Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 V 11



100 V 11

3. Urteil vom 12. März 1974 i.S. Lagerhaus Brunegg AG gegen Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt und Bundesamt für Sozialversicherung Regeste

    Unterstellung von Unternehmungen unter die Versicherung
(Art. 60bis Ziff. 1 lit. c KUVG und Art. 17 Ziff. 2 VO I über die
Unfallversicherung). Begriff der betriebsgefährlichen Einrichtungen und
Maschinen sowie der Lagerung schwerer Waren in grossen Mengen (Erw. 2-6).

Sachverhalt

    A.- Die Firma Lagerhaus Brunegg AG lagert in ihrem in Brunegg liegenden
Gebäude Waren, vor allem Lebens-, Genuss- und Waschmittel. Die Waren
gelangen mit den Lastwagen der Lieferanten ins Lagerhaus und werden auf
Holzpaletten mittels Gabelstaplern auf eine Rollbahn gelegt. Nach Passieren
einer Richtkontrolle werden sie auf einer andern Rollbahn vor das ca. 20
m hohe Hochlager weiterbefördert, dort von grossen vollautomatischen,
computergesteuerten Hubstaplern erfasst und auf die programmierten
Lagerplätze in den verschiedenen Lagergängen verteilt. Diese Hubstapler
können durch Spezialisten oder betriebseigene Bedienungsleute nötigenfalls
auch von Hand betrieben werden.

    Mit Verfügung der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA)
vom 19. Oktober 1971 wurde die Lagerhaus Brunegg AG gestützt auf Art. 17
Ziff. 2 VO I der obligatorischen Unfallversicherung unterstellt.

    B.- Die gegen diese Unterstellungsverfügung erhobene Beschwerde ist
vom Bundesamt für Sozialversicherung am 26. April 1972 abgewiesen worden.

    C.- Die Firma Lagerhaus Brunegg AG lässt den bundesamtlichen Entscheid
mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde anfechten und erneut die Aufhebung der
Unterstellung beantragen.

    Die SUVA beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

    Am 25. Oktober 1973 hat eine Delegation des Gerichtes in Anwesenheit
der Parteien im Lagerhaus einen Augenschein vorgenommen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Art. 35 VO I über die Unfallversicherung räumt der SUVA und den
Beteiligten die Befugnis ein, gegen die Entscheide des Bundesamtes für
Sozialversicherung im Sinne des Art. 34 VO I über die Unterstellung unter
die obligatorische Unfallversicherung beim Eidg. Versicherungsgericht
Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu erheben (Art. 128 in Verbindung mit
Art. 97 und 98 lit. c OG).

    Da dieser Unterstellungsentscheid weder von einer Rekurskommission
noch von einem kantonalen Gericht als Vorinstanz erlassen ist und es zudem
nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen
geht, richtet sich die Kognitionsbefugnis nach den Art. 104 lit. a und
b und Art. 105 Abs. 1 OG. Demnach kann die Verletzung von Bundesrecht
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens sOWie
die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen
Sachverhalts gerügt werden, und das Eidg. Versicherungsgericht ist
befugt, die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung frei zu überprüfen
(BGE 97 V 201).

Erwägung 2

    2.- Art. 60bis Ziff. 1 lit. c KUVG ermächtigt den Bundesrat, die
obligatorische Versicherung anwendbar zu erklären auf industrielle
und Handelsunternehmungen, die mit betriebsgefährlichen Maschinen oder
Einrichtungen oder in unmittelbarem Anschluss an das Transportgewerbe
arbeiten. Gestützt auf diese Ermächtigungsnorm wird die Versicherung in
Art. 17 Ziff. 2 VO I anwendbar erklärt auf die Handelsunternehmungen,
die schwere Waren wie Kohle, Holz, Metalle oder Fabrikate aus solchen
oder Baumaterialien in grossen Mengen lagern und sich zu deren Transport
maschineller Einrichtungen wie Aufzüge, Kranen, Elevatoren und dergleichen
bedienen.

    Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Betriebsgefährlichkeit der
maschinellen Einrichtungen sei eine gesetzliche Voraussetzung, die erfüllt
sein müsse, damit die Unterstellung eines Handelsbetriebes überhaupt zur
Diskussion stehen könne. Das Lagerhaus verfüge über eine vollautomatisierte
Anlage, bei welcher das Personal mit der maschinellen Einrichtung
praktisch überhaupt nicht in Berührung komme und auch keinen Zutritt
dazu habe. Berührungspunkte beständen nur darin, dass die Holzpaletten
mit den einzulagernden Waren vom Lastwagen über eine Distanz von wenigen
Metern auf die Rollbahn geschoben wurden und dass ferner von den Paletten
einzelne Verpackungseinheiten mit Lagerware im Gewicht von wenigen Kilos
weggenommen und in ein kleines Wägelchen gelegt würden. Eine Gefahr im
Sinn des KUVG sei für den Arbeitnehmer damit nicht verbunden. Aber auch
das Kriterium, dass es sich um schwere Ware handeln müsse, sei nicht
gegeben. Von der Einlagerung schwerer Waren in grossen Mengen könne nach
der Praxis nur gesprochen werden, wenn das Gewicht der Verpackungseinheit
oder der Einzelstücke 50 kg übersteige und wenn davon 20 t eingelagert
seien. Als massgebliche Gütereinheit dürften im Gegensatz zur Auffassung
von SUVA und Bundesamt nicht die Paletten betrachtet werden, sondern die
darauf gelagerten Einzelstücke (Kartons, Bünde, Säcke, Kannen, Harasse
usw.). Solche Einheiten im Gewicht von mehr als 50 kg seien nur im Umfang
von weniger als 1% bzw. von nicht mehr als insgesamt 10 t eingelagert.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführerin ist darin beizupflichten, dass
Art. 60bis Ziff. 1 lit. c KUVG als Unterstellungsvoraussetzung die
Betriebsgefährlichkeit der Maschinen oder Einrichtungen verlangt. Von
dieser gesetzlichen Voraussetzung dürfen die Ausführungsbestimmungen
des Bundesrates nicht abweichen; sonst müssten diese, weil nicht
gesetzeskonform, im Einzelfall als nicht anwendbar erklärt werden. Der
in Ausführung von Art. 60bis Ziff. 1 lit. c KUVG erlassene Art. 17 VO I
erwähnt nirgends ausdrücklich den Begriff der Betriebsgefährlichkeit. Der
Wortlaut dieser Verordnungsbestimmung lässt indessen klar erkennen, dass
die Betriebe, welche der Versicherungspflicht unterstellt werden müssen,
auf Grund allgemeiner Merkmale umschrieben werden, die regelmässig auf eine
besondere Betriebsgefährlichkeit hinweisen. Die Rechtsprechung hat dies
ausdrücklich festgestellt bezüglich der Ziff. 7 des Art. 17 VO I (BGE 97
V 200, 81 I 369). Dasselbe gilt aber auch für die in Ziff. 2 des.Art. 17
VO I erwähnten Handelsunternehmungen: Solche Unternehmen, die schwere
Waren in grossen Mengen lagern und sich zu deren Transport maschineller
Einrichtungen (wie Aufzüge, Kranen, Elevatoren und dergleichen) bedienen,
verwenden der Natur der Sache nach in der Regel betriebsgefährliche
Maschinen.

    Art. 17 Ziff. 2 VO I verlangt aber ausserdem, dass schwere Waren in
grossen Mengen gelagert werden. Dieses zusätzliche Unterstellungskriterium
ergibt sich nicht aus dem Wortlaut des Gesetzes. Man kann sich
daher fragen, ob es anginge, ein Handelsunternehmen nicht als
unterstellungspflichtig zu qualifizieren, wenn es zwar betriebsgefährliche
Transporteinrichtungen verwendet, aber keine schweren Waren in grossen
Mengen lagert. Die Frage kann indessen offen bleiben, weil im vorliegenden
Fall die Voraussetzung der Lagerung schwerer Waren in grossen Mengen
ohnehin erfüllt ist, wie sich aus folgenden Erwägungen ergibt.

Erwägung 4

    4.- SUVA und Bundesamt für Sozialversicherung gehen davon aus,
dass als massgebende Einheit für das Kriterium der "schweren Ware" die
beladene Palette zu gelten habe, während die Beschwerdeführerin meint,
es komme auf die einzelne auf der Palette gelagerte Wareneinheit (Karton,
Harasse, Sack usw.) an. Es ist indessen nicht einzusehen, weshalb die aus
einer beladenen Palette bestehende Transporteinheit weniger gefährlich sein
soll, Wenn die Ware verpackungsmässig in kleine Gütereinheiten unterteilt,
als wenn sie in einer einzigen Verpackung zusammengefasst ist. Für die
Betriebsgefährlichkeit ist offensichtlich das Gesamtgewicht der beladenen
Palette ausschlaggebend und nicht das Einzelgewicht der auf ihr gelagerten
Güter. Wenn aber auf das Palettengewicht abgestellt werden muss, das
mehrere 100 kg betragen kann, so ist die Voraussetzung der schWeren Ware
und der grossen Menge (Art. 17 Ziff. 2 VO I) im vorliegenden Fall erfüllt.

