Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 V 41



100 V 41

11. Auszug aus dem Urteil vom 4. Februar 1974 i.S. Forster gegen
Ausgleichskasse des Kantons Zürich und AHV-Rekurskommission des Kantons
Zürich Regeste

    Medizinische Massnahmen gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG können bei Psychosen,
die dauernde Behandlung erfordern, selbst Minderjährigen nicht gewährt
werden (Erw. 2).

    Medizinische Massnahmen gemäss Art. 13 Abs. 1 IVG bei sekundären
Gesundheitsschädigungen im Gefolge eines Geburtsgebrechens: Voraussetzungen
(Erw. 1).

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 13 Abs. 1 IVG haben minderjährige Versicherte Anspruch
auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen
Massnahmen. Die Leiden, für welche solche Massnahmen gewährt werden,
sind in der Verordnung über Geburtsgebrechen aufgeführt. Figuriert das
Leiden nicht in der Geburtsgebrechenliste, so besteht in der Regel auch
dann kein Anspruch auf medizinische Massnahmen, wenn es auf ein in der
Liste genanntes Geburtsgebrechen zurückgeht.

    Die Rechtsprechung hat allerdings anerkannt, dass sich ein Anspruch
auf medizinische Massnahmen gestützt auf Art. 13 IVG in seltenen Fällen
auch auf die Behandlung sekundärer Gesundheitsschäden erstrecken kann,
die zwar nicht mehr zum Symptomenkreis des Geburtsgebrechens gehören,
aber nach medizinischer Erfahrung häufig die Folge dieses Gebrechens
sind. Zwischen dem Geburtsgebrechen und dem sekundären Leiden muss
demnach ein qualifizierter adäquater Kausalzusammenhang bestehen. Nur
wenn im Einzelfall dieser qualifizierte ursächliche Zusammenhang zwischen
sekundärem Gesundheitsschaden und Geburtsgebrechen gegeben ist und sich die
Behandlung überdies als notwendig erweist, hat die Invalidenversicherung
im Rahmen des Art. 13 IVG für die medizinischen Massnahmen aufzukommen
(EVGE 1965 S. 159 und ZAK 1971 S. 595).

    b) Mit einlässlicher Begründung legt Prof. B. in seinem dem Eidg.
Versicherungsgericht erstatteten Gutachten dar, dass der Beschwerdeführer
an einer vererbten, prae- oder perinatal erworbenen Hirnstörung leidet,
die vorwiegend psychische oder intellektuelle Symptome (Geistesschwäche)
zur Folge und die vor dem vollendeten achten Lebensjahr sich manifestiert
hat. Dabei handelt es sich um ein Geburtsgebrechen, das in Ziffer 404
der Geburtsgebrechenliste aufgeführt ist.

    Es bleibt zu prüfen, ob die Schizophrenie, die zur Hospitalisierung
und Behandlung des Beschwerdeführers Anlass gegeben hat und die selber in
der Liste nicht als Geburtsgebrechen genannt wird, mit der soeben erwähnten
Hirnstörung in einem qualifizierten adäquaten Kausalzusammenhang steht. Nur
in diesem Fall müsste die Invalidenversicherung im Rahmen des Art. 13 IVG
für die Kosten der Schizophreniebehandlung aufkommen. Prof. B. erklärt,
dass sich Schizophrenien im Kindesalter "auffallend häufig (aber lange
nicht ausschliesslich)" bei hirngeschädigten Kindern entwickeln. Im
allgemeinen würden Schizophrenien "in der grossen Mehrzahl der Fälle"
bei Menschen auftreten, die keine Zeichen einer angeborenen Hirnkrankheit
aufweisen. Und lange nicht in jedem Fall von Geistesschwäche mit Zeichen
von Hirnstörung entwickle sich später eine schizophrene Psychose. Es sei
aber wahrscheinlich, dass Geistesschwäche und Hirnschaden Mitursache einer
bei einem Kind entstehenden Schizophrenie seien. Der Gerichtsexperte
bejaht demnach einen ursächlichen Teilzusammenhang zwischen einer in der
Pubertät ausbrechenden Schizophrenie und dem vorhandenen Geburtsgebrechen,
bezeichnet es aber als ganz unwahrscheinlich, dass das Geburtsgebrechen
alleinige Ursache einer Schizophrenie wäre. "Ein Zusammenhang zwischen
Geburtsgebrechen und Schizophrenie in dem Sinne, dass das Geburtsgebrechen
nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge geeignet ist, zu einer Schizophrenie
zu führen, ist nicht anzunehmen... Dies gilt im Allgemeinen wie im Falle
von Forster." Fehlt es somit auch beim Beschwerdeführer an dem von der
Rechtsprechung geforderten qualifizierten adäquaten Kausalzusammenhang
zwischen dem gutachtlich festgestellten Geburtsgebrechen und der sekundären
Schizophrenie, so hat die Invalidenversicherung für deren Behandlung nach
Art. 13 IVG nicht aufzukommen.

