
wahrscheinlich, dass für B. die Eigenschaft des Beschwerdeführers als Arzt
von entscheidender Bedeutung war. Er verlangte von ihm keine ärztliche
Behandlung oder Beratung, sondern es ging ihm darum, von einem früher
führenden Mitglied des Vereins Auskunft und Rat in einer persönlichen
Auseinandersetzung mit diesem Verein zu erhalten. Wenn ihm dabei der
Beschwerdeführer dank seines Arztberufs als besonders vertrauenswürdig
erschienen sein mag, so genügt dieser indirekte Zusammenhang mit der
Berufsausübung nicht, um das, was B. dem Beschwerdeführer offenbarte, als
Berufsgeheimnis zu qualifizieren. Der Beschwerdeführer hat denn auch bei
seiner Einvernahme durch den Untersuchungsrichter über den Inhalt seiner
Telefongespräche und Korrespondenz Auskunft erteilt, ohne sich auf ein
Aussageverweigerungsrecht und eine Geheimhaltungspflicht zu berufen. Die
kantonalen Instanzen sind deshalb nicht in Willkür verfallen, wenn sie
zum Schluss gekommen sind, das Arztgeheimnis stehe der Entsiegelung
nicht entgegen.