Erwägung 5

    5.- Zum Warentransport werden im Lagerhaus Brunegg im wesentlichen
Gabelstapler, Rollbahnen und grosse Hubstapler verwendet. Diese
Einrichtungen können an sich Unfälle verursachen. Als betriebsgefährlich im
Sinn von Art. 60bis Ziff. 1 lit. c KUVG dürfen sie aber nur qualifiziert
werden, wenn und soweit das Personal des Handelsunternehmens in den
effektiven Gefahrenbereich dieser Einrichtungen gelangt. Wie es sich damit
verhält, konnte bei dem am 25. Oktober 1973 durchgeführten Augenschein
festgestellt werden.

    In jenen Gebäudeteilen des Lagerhauses, wo die Waren zugeliefert
bzw. wieder spediert werden, gelangt das Personal mit den dort befindlichen
maschinellen Einrichtungen und Paletten in Berührung. Die Paletten
gelangen mittels Gabelstaplern aus den Lastwagen über automatische,
den verhältnismässig geringen Niveauunterschied zwischen Lastwagen und
Ausladerampe ausgleichende Hebebühnen auf eine Rollbahn, auf der sie
bis vor das eigentliche Hochlager befördert werden. Wird Ware von einem
Kunden abgerufen, so gelangt sie wiederum vom Hochlager her auf Rollbahnen
an die verschiedenen Rüstplätze, wo sie zum Weitertransport vorbereitet
wird. Diese Bewegungsabläufe lassen eine gewisse Unfallgefahr als nicht
ausgeschlossen erscheinen. Doch liegt diese Gefahr im normalen Rahmen von
Arbeitsplätzen, an denen körperlich gearbeitet wird. Eine eigentliche
Betriebsgefahr im Sinne von Art. 60bis Ziff. 1 lit. c KUVG ist mit den
hier verwendeten technischen Einrichtungen nicht verbunden.

    Anders verhält es sich im Hochlager, das in verschiedene
Lagergänge unterteilt und von den bereits erwähnten Räumlichkeiten her
zugänglich ist. Die Paletten werden von den rund zwanzig Meter hohen,
computergesteuerten Hubstaplern erfasst. Diese bewegen sich den Lagergängen
entlang und befördern die Paletten an den programmierten Lagerplatz. Die
Hubstapler können bestiegen und nötigenfalls von Hand betrieben werden. Die
Handbedienung erfolgt durch Spezialisten oder durch betriebseigenes
Personal. Diese Hubstapler sind in hohem Mass betriebsgefährlich,
insoweit die im Lager arbeitenden Personen mit ihnen in Berührung
kommen. Dies ist auch tatsächlich der Fall. Es liegt auf der Hand,
dass die komplizierten Maschinen einer regelmässigen Wartung bedürfen.
Seit Inbetriebnahme der Anlage musste immer wieder in den Mechanismus
oder in die elektrischen Anlagen eingegriffen werden. Die entsprechenden
Arbeiten werden jedenfalls teilweise vom eigenen Personal besorgt; die
Firma beschäftigt einen eigenen Betriebselektriker. Deshalb muss die
Anlage als betriebsgefährlich bezeichnet werden; dies selbst dann, wenn
sie normal funktionieren würde, was anscheinend bis heute noch nicht gesagt
werden kann. Ob anders zu urteilen wäre, wenn das Hochlager ausschliesslich
von betriebsfremdem Personal gewartet und repariert würde und wenn
ausreichende technische Vorkehren bestünden, damit das betriebseigene
Personal nicht ins Hochlager gelangen kann, mag offen bleiben, weil diese
tatbeständlichen Voraussetzungen vorliegend nicht gegeben sind.

    Die Betriebsgefährlichkeit des Hochlagers, die im massgebenden
Zeitpunkt (Erlass der angefochtenen SUVA-Verfügung) in gleicher Weise
bestand wie anlässlich des Augenscheins, rechtfertigt die Unterstellung
des Betriebes unter die obligatorische Unfallversicherung.

Erwägung 6

    6.- Da, wie gesagt, für die Beurteilung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Sachverhalt bei Erlass der streitigen
Unterstellungsverfügung massgebend ist, kann dahingestellt bleiben, ob und
inwieweit sich jene tatbeständlichen Verhältnisse inzwischen geändert haben
oder künftig sich ändern werden. Selbst wenn auf Grund der seitherigen
betrieblichen Entwicklung die Voraussetzungen für die Unterstellung
nicht mehr gegeben sein sollten, wäre die Unterstellungsverfügung doch
gerechtfertigt gewesen. Deshalb sind auch die in der Vernehmlassung
der Beschwerdeführerin vom 3. Dezember 1973 gestellten Anträge
verfahrensrechtlicher Natur unbegründet, welche darauf gerichtet sind,
den Prozess zu sistieren, "bis die Beschwerdeführerin ihren endgültigen
Entscheid über die Art und Weise der Weiterführung des Betriebes im
Lagerhaus Brunegg AG getroffen hat".

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.