Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 V 100



100 V 100

26. Urteil vom 18. Juni 1974 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen
Schmid und Rekurskommission für Sozialversicherung des Kantons Appenzell
AR Regeste

    Art. 12 Abs. 1 IVG. Die an juveniler Polyarthritis leidenden
minderjährigen Versicherten haben Anspruch auf die notwendigen
medizinischen Massnahmen (rekonstruktive und konservative
Behandlung). Präzisierung der Rechtsprechung.

Sachverhalt

    A.- Der 1957 geborene Werner Schmid leidet an primär chronischer
Polyarthritis (Morbus Still) sowie an Strabismus. Seit 1. Juni
1967 gewährt die Invalidenversicherung physikalische Therapie
als Eingliederungsmassnahme gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG (Verfügung
vom 28. Juni 1967), welche gestützt auf Berichte von Dr. med. Z. vom
16. Mai 1968 und 19. Juni 1969 sowie Dr. med. K. vom 2. Oktober 1969 als
vorbeugende Massnahme zum Zwecke der Bewahrung der später zu erwartenden
Erwerbsfähigkeit vor wesentlicher Beeinträchtigung fortgesetzt wurde
(Verfügungen vom 4. Juli 1968, 1. Dezember 1969 und 26. Januar 1972). Auf
Weisung des Bundesamtes für Sozialversicherung wurde die Verfügung
vom 26. Januar 1972 auf Ende 1972 befristet, weil es sich bei der
Physiotherapie nicht um eine Eingliederungsmassnahme nach Art. 12 IVG
handle (Verfügung vom 31. Oktober 1972). Mit Eingabe vom 9. Juli 1973
ersuchte die Appenzellische Rheumaliga beider Rhoden um Kostenübernahme
der Behandlung in einer Spezialklinik sowie der allfällig von der Klinik
verordneten ambulanten Turn- und Schwimmtherapie. Diese Behandlung sei
unbedingt notwendig, um einer Versteifung der Gelenke, insbesondere
einer Fehlstellung der Hüftgelenke, vorzubeugen, welche unweigerlich
zur Invalidität führe und eine spätere Berufsausbildung erschwere oder
verhindere.

    Mit Verfügung vom 14. August 1973 wies die Ausgleichskasse das
Gesuch ab.

    B.- Die Rekurskommission für Sozialversicherung des Kantons Appenzell
AR hiess durch Entscheid vom 15. November 1973 eine gegen diese Verfügung
erhobene Beschwerde gut. Die Physiotherapie und die Balneotherapie seien
im Sinne von Art. 12 IVG und in Anlehnung an Rz. 21 des Kreisschreibens
über medizinische Eingliederungsmassnahmen ausschliesslich auf die spätere
Erzielung der Erwerbsfähigkeit und Berufsausbildung ausgerichtet.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde stellt
das Bundesamt für Sozialversicherung den Antrag, der kantonale
Entscheid sei aufzuheben und die Kassenverfügung vom 14. August 1973
wiederherzustellen. Konservative Massnahmen allein gälten bei der juvenilen
Polyarthritis als Behandlung des Leidens an sich (EVGE 1968 S. 259).

    Die Rheumaliga beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
und verweist auf einen Bericht von Dr. Z., wonach Physiotherapie und
Schwimmen der unmittelbaren Verhinderung von Gelenkversteifungen dienten.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Unter den allgemeinen Voraussetzungen des Art. 8 Abs.  1 IVG
hat der Versicherte nach Art. 12 Abs. 1 IVG Anspruch auf medizinische
Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern
unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und geeignet
sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor
wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren.

