Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IV 201



100 IV 201

51. Urteil des Kassationshofes vom 29. November 1974 i.S.
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern gegen X. Regeste

    Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB.

    Nur wenn die Durchführung oder der Heilerfolg der Behandlung es
erfordern, ist der Strafvollzug aufzuschieben.

Sachverhalt

    A.- Das Kriminalgericht des Kantons Luzern verurteilte X. am 8. März
1974 wegen fortgesetzter Unzucht mit Kindern nach Art. 191 Ziff. 1
Abs. 1 und 2 sowie Art. 191 Ziff. 2 Abs. 1 und 5 StGB unter Zubilligung
verminderter Zurechnungsfähigkeit zu vier Jahren Gefängnis.

    B.- Das Obergericht bestätigte am 5. Juli 1974 den Schuldspruch,
setzte die Strafe auf drei Jahre Gefängnis herab, ordnete eine ambulante
Behandlung unter Aufschub des Strafvollzuges im Sinne des Art. 43 Ziff. 2
Abs. 2 StGB an und stellte den Verurteilten unter Schutzaufsicht.

    C.- Die Staatsanwaltschaft führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
die Strafe sofort zu vollziehen, die ambulante Behandlung schon während
des Strafvollzugs durchzuführen und die Schutzaufsicht aufzuheben.

    X. beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Weder Schuldspruch und Strafmass noch die ambulante Behandlung sind
angefochten. Streitig bleibt lediglich, ob die Strafe aufzuschieben sei,
bis die ambulante Behandlung durchgeführt ist. Nur bei einem Aufschub
der Strafe ist die Schutzaufsicht beizubehalten. Wird die Strafe sofort
vollzogen, so ist über die Anordnung der Schutzaufsicht anlässlich der
bedingten Entlassung zu befinden (Art. 38 Ziff. 2 sowie Art. 43 Ziff. 2
Abs. 2 und Ziff. 4 Abs. 2 StGB).

Erwägung 2

    2.- Der Richter kann nach Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB zwecks ambulanter
Behandlung den Vollzug der Strafe aufschieben, um der Art der Behandlung
Rechnung zu tragen. Nur wenn die Durchführung oder der Heilerfolg der
Behandlung es erfordern, ist also der Strafvollzug aufzuschieben, wie sich
aus dem französischen Text ("si celle-ci [la peine] n'est pas compatible
avec le traitement") und der Entstehungsgeschichte eindeutig ergibt. Die
ambulante Behandlung soll nicht Mittel sein, die ausgesprochene Strafe
zu umgehen oder deren Vollzug ohne Not auf unbestimmte Zeit aufzuschieben
(BGE 100 IV 13). Oft kann es für den Verurteilten eine starke Belastung
bedeuten, wenn der Strafvollzug während langer Zeit in der Schwebe bleibt.

Erwägung 3

    3.- Im Zuge einer allgemeinen seelischen Fehlentwicklung und
unter Mitwirkung traumatisierender Kindheitserlebnisse im sexuellen
Bereich ist nach dem gerichtlichen Gutachten von Dr. R. Schneeberger
vom 29. Oktober 1973 beim Beschwerdegegner eine Entwicklung zur
pädophil-homosexuellen Perversion erfolgt, welche zu einer verminderten
Zurechnungsfähigkeit mittleren Grades geführt hat. Eine Behandlung in
einer Heil- oder Pflegeanstalt oder eine Verwahrung hält der Gutachter
nicht für nötig. Er empfielt aber die Behandlung mit "Androcur"
im Sinne einer reversiblen, chemischantihormonalen, temporären
"Kastration" und psychagogisch-psychotherapeutische, nicht aber
psychoanalytische Behandlung. Die Medikamente seien unter Kontrolle
über Jahre zu verabreichen. Im Falle eines bedingten Strafvollzuges
sei eine ambulante psychiatrische Behandlung angezeigt. Über die
Vereinbarkeit der "Androcur"-Behandlung, der sich der Beschwerdegegner
freiwillig unterwirft, mit einem Vollzug der Freiheitsstrafe spricht
sich der Gutachter nicht aus. Damit, dass er den Vollzug der Massnahme
in einer Heil- und Pflegeanstalt nicht für geboten hält, schliesst er
sie nicht aus. Die "Androcur"-Tabletten setzen die sexuellen Antriebe
durch chemisch-antihormonale Beeinflussung herab. Der Erfolg ist
also primär medikamentös. Er wird nicht mit psychoanalytischer und
gruppentherapeutischer Methode herbeigeführt und erscheint deshalb nicht
zum vornherein durch den sofortigen Vollzug der Strafe in Frage gestellt.

    Die Gründe, welche die Vorinstanz veranlassten, den Strafvollzug zwecks
ambulanter Behandlung aufzuschieben, so die besondere Triebhaftigkeit
von Sexualverbrechern, die schweren Folgen, die das Strafverfahren und
die Strafe für den Beschwerdegegner und seine Familie zeitigen, sind
allenfalls bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Zum Aufschub der
Strafe zwecks ambulanter Behandlung können sie nicht führen, es wäre denn,
sie würden den Heilerfolg der Behandlung erheblich in Frage stellen. Das
steht aber nicht fest.

    Hat somit die Vorinstanz den Strafvollzug aus Gründen, die Art. 43
Ziff. 2 StGB nicht entsprechen, aufgeschoben, muss die Beschwerde
gutgeheissen werden. Die Sache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen,
damit sie - allenfalls unter Beizug eines Experten - prüfe, ob der
sofortige Vollzug der Strafe mit einer vordringlichen Behandlung des
Beschwerdeführers unvereinbar ist oder diese schwer beeinträchtigen
würde. Dies wäre dann nicht der Fall, wenn die Behandlung auch während
des Vollzugs möglich ist, sei es im sanitären Dienst der Anstalt, sei es
durch ambulante Behandlung von der Anstalt aus.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird teilweise gutgeheissen, das
angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache im Sinne der Erwägungen an
die Vorinstanz zurückgewiesen.