Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 V 48



100 V 48

13. Urteil vom 2. Mai 1974 i.S. Müller gegen Ausgleichskasse des Kantons
St. Gallen und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Regeste

    Art. 3 ELV. Ansätze für die Berechnung des elterlichen Einkommens,
das den "eigenen Unterhalt und den der übrigen unterhaltsberechtigten
Familienangehörigen übersteigt".

Sachverhalt

    A.- Mit Verfügung vom 14. Juli 1972 verweigerte die Ausgleichskasse
des Kantons St. Gallen dem 1954 geborenen Invalidenrentenbezüger Walter
Müller Ergänzungsleistungen, weil sein Einkommen die für Alleinstehende
massgebende Einkommensgrenze von 4800 Franken übersteige. Das anrechenbare
Einkommen ermittelte die Ausgleichskasse in der Weise, dass sie zur
Invalidenrente Vermögenserträgnisse und den Betrag addierte, der nach Abzug
des Existenzbedarfs der Familie Müller vom elterlichen Einkommen verblieb.

    B.- Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen bestätigte auf
Beschwerde hin, dass für die Ermittlung des massgebenden Einkommens eines
minderjährigen Invalidenrentenbezügers das Einkommen der Eltern ohne
Rücksicht darauf, ob jene mit dem invaliden Kind zusammenleben oder nicht,
so weit anzurechnen sei, als es den betreibungsrechtlichen Existenzbedarf
des Kindes und der übrigen unterhaltsberechtigten Familienangehörigen
übersteigt. Die Vorinstanz schützte deshalb die Berechnungsweise der
Ausgleichskasse und wies die Beschwerde am 16. Februar 1973 ab.

    C.- Pro Infirmis reicht für Walter Müller Verwaltungsgerichtsbeschwerde
ein mit dem Antrag, der von der Familie Müller benötigte Existenzbedarf
sei höher zu veranschlagen und es sei dem Versicherten eine
Ergänzungsleistung auszurichten. Die Ermittlung des Existenzbedarfs
nach betreibungsrechtlichen Kriterien führe zu einem für den
Ergänzungsleistungsanspruch ungünstigeren Ergebnis, als wenn jener Bedarf
analog den Regeln des Art. 3 ELG berechnet würde.

    Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherung beantragen
die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

    1. -- a) Nach der seit dem 1. Januar 1971 geltenden Ordnung
finden die für die Ermittlung der Ergänzungsleistungen Alleinstehender
massgebenden Einkommensgrenzen auch Anwendung auf minderjährige Bezüger
einer Invalidenrente (Art. 2 Abs. 1 ELG). Seither gilt ebenfalls die
Bestimmung des Art. 3 ELV, dass für die Ermittlung der dieser. Kategorie
von Versicherten zukommenden Ergänzungsleistung das Einkommen der
Eltern ungeachtet ihres Wohnsitzes soweit zu berücksichtigen ist, als
es deren eigenen Unterhalt und den der übrigen unterhaltsberechtigten
Familienangehörigen übersteigt. Eine analoge Regelung gilt für Vaterwaisen,
deren Mutter keine Witwenrente erhält (Art. 4 Abs. 2 ELV), und für
Mutterwaisen (Art. 5 Abs. 1 ELV).

    Keine dieser Bestimmungen enthält eine Vorschrift darüber, wie
man den "eigenen Unterhalt und den der übrigen unterhaltsberechtigten
Familienangehörigen" zu bewerten hat. Während Ausgleichskasse und
Vorinstanz die Auffassung vertreten, dieser Unterhaltsbedarf richte
sich nach dem betreibungsrechtlichen Existenzminimum - eine These, die
grundsätzlich auch vom Bundesamt unterstützt wird -, will Pro Infirmis
diesen Bedarf nach den für die Berechnung der Ergänzungsleistungen
massgebenden Grundsätzen (Art. 3 ELG) ermittelt wissen.