    Als Behandlung des Leidens an sich gilt rechtlich jede medizinische
Vorkehr, sei sie auf das Grundleiden oder auf dessen Folgeerscheinungen
gerichtet, solange labiles pathologisches Geschehen vorhanden ist. Eine
solche Vorkehr bezweckt nicht unmittelbar die Eingliederung. Durch den
Ausdruck labiles pathologisches Geschehen wird der juristische Gegensatz zu
wenigstens relativ stabilisierten Verhältnissen hervorgehoben. Erst wenn
die Phase des labilen pathologischen Geschehens insgesamt abgeschlossen
ist, kann sich - bei volljährigen Versicherten - die Frage stellen, ob eine
medizinische Vorkehr Eingliederungsmassnahme sei. Die Invalidenversicherung
übernimmt in der Regel nur unmittelbar auf die Beseitigung oder Korrektur
stabiler Defektzustände oder Funktionsausfälle gerichtete Vorkehren,
sofern sie die Wesentlichkeit und Beständigkeit des angestrebten Erfolges
im Sinne des Art. 12.Abs. 1 IVG voraussehen lassen. Dagegen hat die
Invalidenversicherung eine Vorkehr, die der Behandlung des Leidens an
sich zuzuzählen ist, auch dann nicht zu übernehmen, wenn ein erheblicher
Eingliederungserfolg vorauszusehen ist. Der Eingliederungserfolg, für
sich allein betrachtet, ist im Rahmen des Art. 12 IVG kein taugliches
Abgrenzungskriterium, zumal praktisch jede ärztliche Vorkehr, die
medizinisch erfolgreich ist, auch im erwerblichen Leben eine entsprechende
Verbesserung bewirkt (BGE 98 V 205 mit Hinweisen).

    b) Es kann keinem Zweifel unterliegen und entspricht auch ständiger
Rechtsprechung, dass die Polyarthritis nach ihrem Gesamtverlauf labiles
pathologisches Geschehen im Sinne der vorstehenden Ausführungen
darstellt. Aus diesem Grunde kann auch rekonstruktiven Eingriffen
zur Erhaltung oder Verbesserung der Funktionstüchtigkeit eines
von der Krankheit befallenen oder bereits zerstörten Gelenks nicht
Eingliederungscharakter im Sinne des Art. 12 Abs. 1 IVG zukommen, selbst
wenn der angegangene lokale Defektzustand an sich stabil ist, solange mit
einem solchen Eingriff bloss eine Teilerscheinung auf dem Hintergrund eines
viel umfassenderen labilen pathologischen Geschehens behoben wird. Erlöscht
dagegen die primär chronische Polyarthritis unter Zurücklassung zerstörter
Gelenke, so können entsprechende rekonstruktive Operationen ausnahmsweise
in den Aufgabenbereich der Invalidenversicherung fallende medizinische
Eingliederungsmassnahmen sein (BGE 97 V 50 mit Hinweisen). Das gilt vorab
für die primär chronische Polyarthritis Erwachsener.

    c) Bei der juvenilen Polyarthritis ist in zweifacher Hinsicht zu
differenzieren. Vorerst ist die medizinische Prognose in Fällen juveniler
Polyarthritis generell günstiger als bei der Polyarthritis Erwachsener,
indem der entzündliche Prozess im Erwachsenenalter meistens erlöscht;
so Prof. B. in einem gerichtlichen Gutachten vom 17. August 1968 (das
dem in EVGE 1968 S. 249 publizierten Fall zugrunde liegt):

    "Bei den schweren Fällen, die rund 1/3 des Krankengutes der juvenilen
Polyarthritis umfassen, kommt es zu schweren Gelenksveränderungen, und der
entzündliche Prozess kann über längere Zeit bestehen. Aber auch bei diesen
Fällen kommt es im Erwachsenenalter meist zu einem Stillstand, zu einem
Auslöschen des entzündlichen Prozesses, so dass gerade bei der juvenilen
Polyarthritis nur anfänglich und temporär von einem progredient chronischen
Verlauf gesprochen werden kann... Nicht beeinflussbare, maligne Formen
sind bei der juvenilen Polyarthritis praktisch nicht bekannt, so dass
bei der juvenilen Polyarthritis von einem fortschreitenden progressiven
Charakter der Krankheit nur in einem bestimmten Zeitabschnitt gesprochen
werden kann."

