Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 V 88



100 V 88

22. Urteil vom 4. September 1974 i.S. Wittwer gegen Ausgleichskasse
schweizerischer Elektrizitätswerke und AHV-Rekurskommission des Kantons
Zürich Regeste

    Art. 23 Abs. 2 AHVG. Unerheblich für den Anspruch der geschiedenen
Frau auf Witwenrente ist, ob die Pflicht des Ehemannes zur Leistung von
Unterhaltsbeiträgen auf einen bestimmten Zeitpunkt (vor oder nach seinem
Tode) beschränkt war.

Sachverhalt

    A.- Julia Wittwer wurde mit Urteil vom 1. Juli 1964 nach mehr
als zehnjähriger Ehedauer von ihrem Ehemanne geschieden. Dieser wurde
verpflichtet, neben den Unterhaltsbeiträgen für die 1956 und 1959 geborenen
Kinder seiner geschiedenen Ehefrau ab 30. Oktober 1964 für die Dauer von 4
Jahren monatlich Fr. 200.-- zu bezahlen. Nach seinem Tode (28. November
1965) sprach die Ausgleichskasse der Versicherten für die Zeit vom
1. Dezember 1965 bis 30. September 1968 eine (gemäss Art. 41 AHVG auf den
Alimentenbetrag gekürzte) Witwenrente zu (Verfügung vom 17. Januar 1966).
Am 23. Juni 1973 ersuchte Julia Wittwer auf Grund der 8. AHV-Revision
um Ausrichtung der Witwenrente, rückwirkend auf den 1. Januar 1973. Mit
Verfügung vom 26. Juni 1973 lehnte die Ausgleichskasse das Gesuch ab.

    B.- Die AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich wies durch Entscheid
vom 16. August 1973 eine von Julia Wittwer gegen diese Verfügung erhobene
Beschwerde unter Hinweis auf EVGE 1950 S. 144 Erw. 2 ab.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt Julia
Wittwer, die Witwenrente sei ihr ab Januar 1973 wieder auszurichten. Sie
macht geltend,. ihr Ehemann habe nach der Scheidung über die gerichtlich
festgesetzten Beiträge hinaus freiwillige Leistungen für die Kinder
erbracht, die, wenn er noch leben würde, weiter entrichtet worden
wären. Sie habe daher durch seinen Tod einen Versorgerschaden erlitten.

    Während die Ausgleichskasse auf eine Vernehmlassung verzichtet,
stellt das Bundesamt für Sozialversicherung den Antrag, die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei gutzuheissen, der kantonale Entscheid
aufzuheben und die Sache zu neuer Verfügung über die der Versicherten
ab 1. Januar 1973 zustehende Witwenrente an die Ausgleichskasse
zurückzuweisen. Auf die Begründung wird, soweit erforderlich, in den
Erwägungen zurückzukommen sein.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Anspruch der geschiedenen Frau auf eine Witwenrente ergibt
sich aus Art. 23 Abs. 2 AHVG, der durch die 8. AHV-Revision keine Änderung
erfuhr und der lautet:

    "Die geschiedene Frau ist nach dem Tode ihres geschiedenen
Ehemannes der Witwe gleichgestellt, sofern der Mann ihr gegenüber zu
Unterhaltsbeiträgen verpflichtet war und die Ehe mindestens 10 Jahre
gedauert hatte."

    Nach ständiger Rechtsprechung (EVGE 1950 S. 144 Erw. 2, ZAK 1952
S. 438, nicht veröffentlichtes Urteil vom 5. Juni 1963 i.S. Textor)
und Verwaltungspraxis (vgl. Wegleitung über die Renten, gültig ab
1. Januar 1971, Rz. 113 und 114) muss die Verpflichtung des geschiedenen
Ehemannes zur Leistung von Unterhaltsbeiträgen im Zeitpunkt seines Todes
noch bestehen. Ist die bei seinem Ableben noch bestehende Verpflichtung
befristet, so kann die Witwenrente der geschiedenen Frau nur bis zu dem
Zeitpunkt gewährt werden, in welchem die Unterhaltspflicht des früheren
Mannes aufgehört hätte, wenn er nicht vorher gestorben wäre.