    b) Die Ergänzungsleistungen haben gegenüber den familienrechtlichen
Unterhaltspflichten im Sinn von Art. 272 Abs. 1 und 275 Abs. 2 ZGB
subsidiäre Bedeutung. Dies ergibt sich klar aus Art. 3 Abs. 1 lit. g ELG,
wonach familienrechtliche Unterhaltsbeiträge als massgebendes Einkommen
anzurechnen sind. Was unter der Gesamtheit der familienrechtlichen
Unterhaltspflichten zu verstehen ist, beurteilt sich nach den Normen des
Zivilgesetzbuches. Dies geht aus Art. 3 ELV klar hervor, der bestimmt,
dass der Umfang dieser Unterhaltspflichten dem Ausmass entspricht,
in welchem das Einkommen der Eltern den Betrag übersteigt, der zu
ihrem eigenen Unterhalt und jenem der übrigen unterhaltsberechtigten
Familienangehörigen notwendig ist. Für die Berechnung dieses Betrages
existieren gebräuchliche Ansätze, nämlich jene zur Ermittlung des
betreibungsrechtlichen Existenzminimums. Als Ergebnis ständiger
Harmonisierung gewährleisten diese einfach anzuwendenden Ansätze eine
weitestgehende Gleichbehandlung der betroffenen Personen auf dem gesamten
Gebiet der schweizerischen Eidgenossenschaft. Dennoch erlauben sie,
nicht nur den örtlich unterschiedlichen Lebenshaltungskosten, sondern
auch andern Eigenheiten jedes Einzelfalles Rechnung zu tragen und damit
den tatsächlichen Verhältnissen in hohem Mass gerecht zu werden.

    Anderseits ist allerdings zuzugeben, dass der mittels
betreibungsrechtlicher Ansätze errechnete, für den elterlichen Unterhalt
benötigte Betrag häufig unter dem Einkommen liegen wird, das den Eltern
nach den Regeln des ELG gewährleistet wäre, wenn sie selber eine AHV- oder
Invalidenrente bezögen. Dabei muss aber beachtet werden, dass die in Art. 3
Abs. 2 ELG vorgesehene privilegierte Behandlung des Erwerbseinkommens
sowie der Renten und Pensionen sich gegenüber einem in vollem Umfang
leistungsfähigen Versicherten nicht rechtfertigen würde. Anderseits wäre
auch die Begrenzung des abziehbaren Betrages für Versicherungsprämien
(Art. 3 Abs. 4 lit. d ELG), mit der Missbräuche vermieden werden sollen,
gegenüber einem jungen Familienvater nicht angebracht. Ebenso wenig
eignet sich die im Bereich des Art. 3 Abs. 4 lit. e ELG geltende Methode
für den Abzug von Arzt- und Krankenpflegekosten kaum, um das Einkommen
einer Drittperson zu bestimmen. Diese für die Ermittlung des anrechenbaren
Einkommens anwendbaren starren Vorschriften des ELG würden verhindern, dass
bei der Berechnung des für den elterlichen Unterhalt benötigten Betrages
die Besonderheiten des Einzelfalles berücksichtigt werden könnten. Darüber
hinaus hätte das in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde verlangte Vorgehen
zur Folge, dass der Gehalt der zivilrechtlichen Unterhaltspflicht, der
- wie gesagt - gegenüber den Ergänzungsleistungen Priorität zukommt,
für die alleinigen Bedürfnisse des Instituts der Ergänzungsleistungen
abgeändert würde.

    c) Aus allem ergibt sich, dass die Vorteile des von Ausgleichskasse
und Vorinstanz angewandten Systems zur Bestimmung des Unterhaltsbedarfs
der Eltern und der übrigen unterhaltsberechtigten Familienangehörigen
gegenüber der von Pro Infirmis postulierten Methode in der Regel
überwiegen. Von dieser Regel abzuweichen besteht vorliegend kein
Anlass. Somit bleibt es bei der Anwendung der für die Ermittlung des
betreibungsrechtlichen Existenzminimums gültigen kantonalrechtlichen
Ansätze. Diese sind in masslicher Hinsicht nicht bestritten, wie auch die
von der Vorinstanz angestellten Berechnungen mit Recht unangefochten
geblieben sind. Demzufolge muss die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
abgewiesen werden.

Erwägung 2

    2.- Mit der Ausgleichskasse und der Vorinstanz mag darauf hingewiesen
werden, dass der Versicherte mit Erreichung der Volljährigkeit erneut
zum Ergänzungsleistungsbezug angemeldet werden kann. Alsdann ergäbe sich
insofern eine andere Berechnungsgrundlage, als das elterliche Einkommen
nicht mehr berücksichtigt werden dürfte.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.