Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 V 208



100 V 208

51. Urteil vom 16. Dezember 1974 i.S. Humbert gegen Ausgleichskasse der
Uhrenindustrie und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Über die Begriffe des Versicherungsfalls und des anspruchsbegründenden
Sachverhalts. Bei der Witwenrente tritt der Versicherungsfall am Tage
nach Ablauf des Todesmonats ein (Art. 23 Abs. 3 AHVG).

Sachverhalt

    A.- Am 5. Dezember 1972 verstarb der 1924 geborene Jean Humbert,
der seit 1948 mit Gertrud Suter kinderlos verheiratet war. Mit Verfügung
vom 20. März 1973 sprach die Ausgleichskasse der Uhrenindustrie der am
10. November 1928 geborenen Ehefrau eine Witwenabfindung zu.

    B.- Beschwerdeweise verlangte Gertrud Humbert-Suter, dass ihr anstelle
der Witwenabfindung die ordentliche Witwenrente ausbezahlt werde.

    Das Versicherungsgericht des Kantons Bern hat die Beschwerde am
4. Juli 1973 abgewiesen: Es sei nicht nach altem, sondern nach dem
am 1. Januar 1973 in Kraft getretenen neuen Recht (8. AHV-Revision)
zu beurteilen, ob der Beschwerdeführerin eine Abfindung oder aber eine
ordentliche Hinterlassenenrente zustehe. Auf Grund des Art. 23 Abs. 3
AHVG wäre ein allfälliger Rentenanspruch nämlich erst am 1. Januar 1973
entstanden. Damals sei aber das neurechtliche Erfordernis, dass die Witwe
das 45. Altersjahr zurückgelegt habe, nicht erfüllt gewesen.

    C.- Mit der gegen diesen Entscheid erhobenen
Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt Gertrud Humbert ihr Rentenbegehren
wiederholen. Zur Begründung wird im wesentlichen vorgebracht: Das Gesetz
stelle auf den Zeitpunkt der Verwitwung ab. Im Sozialversicherungsrecht
von diesem klar definierten zivilrechtlichen Begriff abzuweichen,
bestehe kein Anlass. Die Verschiebung des Rentenbeginns auf den Ersten
des nächsten Monats stelle eine rein technische Massnahme dar, die keine
Auswirkungen auf den Zeitpunkt und den Begriff der Verwitwung habe. Hätte
der Gesetzgeber das Datum des Rentenbeginns als massgebend erachtet, so
hätte er dies im Gesetz gesagt. Massgebend sei daher im vorliegenden Fall
der 5. Dezember 1972, weshalb altes Recht zur Anwendung gelange. Damals
habe die Beschwerdeführerin das 40. Altersjahr bereits zurückgelegt gehabt,
so dass ihr vom Januar 1973 hinweg eine Witwenrente zustehe.

    Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherung beantragen
die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach dem altrechtlichen Art. 23 Abs. 1 lit. b AHVG haben kinderlose
Witwen dann Anspruch auf eine Hinterlassenenrente, wenn sie im Zeitpunkt
der Verwitwung das 40. Altersjahr zurückgelegt haben und mindestens
fünf Jahre verheiratet gewesen sind. Das hier festgelegte Mindestalter
ist mit dem Inkrafttreten der 8. AHV-Revision am 1. Januar 1973 auf 45
Jahre hinaufgesetzt worden (vgl. den neurechtlichen Art. 23 Abs. 1 lit. d
AHVG). Der Anspruch auf Witwenrente entsteht - sowohl nach altem wie
nach neuem Recht - am 1. Tag des dem Tode des Ehemannes folgenden Monats
(Art. 23 Abs. 3 AHVG).

    Ob in einem Fall wie dem vorliegenden altes oder neues Recht
angewandt werden muss, beurteilt sich nach dem Zeitpunkt, in welchem
das Rechtsverhältnis des Versicherungsfalles als Grundvoraussetzung
für den Bezug von Versicherungsleistungen entstanden ist (vgl. Rz. 8
der Rentenwegleitung). Vom Versicherungsfall zu unterscheiden ist die
Erfüllung des leistungsbegründenden Sachverhalts. Dieser umfasst alle
jene Elemente, die in tatbeständlicher Hinsicht gegeben sein müssen,
damit der Versicherungsfall überhaupt eintreten kann. Der Zeitpunkt
des Eintritts des Versicherungsfalles und jener der Erfüllung des
anspruchsbegründenden Sachverhalts sind nicht ohne weiteres identisch. Mit
andern Worten beinhaltet der leistungsbegründende Sachverhalt noch kein
Rechtsverhältnis. Den Zeitpunkt, da dieses entsteht, umschreibt das Gesetz
regelmässig in der Weise, dass es erklärt, wann der Leistungsanspruch
entsteht. Wenn in der Invalidenversicherung beispielsweise die Entstehung
des Anspruchs auf eine Invalidenrente unabhängig von einem bestimmten
Monatstag auf jenen Zeitpunkt festgelegt wird, da die erwerbliche
Beeinträchtigung eine gewisse Intensität erreicht hat (vgl. Art. 29 Abs. 1
IVG), so stimmen hier der Zeitpunkt der Erfüllung des anspruchsbegründenden
Sachverhalts und jener der Entstehung des Rechtsverhältnisses von
Gesetzes wegen. überein. Dagegen bestimmt Art. 23 Abs. 3 AHVG implicite,
dass der Anspruch auf Witwenrente nicht schon mit der Erfüllung des
anspruchsbegründenden Sachverhalts, nämlich mit dem Tod des Ehemannes,
sondern am Ersten des darauffolgenden Monats entsteht. Der Zeitpunkt,
da sich der anspruchsbegründende Sachverhalt erfüllt, unterscheidet sich
nach dem klaren gesetzlichen Wortlaut vom Zeitpunkt der Entstehung des
Rentenanspruchs. Das Rechtsverhältnis des Versicherungsfalles entsteht hier
- entgegen Rz. 9. der Rentenwegleitung - erst nach Ablauf des Todesmonats
(Beschluss des Gesamtgerichts vom 18. September 1974).

Erwägung 2

    2.- Für die vorliegenden Belange ergibt sich daraus, dass der
Versicherungsfall hinsichtlich des Rentenanspruchs nicht schon mit dem
Tod des Versicherten am 5. Dezember 1972, sondern am 1. Januar 1973
eingetreten wäre. Auf diesen Zeitpunkt ist aber der revidierte Art. 23
Abs. 1 AHVG in Kraft getreten. Somit beurteilt sich nach neuem Recht,
ob der Beschwerdeführerin eine Witwenrente zusteht. Da das neue Recht
eine Hinterlassenenrente lediglich jenen kmderlosen Witwen zuerkennt,
die bereits das 45. Altersjahr zurückgelegt haben, eine Voraussetzung,
welche die Beschwerdeführerin am 1. Januar 1973 nicht erfüllte, steht
ihr kein Rentenanspruch, sondern eine Abfindung gemäss Art. 24 AHVG zu.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.