    Nach Auffassung des Bundesamtes für Sozialversicherung ist fraglich,
ob diese Auslegung noch dem Willen des Gesetzgebers entspricht, wenn die
auf den 1. Januar 1973 im Bereiche des Anspruchs geschiedener Frauen auf
Witwenrente eingetretenen Änderungen berücksichtigt werden. Nachdem die
Kürzung der Witwenrente der geschiedenen Frau (Art. 41 AHVG) weggefallen
sei, dürften Höhe und Dauer der Unterhaltsbeiträge nicht mehr massgebend
sein. Das Bundesamt für Sozialversicherung hat daher in dem ab 1. Januar
1974 gültigen Nachtrag zur Wegleitung über die Renten die Rz. 113 wie
folgt geändert (Rz. 114 wurde gestrichen):

    "Unerheblich für den Rentenanspruch ist, ob der geschiedene
Ehemann seine Unterhaltspflicht bei seinem Tode z.B. durch Zahlung einer
Abfindungssumme ganz erfüllt hatte, oder ob die Pflicht zur Leistung von
Unterhaltsbeiträgen auf einen bestimmten Zeitpunkt vor oder nach dem Tode
des Mannes beschränkt war."

Erwägung 2

    2.- Art. 41 AHVG (in der Fassung gemäss Bundesgesetz vom 19.
Dezember 1963) lautete:

    "Die gemäss Artikel 23, Absatz 2, einer geschiedenen Frau zukommende
Witwenrente wird gekürzt, soweit sie den der Frau gerichtlich zugesprochen
gewesenen Unterhaltsbeitrag überschreitet."

    Laut dieser Bestimmung durfte höchstens der Betrag der entfallenden
Unterhaltsleistungen mit der Witwenrente ersetzt werden. Und folgerichtig
änderte der Anspruch auf Witwenrente in dem Zeitpunkt, in welchem die
Alimentationsverpflichtung des früheren Mannes aufhören würde, falls er
nicht früher verstorben wäre. Der Ausdruck "sofern" in Art. 23 Abs. 2 AHVG
war deshalb im Sinne von "soweit" zu verstehen (EVGE 1950 S. 145). Da die
Gleichstellung mit der Witwe einzig aus Rücksicht darauf erfolgte, dass die
Unterhaltsleistungen des früheren Ehemannes die Scheidung überdauern und
es sich in Anwendung zivilrechtlicher Grundsätze nur darum handeln konnte,
die gerichtlich zugesprochenen und durch den Tod des geschiedenen Mannes
ausfallenden Leistungen an den Lebensunterhalt zu ersetzen, wurde der
Witwenrentenanspruch der geschiedenen Frau nur für die im Scheidungsurteil
festgesetzte Dauer der Verpflichtung des Mannes anerkannt.

    Anlässlich der 8. AHV-Revision vertrat der Bundesrat in
seiner Botschaft vom 11. Oktober 1971 die Auffassung, dass es
nicht als wünschenswert erscheine, durch eine Teilrevision der AHV
den Revisionsbestrebungen im Familienrecht vorzugreifen (BBl 1971 II
1089 und 1096 f.). Der Gesetzesentwurf beschränkte sich daher auf eine
Korrektur, die sich im Rahmen des Versorgerprinzips hielt. Es sollte bei
der Witwenrente der geschiedenen Frau der Mindestbetrag der ordentlichen
Vollrente von der Kürzung ausgenommen werden. Der Entwurf sah daher in
Art. 41 folgende Ergänzung vor (letzter Satz): "Die Kürzung unterbleibt,
soweit der Unterhaltsbeitrag den Mindestbetrag der ordentlichen Vollrente
nicht übersteigt" (BBl 1971 II 1176). Im Parlament dagegen wurde auf
Antrag der Kommission des Nationalrates die Bestimmung über die Kürzung
der der geschiedenen Frau zukommenden Witwenrente auf die ihr zustehenden
Unterhaltsbeiträge mit Wirkung ab 1. Januar 1973 diskussionslos gestrichen
(Amtl. Bull. der Bundesversammlung 1972, NR S. 397, StR S. 301).