Erwägung 2

    2.- a) Es fragt sich, ob der Beschwerdeführer allenfalls gestützt auf
Art. 12 Abs. 1 IVG medizinische Massnahmen zur Behandlung der Schizophrenie
beanspruchen kann. Nach dieser Bestimmung hat der Versicherte Anspruch
auf medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an
sich, sondern unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und
geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern
oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Um Behandlung des
Leidens an sich geht es in der Regel bei der Heilung oder Linderung labilen
pathologischen Geschehens. Die Invalidenversicherung übernimmt im Prinzip
nur solche medizinische Vorkehren, die unmittelbar auf die Beseitigung oder
Korrektur stabiler oder wenigstens relativ stabilisierter Defektzustände
oder Funktionsausfälle hinzielen, sofern diese die Wesentlichkeit und
Beständigkeit des angestrebten Erfolges im Sinn des Art. 12 Abs. 1 IVG
voraussehen lassen.

    Bei nichterwerbstätigen Minderjährigen können medizinische Vorkehren
schon dann überwiegend der beruflichen Eingliederung dienen und - der
gesetzlich geforderte voraussichtliche Eingliederungserfolg vorausgesetzt
- mit Rücksicht auf Art. 5 Abs. 2 IVG trotz des einstweilen noch labilen
Leidenscharakters von der Invalidenversicherung übernommen werden, wenn
ohne diese Vorkehren in absehbarer Zeit eine Heilung mit Defekt oder
ein sonstwie stabilisierter Zustand einträte, welcher die Berufsbildung
oder die Erwerbsfähigkeit oder beide wahrscheinlich beeinträchtigen würde
(BGE 98 V 214 und ZAK 1970 S. 233). Dabei geht es also um die erwerblich
bedeutsame Heilung eines Leidens, das ohne vorbeugende medizinische
Vorkehren sich zu einem stabilen pathologischen Zustand entwickeln
würde. Hier soll der Eintritt eines stabilen Defektes verhindert
werden. Handelt es sich aber nur darum, die Entstehung eines solchen
Zustandes mit Hilfe von Dauertherapie hinauszuschieben, so liegt keine
Heilung vor. Freilich wird auch durch derartige kontinuierliche Behandlung
die Erwerbsfähigkeit positiv beeinflusst, aber es besteht eine ähnliche
Situation wie beispielsweise beim Diabetiker, dessen Gesundheitszustand
durch ständige medikamentöse Therapie bloss im Gleichgewicht gehalten
und dadurch vor wesentlicher, die Leistungsfähigkeit beeinträchtigender
Verschlimmerung mit allenfalls letalem Risiko bewahrt wird; auch hier ist
die medizinische Vorkehr nicht auf die Heilung eines Leidens zur Verhütung
eines stabilen pathologischen Defektes gerichtet. In allen derartigen
Fällen stellen die Vorkehren nach der Rechtsprechung (dauernde) Behandlung
des Leidens an sich dar. Deshalb kommt ihnen kein Eingliederungscharakter
im Sinn des IVG zu (EVGE 1969 S. 98).

    Daraus ergibt sich für minderjährige Versicherte mit psychischen
Leiden, dass die Invalidenversicherung für vorbeugende Psychotherapie
aufzukommen hat, wenn das erworbene psychische Leiden in absehbarer Zeit
mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem schwer korrigierbaren, die
spätere Ausbildung und Erwerbsfähigkeit erheblich behindernden oder gar
verunmöglichenden stabilen pathologischen Zustand führen würde. Umgekehrt
kommen prophylaktische Massnahmen der Invalidenversicherung nicht in
Betracht, wenn sich diese gegen psychische Krankheiten und Defekte richten,
welche nach der heutigen Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft
ohne dauernde Behandlung nicht gebessert werden können. Dies trifft
nach Auffassung der Schweizerischen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie
in der Regel unter anderem bei Schizophrenien und manisch-depressiven
Psychosen zu.

    b) Der Beschwerdeführer leidet an Schizophrenie. Deren Behandlung kann
- den obigen Erwägungen entsprechend - von der Invalidenversicherung auch
nicht gestützt auf Art. 12 Abs. 1 IVG übernommen werden.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.