    Sodann ergibt sich eine weitere, durch das Gesetz bedingte
Differenzierung, insofern es sich um nichterwerbstätige Minderjährige
handelt. Gemäss Art. 5 Abs. 2 IVG ist nämlich in solchen Fällen für die
Beurteilung des Anspruches auf medizinische Massnahmen nicht der Moment
massgebend, in dem die beanspruchte Vorkehr durchgeführt wird, sondern
der Zeitpunkt, in dem der Jugendliche voraussichtlich in das Erwerbsleben
eintreten wird.

    Im Hinblick auf diese zwei Besonderheiten gelangte das Eidg.
Versicherungsgericht zum Schluss, es könnten Jugendlichen mit juveniler
Polyarthritis grundsätzlich medizinische Massnahmen (rekonstruktive
Operationen) zugesprochen werden, weil im Lichte des Art. 5 Abs. 2 IVG
mit Bezug auf den massgebenden Zeitpunkt eine hinreichende Stabilisierung
vorausgesehen werden könne, dies gestützt auf die vom Experten vermittelte
und auf statistischer Erfahrung beruhende Erkenntnis, dass der entzündliche
Prozess bei juveniler Polyarthritis im Erwachsenenalter mehrheitlich zum
Stillstand kommt (EVGE 1968 S. 249).

    Den sogenannten Rehabilitationsvorkehren kann indessen nach bisheriger
Praxis (EVGE 1968 S. 259) nur der Charakter von Eingliederungsmassnahmen
zugesprochen werden, wenn sie nicht zur konservativen Therapie der
Grundkrankheit zählen, sondern als Nachbehandlung der operativen Eingriffe
aufzufassen sind. Diese Rechtsprechung ist nach einem Beschluss des
Gesamtgerichts vom 3. April 1974 wie folgt zu präzisieren:

    Bei den schweren Fällen juveniler Polyarthritis, die laut Prof. B. rund
einen Drittel des Krankengutes ausmachen, kommt es im Erwachsenenalter
zu einem Erlöschen des entzündlichen Prozesses. Ohne entsprechende
Prophylaxe können indessen bei diesen Fällen schwere Gelenksveränderungen
auftreten; das heisst, dass stabile Defektzustände entstehen, welche die
berufliche Ausbildung und die künftige Erwerbsfähigkeit des Jugendlichen
beeinträchtigen werden. Weil auf Grund der statistischen Wahrscheinlichkeit
damit zu rechnen ist, dass die Physiotherapie geeignet ist, Skelettdefekte
zu verhindern, sind auch die konservativen Vorkehren zur Verhütung
solcher drohender Defekte als medizinische Eingliederungsmassnahmen
zu übernehmen. Eine unterschiedliche rechtliche Behandlung der
Skelettveränderungen bei Polio, Skoliose, Kyphose und Lordose einerseits
(BGE 98 V 214) und der juvenilen Polyarthritis anderseits lässt sich daher
nicht rechtfertigen. Demzufolge haben an juveniler Polyarthritis leidende
Jugendliche bis zum Abschluss des Wachstumsalters Anspruch auf jene
medizinischen Vorkehren, welche notwendig sind, um dauernde Skelettschäden
zu verhüten, die ihre Berufsbildung oder ihre spätere Erwerbsfähigkeit
beeinträchtigen würden. Dieser Anspruch besteht im Einzelfall nur dann
nicht, wenn und solange kein derart schwerwiegender Defektzustand droht.

    In Fällen, in denen neben der Physiotherapie zur Verhinderung
drohender Skelettdefekte eine medikamentöse Behandlung zur Stabilisierung
der Grundkrankheit vorgenommen wird, ist allerdings zu prüfen, ob diese
nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen als untrennbarer
Bestandteil der Physiotherapie übernommen werden kann.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall dient die Physiotherapie und die
Balneotherapie nach Angaben der behandelnden Ärzte der Verhinderung von
Gelenksveränderungen. Nach dem in Erw. 1c Gesagten hat Werner Schmid
daher bis zu seiner Volljährigkeit Anspruch auf die dazu notwendigen
medizinischen Massnahmen nach Art. 12 IVG.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.