Erwägung 3

    3.- Mit der Streichung des alten Art. 41 AHVG fiel die Kürzung
der Witwenrente auf den Betrag des gerichtlich zugesprochen
gewesenen Unterhaltsbeitrages weg. Es wäre daher an sich möglich,
die Rechtsprechung zu Art. 23 Abs. 2 AHVG aufrechtzuerhalten, welche
den Anspruch der geschiedenen Frau auf die Witwenrente begrenzt auf die
Dauer der Unterhaltspflicht des früheren Ehemannes. Da indessen das jener
Rechtsprechung zugrunde liegende zivilrechtliche Versorgerprinzip in
Bezug auf die Höhe des Unterhaltsbeitrages. im AHVG gestrichen wurde,
ist es nicht mehr vertretbar, an diesem Prinzip hinsichtlich der Dauer
festzuhalten, dies auf Grund einer Auslegung des Art. 23 Abs. 2 AHVG,
welche sich nicht auf dessen Wortlaut, sondern auf den alten Art.
41 AHVG stützte.

    Trotz unverändertem Wortlaut erhält daher Art. 23 Abs. 2 AHVG
wegen des Wegfalls der Kürzungsbestimmung von Art. 41 AHVG einen andern
Sinn. Die Dauer der in Art. 23 Abs. 2 AHVG festgelegten Verpflichtung des
Ehemannes zu Unterhaltsleistungen gegenüber der geschiedenen Ehefrau ist
nach einem Beschluss des Gesamtgerichts nicht mehr Voraussetzung für den
Anspruch auf eine Witwenrente. Unerheblich dafür ist mit andern Worten,
ob die Pflicht zur Leistung von Unterhaltsbeiträgen auf einen bestimmten
Zeitpunkt vor oder nach dem Tode des früheren Mannes beschränkt war. -
Die daraus sich ergebende Auslegungsdifferenz zu Art. 84 Abs. 2 KUVG
und Art. 30 Abs. 2 MVG (vgl. dazu EVGE 1969 S. 82 Erw. 2 a-c) ist vom
Gesetzgeber offenbar gewollt.

    Im übrigen ist auf die jüngste Rechtsprechung des Bundesgerichtes
auf dem Gebiete des Familienrechts hinzuweisen, wonach die Dauer einer
nach Art. 151 Abs. 1 ZGB in Rentenform ausgerichteten Entschädigung nur
beschränkt werden kann, wenn triftige Gründe dafür sprechen (BGE 98 II
164 ff.).

Erwägung 4

    4.- Im vorliegenden Fall hatte die Beschwerdeführerin, deren Ehe über
10 Jahre gedauert hatte, Anspruch auf einen - auf 4 Jahre befristeten -
Unterhaltsbeitrag ihres geschiedenen Ehemannes. Bei dessen Tode wurde ihr
bis zum 30. September 1968 eine auf diesen Beitrag gekürzte Witwenrente
ausgerichtet. Auf Grund der neuen Rechtslage im Zusammenhang mit der 8.
AHV-Revision und des in Erw. 3 Gesagten kann ihr Rentenanspruch indessen
nicht mehr auf die Dauer der Unterhaltsbeiträge begrenzt werden. Es
fragt sich somit, ob der am 30. September 1968 erloschene Rentenanspruch
am 1. Januar 1973 wieder aufleben kann. Diese Frage ist gemäss den in
BGE 99 V 200 (im Rahmen des Art. 23 Abs. 1 lit. c AHVG) aufgestellten
Grundsätzen zu bejahen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: In Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden die angefochtene Kassenverfügung
vom 26. Juni 1973 und der Entscheid der AHV-Rekurskommission des Kantons
Zürich vom 16. August 1973 aufgehoben und es wird festgestellt, dass der
Beschwerdeführerin mit Wirkung ab 1. Januar 1973 wieder eine Witwenrente
zusteht.

    Die Sache wird an die Ausgleichskasse zur Berechnung der Rente
zurückgewiesen.